Da ist eine Kleinstpartei, die zwei Tage vor der Wahl in Bremen in der nationalen und internationalen Presse heiß diskutiert wird (#servergate), die kurz vorher einen in allen überregionalen Medien begleiteten Parteitag hatte, die in einem Umfeld antritt, in dem es ein sehr modernes Wahlrecht gibt, in der Kleinstparteien traditionell immer mal wieder gerne gewählt werden, wo die Wahlbeteiligung niedrig ist, in der der Wahlausgang im Prinzip schon feststeht, so dass Piratenstimmen keine verlorenen Stimmen sind, und in der sogar die 5%-Hürde durch das Bremen/Bremerhaven-Prinzip nur eingeschränkt gilt – und trotzdem holt sie (nach aktuellem Stand der Hochrechnungen) nicht mal zwei Prozent. Felix Neumann scheint recht zu haben – hier etabliert sich eine stabile Minimilieupartei, die es aber in absehbarer Zeit nicht schaffen wird, landesparlamentarisch zu werden. Die letzte realistische Chance, das in diesem Jahr doch noch hinzukriegen, ist Berlin – aber ich glaube noch nicht daran.
Auf dem Weg zur Platz-2-Partei
Nach Baden-Württemberg jetzt wohl auch in Bremen: Die zweitstärkste Partei mit deutlich über zwanzig Prozent sind wir Grüne. Dass das jetzt so aussieht, hat was mit Stuttgart 21, mit Fukushima, mit dem Ausstieg aus dem Ausstieg zu tun, und viel auch damit, dass sowohl SPD als auch CDU bundesweit nicht mehr als glaubwürdige und kohärente Parteien erscheinen. (Und die FDP erst recht).
Die verschiedenen Ereignisse und diese Stimmung zusammen haben etwas katalysiert und beschleunigt, was sonst vielleicht noch länger gebraucht hätte – Grüne als ernsthafte Alternative, als eine der „großen“ Parteien. Aber auch ohne diesen Kontext bin ich überzeugt, dass eine Bewegung in diese Richtung stattfindet – und dass wir davon ausgehen können, dass ein Potenzial von zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent für Grün in Zukunft realistisch sein kann. Ein wichtiger Faktor dabei: Das über Jahrzehnte gute Abschneiden in jüngeren Altersgruppen ist jetzt bis in die Altersgruppe 50+ hochgewachsen.
Bei der Gelegenheit noch ein Seitenhieb auf die taz – die hat in ihrer Wochendausgabe nämlich einen Artikel über grüne Flügel, und sieht im harmonischen Zusammenspiel von Linken und Realos einen Grund für die grüne Popularität. Ich finde es gar nicht so blöd, mal über die nicht-offensichtlichen Funktionen von Flügeln nachzudenken. Der Artikel behauptet zwar, das zu tun, greift aber deutlich zu kurz – und ist in einigen Aussagen auch schlicht falsch.
Mein Eindruck: Wir haben derzeit zwei selbstbewusste, starke Flügel. Wir haben keinen „Flügelkampf“ im Sinne eines Versuchs, den einen oder den anderen Flügel rauszumobben oder ständig zu überstimmen – sowas gab es mal. Kurz: ja, wir zeigen, dass es einen konstruktiven Umgang mit innerparteilichen Differenzen geben kann, und dass organisierte Interessen auch innerhalb von Parteien sinnvoll sind. Inszeniert ist das nicht. Und ob es zu unserer Außenwahrnehmung als Volkspartei in der Nussschale beiträgt, mag ich nicht beurteilen.
Zurück nach Bremen: Ich bin gespannt, welches Senatorenamt die stärker gewordenen Grünen der SPD abnehmen werden – und wer in die Bürgerschaft einziehen wird. Das neue Wahlrecht macht das spannend, und verlängert die Auszählzeiten erheblich. Da heißt es also noch ein bisschen warten.
Warum blogge ich das? Als grünes Wort zum Wahlsonntag.
Photo of the week: Dual use
Auf meiner Festplatte bzw. Foto-Speicherkarte liegen auch noch Kaulquappen und ein idyllischer Baggersee, aber ich bleibe doch noch mal im Regierungsviertel in Berlin.
Ein Versuch über die Technikfeindlichkeit
Mein im November 2010 eingereichter Aufsatz „Technikfeindlichkeit. Ein Versuch über eine deutsche Debatte“* ist jetzt in der Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande** erschienen – in einer Ausgabe, die sich unter der Gastherausgeberschaft der Straßburger Professorin Florence Rudolf mit Umweltpolitik und Umweltsoziologie in Deutschland auseinandersetzt.
„Ein Versuch über die Technikfeindlichkeit“ weiterlesen
Kurz: Postindustrielle Forstwirtschaft
Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 2008 in Jena habe ich in der Sektion „Land- und Agrarsoziologie“ einen Vortrag über „Postindustrielle Forstwirtschaft und den Strukturwandel ländlicher Räume“ gehalten. Erschienen ist dieser im Jahr 2010 in der CD-ROM-Beilage zum Kongressband. Um den Vortrag etwas zugänglicher zu halten, möchte ich das Manuskript hier zur Verfügung stellen (in kleineren Punkten kann es Abweichungen von der CD-ROM-Fassung geben).
Innerhalb der Land- und Agrarsoziologie, aber auch innerhalb der Politik für ländliche Räume wird vor allem der Landwirtschaft eine zentrale Rolle zuerkannt (Plieninger et al. 2006). Forstwirtschaft erscheint demgegenüber als sekundäres Phänomen. Diese Positionierung mag damit zusammenhängen, dass gerade auf der Seite der Forstwissenschaft ein spürbarer Anspruch, ‚alleine‘ für Forstwirtschaft und Waldräume zuständig zu sein, festzustellen ist. Eine regional orientierte Soziologie ländlicher Räume müsste die Wälder in den Blick nehmen. Dies gilt insbesondere, da Forstwirtschaft sich als Kontrastfolie zur Landwirtschaft eignet: Zwar werden zentrale Eigenschaften – Bodengebundenheit, Arbeit an der Natur, soziale Verankerung in ländlichen Milieus – geteilt, die sozioökonomische Struktur und die politische Einbettung unterscheidet sich jedoch deutlich. Im Folgenden möchte ich – nach einem kurzen Blick auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen – darauf eingehen, wieso die aktuelle Verfasstheit forstlicher Arbeit sinnvoll als ‚postindustrielle Forstwirtschaft‘ bezeichnet werden kann, um mit der Frage zu enden, ob postindustrielle Forstwirtschaft auch anders aussehen könnte. […]
Zitierweise: Westermayer, Till (2010): „Postindustrielle Forstwirtschaft und der Strukturwandel ländlicher Räume“, in Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008. Wiesbaden: VS, CD-ROM-Beilage 2010. Manuskript.