Das neue Landtagswahlrecht materialisiert sich

Wer als Baden-Württemberger*in bun­des­weit par­tei­po­li­tisch unter­wegs ist, kennt die­sen Moment, in dem irgend­wer nach der Lan­des­lis­te fragt, und dann erst ein­mal erklärt wer­den muss, dass Wah­len im Länd­le anders funk­tio­nie­ren: nur Direktkandidat*innen in 70 Wahl­krei­sen, eine Zweit­aus­zäh­lung, um den Pro­porz her­zu­stel­len und die rest­li­chen nomi­nell 50 Plät­ze zu fül­len, gewis­se Ver­zer­run­gen durch Aus­gleich im Regie­rungs­prä­si­di­um. Die­ses Wahl­recht hat eini­ge Jahr­zehn­te lang gute Diens­te geleis­tet. Es hat­te Vor­tei­le: die Abge­ord­ne­ten hat­ten alle eine star­ke loka­le Bin­dung. Das Wahl­recht hat­te aber auch Nach­tei­le: ohne Lis­te kei­ne quo­tier­te Lis­te, und kei­ne Chan­ce für z.B. grü­ne Kandidat*innen in „schwa­chen“ Wahl­krei­se, über­haupt jemals in den Land­tag zu kommen. 

Ob Freu­de über das Ende über­wiegt oder dem Wahl­recht doch hin­ter­her­ge­weint wird: es ist seit eini­ger Zeit, mit der Novel­le der ent­spre­chen­den Geset­ze, Geschich­te. Jetzt hat Baden-Würt­tem­berg das für Deutsch­land typi­sche Zwei­stim­men­wahl­recht, mit einer Zweit­stim­me, die die Sitz­ver­tei­lung bestimmt, und einer Erst­stim­me, die über Direkt­man­da­te ent­schei­det. (Apro­pos: das eigent­lich sehr gute wahlrecht.de hat noch das alte Wahl­recht und die Ände­run­gen noch nicht nachvollzogen).

Die Kap­pun­gen auf Bun­des­ebe­ne wur­den nicht mit­ge­macht, so dass man­che jetzt über das Risi­ko eines Rie­sen­land­tags unken (Modell­rech­nun­gen wider­le­gen das, nur dann, wenn Erst- und Zweit­stim­men­er­geb­nis­se mas­siv aus­ein­an­der gehen wür­den, wäre ein sehr gro­ßer Land­tag mög­lich). Dafür gibt es ande­re Beson­der­hei­ten: wei­ter­hin Ersatzkandidat*innen in den Wahl­krei­sen, die zum Zug kom­men, wenn eine direkt gewähl­te Per­son aus dem Land­tag aus­schei­det. Und theo­re­tisch – mal schau­en, ob eine Par­tei das prak­tisch umsetzt – auch die Mög­lich­keit, Ersatzkandidat*innen auf einer Reser­ve­lis­te zu verankern.

Wäh­rend die Novel­le des Wahl­ge­set­zes schon eini­ge Zeit her ist, wird das Wahl­recht jetzt erst so rich­tig kon­kret: die Auf­stel­lun­gen in den Wahl­krei­sen sind – hier mit grü­ner Bril­le – durch­ge­führt, und seit dem Wochen­en­de steht auch die ers­te grü­ne Lan­des­lis­te mit 70 Plät­zen, gewählt auf der Lan­des­wahl­ver­samm­lung in Hei­den­heim. Neben­bei wur­de dort auch Cem Özd­emir ins Amt des Kan­di­da­ten für das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten geho­ben; ich hof­fe sehr, dass er an den Erfolg Win­fried Kret­sch­manns anschlie­ßen kann. Sei­ne Rede war über­zeu­gend – und die fast ein­stim­mi­ge Unter­stüt­zung der Par­tei hat er auch. Auf der Lan­des­lis­te ist Cem – Frau­en­sta­tut – „nur“ auf Platz 2. Auf­fäl­lig ist zudem eine gewis­se Bal­lung der Regi­on Stutt­gart bei den ers­ten Plät­zen der Lis­te. Hier kommt die gro­ße Fra­ge ins Spiel, die auf dem Par­tei­tag­wo­chen­en­de vie­le gestellt haben, aber die natur­ge­mäß nie­mand beant­wor­ten konn­te: Wie weit wird die Lis­te ziehen?

Nach dem alten Wahl­recht wur­den 58 grü­ne Abge­ord­ne­te gewählt, alle mit Direkt­man­dat. Lan­des­weit waren das 32,6 Pro­zent. Inzwi­schen sind es auf­grund eines Über­tritts noch 57 Abge­ord­ne­te. In den Umfra­gen lie­gen wir Grü­ne aktu­ell aller­dings mit nur 20 Pro­zent deut­lich hin­ter der CDU. Gleich­zei­tig ist Cem Özd­emir beliebt, ihm wird zuge­traut, das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten aus­zu­fül­len. Und in den Mona­ten bis zur Wahl kann noch eini­ges pas­sie­ren, auch weil die baden-würt­tem­ber­gi­sche CDU ganz nah an Merz und der Bun­des­re­gie­rung steht. Dann ist unklar, ob FDP und – was ein Novum für Baden-Würt­tem­berg wäre – LINKE es in den Land­tag schaf­fen. Je nach­dem, was hier ange­nom­men wird, schwankt auch die Zahl der Sit­ze, die auf uns Grü­ne ins­ge­samt ent­fal­len, massiv. 

Der zwei­te Fak­tor, den nie­mand wirk­lich gut ein­schät­zen kann, ist die Fra­ge der Direkt­man­da­te. Im alten Wahl­recht waren Direkt­man­da­te und Par­tei­en­stär­ke orga­nisch anein­an­der gekop­pelt. Wer Kret­sch­mann woll­te, muss­te grün wäh­len. Mit der Mög­lich­keit des Stim­men­split­tings könn­te es auch ganz anders aus­se­hen. In vie­len Wahl­krei­sen tre­ten grü­ne Direktmandatsinhaber*innen wie­der an – holen die­se, sofern die lan­des­wei­ten Wer­te noch etwas bes­ser wer­den, erneut das Direkt­man­dat? Oder greift der von Bür­ger­meis­ter, Kom­mu­nal- und Bun­des­tags­wah­len bekann­te Reflex, direkt dann doch lie­ber den CDU-Mann oder die CDU-Frau zu wäh­len – und mit der Zweit­stim­me dann Grün? Oder anders­her­um? Alle Umfra­gen sind mit Unsi­cher­heit behaf­tet, und die feh­len­de Erfah­rung mit Split­ting bei einer Land­tags­wahl mul­ti­pli­ziert die­se Unsi­cher­hei­ten noch ein­mal. Das geht bis hin zu der Fra­ge, ob ein „schlech­ter“ Lis­ten­platz lokal viel­leicht sogar ein Argu­ment sein kann, die­se Per­son direkt zu wäh­len, um so sicher­zu­stel­len, dass der Wahl­kreis grün ver­tre­ten sein wird.

Am Schluss kann es also sein, dass die Lis­te über­haupt nicht zum Zuge kommt, etwas durch­ein­an­der gewür­felt wird (etwa dadurch, dass Flo­ri­an Koll­mann in Hei­del­berg und Nady­ne Saint-Cast in Frei­burg II nicht auf der Lis­te abge­si­chert sind, son­dern allei­ne auf das Direkt­man­dat set­zen – ähn­lich in Mann­heim und Aalen) oder im Extrem­fall sogar nur ein­zieht, wer auf der Lis­te vor­ne steht. 

In der Kom­bi­na­ti­on aus Lis­ten­platz und plau­si­beln Annah­men über grü­ne Wahl­kreis­er­geb­nis­se lässt sich so maxi­mal eine ers­te Abschät­zung tref­fen, wel­che Wahl­krei­se und Per­so­nen bei einem halb­wegs guten Ergeb­nis im Land­tag ver­tre­ten sein wer­den, wer so gut wie kei­ne Chan­cen hat (hin­te­rer Lis­ten­platz und grü­ne Dia­spo­ra), und wo es auf den Wahl­aus­gang im Detail ankom­men wird. Es bleibt spannend.

Photo of the week: Livorno, port area – XI

Livorno, port area - XI

 
Ein letz­tes Foto von der Flo­renz-Rei­se, aber eben nicht aus Flo­renz, son­dern aus Livor­no. Die Hafen­stadt liegt etwas sieb­zig Kilo­me­ter west­lich von Flo­renz. Nach­dem ich auf einer Kar­te gese­hen hat­te, dass das Mit­tel­meer gar nicht so weit ent­fernt ist, habe ich kurz­ent­schlos­sen einen nach­mit­täg­li­chen Aus­flug dahin gemacht – etwa eine Stun­de Bahn­fahrt mit dem Regio­nal­zug. Der Bahn­hof in Livor­no liegt eher außer­halb, und wäh­rend ich den Weg vom Meer zurück zum Bahn­hof mit dem Bus zurück­ge­legt habe, bin ich in die ande­re Rich­tung zu Fuß gegan­gen. Die Stadt wirk­te ziem­lich zer­fal­len – nicht in Form anti­ker Rui­nen, son­dern voll mit Bau­stel­len, abblät­tern­dem Putz und wenig anseh­li­chen Vier­teln. Dazwi­schen Denk­mä­ler. Am Hafen gibt es die ehe­ma­li­ge See­fes­tung, die aller­dings an die­sem Tag nicht besucht wer­den konn­te, ein hyper­mo­der­nes Ein­kaufs­zen­trum und dazwi­schen je nach Blick­win­kel Müll­ber­ge oder pit­to­res­ke Fas­sa­den. Am Schluss dann tat­säch­lich ein Blick auf das Mit­tel­meer, das silb­rig grau in der tief­stehen­den Son­ne lag. Ins­ge­samt muss­te ich an Dotas Con­tai­ner­ha­fen-Lied denken. 

Photos of the week: Firenze, day 3

Nach­dem ich mich nicht ent­schei­den konn­te (und auch nicht den Rest des Jah­res nur Flo­renz-Bil­der pos­ten will) gibt es vom drit­ten Tag in Flo­renz jetzt gleich vier Bil­der. Vor­mit­tags war ich hier noch­mals in den Uffi­zi­en, dann im Giar­di­ni di Bobo­li, einer rie­si­gen Park­an­la­ge – eigent­lich woll­te ich auch in den Palaz­zo Pit­ti, der war aber geschlos­sen – und auf dem mit­tel­al­ter­li­chen Tor­re di Arnol­fo mit groß­ar­ti­gem Aus­blick über die Stadt. Am Nach­mit­tag bin ich kurz­ent­schlos­sen nach Livor­no gefah­ren, davon evtl. spä­ter mehr.

Firenze, day 3 - At Ponte Vecchio - VI

Ver­mut­lich einer der meist­fo­to­gra­fier­tes­ten Anbli­cke Flo­renz‘: die alte Brü­cke Pon­te Vec­chio über den Arno, dies­mal mit Blick auf die aus­kra­gen­den Anbau­ten der Brückenbebauung.

Firenze, day 3 - Giardini di Boboli, Lemon House - VII

Mein High­light im Giar­di­ni di Bobi­li war die Oran­ge­rie. (Will auch!)

Firenze, day 3 - Giardini di Boboli, roof gardens

Sehr typi­sche Dach­gär­ten, ver­win­kel­te Häu­ser, Anbau­ten, und noch ein Dach­gar­ten. Auch das trägt zum Stu­dio-Ghi­b­li-Gefühl bei, das sich bei mir bei mei­nem Besuch breit machte.

Firenze, day 3 - View from Torre di Arnolfo - II

Und ein Blick vom Tor­re di Arnol­fo auf den Arno und die auf der ande­ren Sei­te des Flus­ses lie­gen­den Hügel und Stadt­tei­le (dort ist auch der Giar­di­ni zu fin­den). Wei­ter oben auf dem Turm dann noch weit bis an den Hori­zont rei­chen­de Aus­bli­cke. Die­se sind wie alle ande­ren (viel zu vie­len) Fotos auf Flickr zu finden. 

Science Fiction und Fantasy im April (und Mai) 2025

Firenze, day 3 - Giardini di Boboli, Glasshouse - XI

Nicht zuletzt auf­grund des Ent­schlus­ses, erst ein­mal kei­ne wei­te­ren E‑Books bei Ama­zon zu kau­fen, habe ich im April ins­be­son­de­re Bücher gele­sen, die schon län­ger auf mei­nem Kind­le herumlagen.

Bruce Ster­ling hat die 2014er-Aus­ga­be des MIT-Sci­ence-Fic­tion-Review unter dem Titel Twel­ve Tomor­rows her­aus­ge­ge­ben. Dar­in fin­den sich Kurz­ge­schich­ten von gro­ßen Namen aus dem Cyber­punk-Umfeld. Wil­liam Gib­son mit einer Stu­die zu sei­nen Peri­phe­ral-Roma­nen fand ich ohne deren Kon­text nicht gut ver­ständ­lich, War­ren Ellis vage – umso inter­es­san­ter die Zukunfts­vi­sio­nen von Pat Cadi­gan, Lau­ren Beu­kes, Paul Gra­ham Raven und Ster­ling hims­elf. Allen gemein­sam: gut zehn Jah­re alte Near-Future-SF, die – mehr oder weni­ger cyber­pun­kig – sozio­tech­ni­sche Impli­ka­tio­nen erforscht, wirkt heu­te durch­wach­sen. Vie­les ist recht prä­zi­se extra­po­liert. An ande­ren Stel­len hat die Wirk­lich­keit die SF über­holt. Und die Hoff­nung auf spon­ta­ne, tech­no­lo­gisch ver­mit­tel­te Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on in den Hin­ter­las­sen­schaf­ten der neo­li­be­ra­len Kata­stro­phe wirkt heu­te fast schon naiv. Statt ara­bi­schem Früh­ling gab’s Coro­na und Trump I und II, statt auto­no­men Netz­wer­ken das Meta-Goog­le-Apple-Ama­zon-Quar­tett. Aber gera­de des­we­gen: durch­aus inter­es­sant zu lesen.

In Notes from the Bur­ning Age (2021) von Clai­re North – die mir bis­her kein Begriff war, und wohl eini­ge span­nen­de Sachen geschrie­ben hat – geht es um eine etwas fer­ne­re Zukunft. Nach dem gro­ßen Crash wur­de die Welt in einem bewuss­te­ren und öko­lo­gi­sche­ren Maß­stab neu auf­ge­baut – auch auf­grund der Inter­ven­ti­on der Kakuy, Wesen, die die Natur ver­kör­pern, und um die her­um sich die in der Gegen­wart des Buches herr­schen­de Reli­gi­on ent­wi­ckelt hat. Ven ist ein Kind sei­ner Zeit, war Mönch die­ser Reli­gi­on, und zieht jetzt mit einer Mis­si­on durch die Pro­vin­zen des ehe­ma­li­gen Mit­tel­eu­ro­pas. Was bis hier­hin einen Solar­punk- oder Hope­punk-Roman beschrei­ben könn­te, nimmt eine ganz ande­re Wen­dung, denn wir erle­ben durch Vens Augen den Auf­stieg einer patri­ar­cha­len „Bru­der­schaft“, die zurück zur sagen­um­wo­be­nen fos­sil-faschis­ti­schen Moder­ne will. North beschreibt die sich dar­aus erge­ben­den Aus­ein­an­der­set­zung mit viel Lie­be zum all­täg­li­chen Detail. Gleich­zei­tig erin­nert mich (trotz ganz ande­rem World­buil­ding) Notes from the Bur­ning Age ein wenig an Iain M. Banks „Spe­cial Cir­cum­s­tances“ in sei­ner uto­pi­schen Cul­tu­re (oder an die „Sec­tion 31“ – aber mit Gewis­sens­bis­sen – im uto­pi­schen Star-Trek-Mythos). Lesenswert!

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Photo of the week: Firenze, day 2 – Palazzo Vecchio – VI

Firenze, day 2 - Palazzo Vecchio - VI

 
Sag­te ich schon, dass ich bei mei­nem Flo­renz­auf­ent­halt viel zu vie­le Fotos gemacht habe. Am Sonn­tag­nach­mit­tag hat­te ich die Uffi­zi­en und den Palaz­zo Vec­chio besucht – bei­des ziem­lich ein­drucks­voll; zugleich war’s es nicht so ganz klug, bei­des direkt hin­ter­ein­an­der zu stop­fen. In gewis­ser Wei­se fand ich den Palaz­zo Vec­chio – mit hun­der­ten Wand­ge­mäl­den, gol­de­nen Lili­en, Büs­ten und dem gro­ßen Saal – ein­drucks­vol­ler als die Uffi­zi­en mit den Meis­ter­wer­ken der Renais­sance. Viel­leicht auch des­we­gen, weil ich wenig Muße hat­te, Wer­ke wie Bot­ti­cel­lis Früh­ling genau zu betrach­ten. Nicht nur auf­grund des etwas voll gepack­ten Ter­min­ka­len­ders. Auch das alte Leid der Tourist*innen: ande­re sind auch da, und alle wol­len die sel­ben her­aus­ra­gen­den Stel­len sehen.

Jeden­falls: Tho­mas J. Pri­ce inter­ve­nier­te künst­le­risch: nicht nur mit der rie­si­gen Tou­ris­tin auf dem Platz vor dem Palaz­zo Vec­chio, son­dern auch mit eini­gen moder­nen Ergän­zun­gen im alten Gebäude.

Alles mei­ne Flo­renz­fo­tos (soweit schon hoch­ge­la­den) fin­den sich wei­ter­hin bei Flickr.