Gestern Abend las ich erste Tweets dazu, dass Twitter mal wieder mit der Abschaffung der chronologischen Timeline herumexperimentiert. Das soll erstmal „nur“ die Weboberfläche betreffen, noch nicht die Apps – aber trotzdem: mich hat das aufgeschreckt und fast noch mehr geärgert als die gestrigen Wahlkampfquerelen.
Chrono-was? Alle sozialen Medien, die dem Grundprinzip folgen, dass Nutzer*innen die Beiträge ihrer Kontakte sehen, stehen vor dem Grundproblem, diese irgendwie ordnen zu müssen. Bei Twitter (und vor langen Zeiten auch bei Facebook) war dies lange schlicht die einfachste Ordnung: das neuste oben, das älteste unten. Einfach und schlicht, algorithmisch nicht besonders anspruchsvoll, aber für mich ein zentraler Aspekt dessen, was Twitter ausmacht.
In den letzten Jahren hat Twitter immer mal wieder am Interface rumgeschraubt. Längere Tweets, echte Replys statt seltsamer sozialer Konventionen, schickere Eingabefelder, Herzen statt Sternchen und so weiter. Eingeführt wurde leider auch eine (standardmäßig aktivierte) Ansicht der „besten“ Tweets, die sogenannte Startseite.
Ich verstehe, dass es aus technischer Hinsicht reizvoller ist, einen Algorithmus zu programmieren – vielleicht sogar mit einer Prise maschinelles Lernen, wer weiß – der auswählt, welche Tweets eine Nutzer*in zu sehen kriegt. Ein maschinelles best of – wer träumt nicht davon?
Was dabei verloren geht, sind die Nuancen und Zufälligkeiten. Ich jedenfalls möchte alles sehen – auch die uninteressanten Tweets der Leute, denen ich folge. Ich möchte keine Vorschläge, keine Fußballinformationen, am liebsten auch keine Werbung (aber ja, ich verstehe, dass es welche geben muss), kein „Leute, denen du folgst, fanden auch toll“ und erst recht nicht die Top ten der meistgeklickten Tweets Deutschlands. Danke, nein – ich möchte lesen, was die 1500 oder so Leute schreiben, denen ich folge. Nicht mehr und nicht weniger.
Die vor einigen Jahren eingeführte Startseite lässt sich mit einem Klick auf einen Button oben rechts abschalten bzw. auf „neuste Tweets“ (das ist die chronologische Ansicht aller Tweets) umschalten. Eine Zeit lang stellte sich das hartnäckig dann wieder zurück, in der letzten Zeit aber war diese gewählte Ansicht stabil und ich glücklich.
Wenn die Gerüchte stimmen, dass die chronologische Timeline ganz verschwinden soll, dann ist das zumindest für mich ein großer Tropfen in das Fass, doch mal Mastodon oder ähnliches auszuprobieren. Facebook hat die Verödung gezeigt, die ein Wechsel von „alle“ zu „was der Algorithmus für relevant hält“ mit sich bringt – mal ganz zu schweigen von den Radikalisierungseffekten algorithmischer Empfehlungen, sofern diese vor allem auf Klickzahlen beruhen. Dann kommen am Schluss Sex, Gewalt und Tierbabys raus – oder halt viel geklickte AfD-Propaganda.
P.S.: Wenn das hier kein Rant, sondern ein sachlicher Text wäre, würde ich jetzt noch was zu immer weiter eingeschränkten APIs schreiben, und vielleicht auch zum Pro und Contra von Editierbuttons – das lasse ich jetzt aber mal weg und belasse es bei der vorweggenommenen Melancholie des Nutzers, der sich immer mal wieder mit Veränderungen der Interfaces und Funktionsweisen liebgewonnener digitaler Infrastrukturen konfrontiert sieht.
Eine Antwort auf „Twitter: Die gute alte Zeitlinie“