Vorteil an Pendelstrecken: viel gelesen kriegen. Zuerst aber ein Blick auf sonstige Medien. Die Graphic Novel Unfollow (2020) von Lukas Jüliger fand ich dann doch eher verstörend/irritierend. Aber vielleicht sind auch Graphic Novels nicht so ganz mein Format.
Auf dem Bildschirm gesehen habe ich einen der Netflix-Wes-Anderson-Kurzfilme (nach Roald Dahl), sowas wie Wes Anderson als Essenz. Hat was. Dann haben wir Tomorrowland (2015) angeschaut – ein bisschen Gibsons Gernsback-Kontinuum, ein bisschen Werbung für Disneys Vergnügungspark. Insgesamt nicht so richtig überzeugend.
Wow-Effekt dafür bei der zweiten Staffel The Witcher (Netflix), naja vor allem Aufgrund des harten Überraschungsmoments ganz am Schluss. Ansonsten solide gemachte Fantasy.
Gelesen habe ich Venomous Lumpsucker (2022) von Ned Beauman – eine düstere und böse Satire auf Zertifikatshandel, Kapitalismus und libertäre Seifenblasenträume. Oberflächlich geht es in diesem Buch um die Welt in ein paar Jahrzehnten. Das Artensterben hat solche Ausmaße angenommen, dass sich rund um den Erhalt der letzten Arten und Ökosysteme ein Wirtschaftszweig entwickelt hat – mit handelbaren Schutzrechten, multinationalen Konzernen und korrupten Regimen. Der (wenn ich das richtig sehe, fiktive) titelgebende Lumpfisch steht in der Ostsee kurz vor dem Aussterben. Entsprechend ist die Hauptperson, eine Biologin, nicht gewillt, einem multinationalen Konzern den Persilschein für deren Abbaurechte im letzten Habitat dieses Fisches zu geben. Dem Konzern gefällt das nicht, auch deswegen, weil da schon abgebaut wurde – und überhaupt: im Zweifel gibt es ja Genbanken. Bis dann ein unvorhergesehenes Ereignis dazu führt, dass eine wilde Jagd auf die letzten Lumpsucker beginnt. Eine Jagd, die Beauman für eine exzellent zugespitzte Satire diverser Auswüchse unserer Gegenwartsgesellschaft nutzt.
Nachdem mir dieses Buch sehr gut gefallen hat, habe ich dann Beaumans älteres The Teleportation Accident (2012) gelesen, damit bin ich allerdings nicht so richtig warm geworden, bzw. konnte erst gegen Schluss des Buches was damit anfangen. Setting hier sind die 1930er Jahre, Berlin, Paris, Los Angeles, es geht um politik-desinteressierte Kunst, Boheme und Möchtegern-Boheme – und immer wieder um Lust und Verlangen der männlichen Hauptperson. Das Ende dagegen hat Potenzial, bzw. spielt mit Potenzialitäten.
Ganz was anderes: Rebecca Campbells Band Arboreality (2022) – ich würde das als miteinander verschlungene Vignetten aus einer Zukunft nach der Klimakrise bezeichnen, verortet zwischen Vancouver und Seattle, zusammengehalten durch Bäume (und durch Personen, die bzw. deren Kinder und Enkel immer wieder auftauchen). Nicht aufregend, ohne große Action, immer aus der individuellen Perspektive, aber gerade deswegen eindrücklich und lesenswert.
Von Malka Older ist der zweite Band ihrer auf einem zur neuen Heimat der von der Erde geflohenen Menschheit gewordenen „Steampunk“-Jupiter („Giant“) spielenden Detektivserie („cozy space opera detective mystery“) erschienen, und The Imposition of Unnecessary Obstacles (2024) hat mich – vielleicht weil ich das Setting schon kannte – dann doch mehr abgeholt als der erste Band. Universitäten und deren interne Politik spielen eine Rolle, und natürlich die nicht ganz einfache Beziehung zwischen Mossa und Pleiti, den beiden Hauptfiguren. Und Io kommt auch vor.
R.F. Kuangs Roman Babel (2022) war in den Schlagzeilen, weil er vom Hugo-Preisverleihungskomitee kurzerhand von der Shortlist gestrichen wurde, wohl aus vorauseilender Angst vor möglichen chinesischen Zensurversuchen. Der Roman spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einem britischen Imperium, das auf linguistische Magie setzt statt auf Kohle. Genauer gesagt: in der Übersetzung in ihren Bedeutungen auseinandergehende Wortpaare, die in Silber eingraviert werden, verursachen hier magische Wirkungen. Der Roman ist auch ein Roman über Übersetzungen, vor allem aber einer über Kolonialismus (aus der Perspektive von „Robin Swift“, in Kanton aufgewachsen, dann nach London und schließlich nach Oxford gebracht, um die magische Übersetzungskunst zu erlernen) und – bevor es in der Oxford-Variante der Zauberschule allzu gemütlich wird – über Klassenkampf, Revolution und die Frage, wann Gewalt eingesetzt werden darf und wann nicht. Eindrucksvoll und zurecht ein Anwärter auf den Hugo.
Und nochmal eine Variante des Zaubereischul-Motivs – diesmal in James Islingtons The Will of the Many (2023). Der Roman spielt in einem Pseudo-Rom, mit einer rigiden sozialen Schichtung, die darauf beruht, einen Teil des eigenen Willens weiterzugeben. Wer an der Spitze derartiger Pyramiden – Religion, Militär, Verwaltungsapparat haben je ihre eigenen – steht, wird zum Superheld. Und wer ganz unten steht, wird halbtot nur als Willenslieferant am Leben erhalten. In diesem Setting ist der Waise Vis unser Fokuspunkt – er wird adoptiert und kommt als 17-jähriger Spion in die hiesige Variante der Elite-Zauberei-Akademie, die durch harte Auswahl und auffällig viele tödliche Unglücke von sich reden macht. Wem er dort trauen kann und wem nicht, wer welche Intrigen spinnt und was echt ist, und was inszeniert – das zeigt sich erst im Lauf des Geschichte. Und auch hier spielt Imperialismus eine Rolle – Vis lebte vor der Invasion durch das Pseudo-Rom in einem bis dato selbstständigen Inselkönigreich. Teil der Akademie ist ein mysteriöses Labyrinth. Ohne das Ende vorwegzunehmen: da ist dann auch nochmal manches ganz anderes, als es scheint. Insofern bin ich schon sehr auf den zweiten Band gespannt.