Manchmal lohnt es sich, die eigenen Vorurteile zu überprüfen. Beispielsweise habe ich die Vorkosigan-Serie von Lois McMaster Bujold bis vor kurzem für uninteressant für mich gehalten. Ich wusste, dass es um die Abenteuer eines Raumschiff-Kapitäns Miles Vorkosigan geht, dass die Serie mit „Horatio Hornblower im Weltraum“ verglichen wurde (Wissenslücke, aber irgendwas mit Flotten, Militär und Seefahrt), und dass es sich dabei um „MilSF“, also militärische Science Fiction handelt.
Stutzig wurde ich, als vor zwei oder drei Monaten auf io9 oder tor.com eines der Bücher aus der Reihe in einer ungewöhnlichen Besprechung auftauchte. Genauer erinnere ich mich nicht mehr, vielleicht war es Ethan of Athos in einer Sammelbesprechung zu klassischer Science Fiction, die auf Planeten ohne Frauen spielt, oder vielleicht ging es auch um queere Charaktere. Wie gesagt, ich erinnere mich nicht mehr genau. Jedenfalls löste das bei mir einen Moment des „Häh?“ aus – das, was ich da über eines der Bujold-Bücher las, entsprach so gar nicht dem, was ich mir unter MilSF vorgestellt hatte. Und es klang durchaus interessant.
Wenig später hatte ich dann herausgefunden, dass – nach der internen Chronologie – das erste Buch aus der Serie Falling Free (1988 geschrieben ist), und dass es dann mit dem typischeren Shards of Honor (1986) weitergeht. Amazon bot mir an, alle Bände der 17-teiligen Serie auf einmal zu kaufen, das war mit dann aber doch zu viel Risiko. Statt dessen fing ich vorne an, also intern chronologisch. Gestern habe ich mit Gentleman Jole and the Red Queen (2016) den derzeit letzten Band der Serie ausgelesen. E‑Books bieten ja die praktische Möglichkeit, den nächsten Band zu kaufen, wenn der eine fertig ist – und so habe ich mich Stück für Stück durchgearbeitet. Praktischerweise hat jeder Band der Neuausgabe hinten eine intern-chronologische Übersicht über die ganze Reihe, dass erleichterte das ebenfalls.
Also geballte 100 Stunden Vorkosigan, die ich da in den letzten paar Wochen verschlungen habe. Hätte ich mal früher machen können, so musste ich nicht jahrelang auf Folgebände warten, das hatte auch etwas.
Was nehme ich mit? In gewisser Weise ist die Vorkosigan-Serie tatsächlich militärische Science Fiction. Die (wechselnden) Hauptpersonen der meisten Bände sind entweder Teil der barrayarschen Raumflotte oder des militärischen Geheimdienstes dieses aus drei Planeten bestehenden Imperiums. Es geht um Taktik und Strategie, Bürgerkrieg, (verhinderte) Überfälle auf Planeten, Sabotageakte und so weiter kommen alles vor. Wenn Bujold sich darauf beschränkt hätte, wäre das ganze in der Tat eher langweilig. Hat sie aber nicht.
Hauptperson vieler Bände ist Miles Vorkosigan. Er ist aufgrund eines chemischen Angriffs auf seine Eltern vor seiner Geburt kleinwüchsig und hat brüchige Knochen. Später kommt eine chronische Erkrankung hinzu. Barrayar ist ein über mehrere Jahrhunderte isolierter „hinterwäldlerischer“ Planet. Absolute Herrschaft des Kaisers, das „Vor-“ weist darauf hin, dass eine Person der militärischen Adelskaste angehört, Lehensherren in ihrem Distrikt und Untergebene des Kaisers. Frauen haben – scheint es jedenfalls erstmal – nichts zu sagen. Und aufgrund der langen Isolation ist „Mutie“, also jemand mit einer Mutation, ein Schimpfwort. Nicht unbedingt das ideale Umfeld für eine Hauptperson mit sichtbaren Behinderungen.
Isoliert war Barrayar, weil das einzige Wurmloch blockiert war; zudem kommt es ständig zu Auseinandersetzungen mit Cetaganda, einem expandierenden Reich, das eine ganze Handvoll Planeten umfasst, deren Bewohner*innen dabei sind, sich bewusst und geplant genetisch vom Rest der Menschheit zu entfernen. Der Übermensch als fortlaufender Prozess, sozusagen. Barrayar hätte gut ins Portfolio gepasst, und erst spät in der Serie lernen wir, warum es letztlich nicht zur Eroberung Barrayars gekommen ist.
Barrayar, Cetaganda mit Rho Ceta, Eta Ceta und so weiter, … die etwas stereotyp gezeichneten Planeten, zwischen denen diese Serie spielt, sind durch Wurmlöcher miteinander verbunden. Auch die Erde gibt es noch. Relevanter ist aber Beta Colony, demokratisch und libertär (was allerdings auch seine Schattenseiten hat), bekannt für Gleichberechtigung, die Anerkennung eines drittens Geschlechts, sexuelle Vielfalt und einen sehr offenen Umgang mit Sexualität. Miles‘ Mutter war Captain des Beta Science Surveys (quasi die Starfleet für unerforschte Welten). Nicht unbedingt der wahrscheinlichste Hintergrund, um einen barrayarisch-patriarchal geprägten Grafen zu heiraten.
Jackson’s Whole ist dagegen Raubtierkapitalismus pur – inklusive der Heranzucht von Klonen durch Warlords. Kormar und Sergyar sind Kolonien Barrayars. Was eigene Konflikte mit sich bringt. (Nicht zu vergessen schließlich der eingangs schon erwähnte Planet Athos – eine Art religöse schwule utopische Gemeinschaft).
Das ganze zwar typisierend, aber doch auch immer humorvoll beschrieben. Bujold hat dabei einen sehr genauen Blick für kulturelle Eigenheiten, Kleidungsstile und ähnliches mehr. Beispielsweise die auf Beta getragenen Ohrringe, die den Facebook-Status ersetzen. Ähnliches gilt für die dichte Beschreibung der Planeten, Städte und Orbitalstationen, in denen die Geschichten stattfinden. Auch diese erscheinen realistisch und jeweils für sich genommen eigen.
In dieser Gemengelage hilft Diplomatie und die eine oder andere unerschrockene Handlung bis hin zum Gespräch dann oftmals weiter als pure militärische Stärke. Und über 17 Bände lässt sich auch so einiges an persönlicher Entwicklung nachvollziehen. Anders als bei Star Trek bleiben die Handlungen folgenreich. In 100 Stunden Vorkosigan-Serie erleben wir dann mit, wie aus einem umtriebigen Hasardeur ein enger Vertrauter des Kaisers wird, der mit einer ganz eigenen Art von Autorität ausgestattet ist, wie die Tochter einer Gouvernante zur Unternehmerin wird, und überhaupt: wo und wie sich Paare bilden. Wahrscheinlich ließe sich die Reihe ebenso sehr wie als MilSF auch als Romantic SF beschreiben. Oder auch als ausgedehnte Reflektion über Partnerschaft, Reproduktion(stechnologie), Familienarbeit und Begehren (insbesondere der neuste Band wirft nochmal ein ganz anderes Licht auf Cordelia Vorkosigan, die namensgebende „Red Queen“ und Mutter von Miles Vorkosigan). Und Politik-als-Handwerkszeug kommt auch nicht zu kurz.
Insofern: ich bin froh, dass ich – wenn auch spät – diese Serie für mich entdeckt habe. Spannend ist dabei – auf einer anderen Ebene – auch, wie sich die Zeiten im Aufbau der Serie widerspiegeln. Die Zeitspanne, in der Bujold sie geschrieben hat, reicht ja wie gesagt von 1986 bis 2016. Dabei bleibt sie einerseits sehr konsistent, was etwa die imaginierte technologische Normalität anbelangt, zum anderen zeigt sich aber auch, wie sich gesellschaftliche Diskurse verschieben. Nebenbei bemerkt: Das ganze wäre durchaus auch was für eine Verfilmung durch Netflix oder Amazon Prime.
Warum blogge ich das? Vielleicht bin ich ja nicht der einzige, für den Bujolds Serie ein verborgener Juwel ist.