Letztes Jahr hatte meine Tochter sich einen selbst geschriebenen Adventskalender gewünscht. Zum Glück nur für zwölf Tage, die anderen zwölf Tage war ihre Mutter dran. Dabei ist bei mir eine Geschichte entstanden, die irgendwo zwischen Fantasy und Science Fiction changiert und für eine Kurzgeschichte zu lang und für einen Novelle zu langweilig geworden ist. Sprich: so ganz zufrieden bin ich mit dem Ergebnis nicht. Nun denn – wer möchte, kann den „Stern der Nordermark“ jetzt hier lesen.
Kurz: 2020
Noch ein paar wenige Tage, und dann springt der Jahreszähler um auf 2020. Mehr noch als das Jahr 2000 (Y2K, für Eingeweihte) ist 2020 ein Jahr, das immer irgendwann in der fernen Zukunft lag.
Jetzt sind wir dort. 2020 noch vom Beginn des 21. Jahrhunderts zu reden, wäre schräg. Wir sind mittendrin. In einer Zukunft, die beim ersten Hinsehen durchaus apokalyptische Züge aufweist, und eher aus den düstereren Werken zu stammen scheint: Klimakrise, Artensterben, neue globale Machtverhältnisse, populistische und wenig demokratisch gesinnte Regierungschefs in einer ganzen Reihe von Ländern, die Verwirklichung der Totalüberwachung in China, … Erst beim zweiten Hinsehen zeigt sich, dass es auch positive Entwicklungen gibt: sinkende Armut, steigende Bildungszahlen, der vernetzte Kosmos. Wir sind (noch) nicht in einem lebensfeindlichen Badland angekommen, die virtuelle Welt ist weiterhin größtenteils flach, und es gibt ziemlich viel politisiertes Engagement, ziemlich viel Bewegung, und, ja, auch das: eine Ende menschenfeindlicher Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr einfach so hingenommen und gedankenlos reproduziert werden.
Vielleicht ist es diese Ungleichzeitigkeit, das Nebeneinander von Krise und Katastrophe auf der einen und Fortschritt und Aufklärung auf der anderen Seite, das diese Jahre kennzeichnet. Vielleicht wird eines Tages in einer Geschichte des 21. Jahrhunderts 2020 das Jahr sein, in dem „how dare you“ gewonnen hat, in dem die Menschheit die Kurve gekriegt hat. Oder halt nicht.
Lesetipp: L.X. Beckett – Gamechanger
Ganz frisch und großartig: der gerade bei Tor erschienene Roman Gamechanger von L.X. Beckett.
Dieser Roman ist die neuste und jüngste Annäherung der Science Fiction an das Problem, augmented reality – also das nahtlose Zusammenwirken „digitaler“, von intelligenten Agenten unterstützter und „analoger“, stofflicher Welt – plausibel darzustellen. Hier gelingt das und greift nebenbei auch Fragen auf wie die danach, ab was für einem Alter dann eigentlich Kinder an einer immer vorhandenen digitalen Schicht teilnehmen, die sich über alles legt. Oder auch: wie sichergestellt wird, dass sie vorher Berücksichtigung finden, oder was mit denen ist, die ein Implantat verweigern oder biologisch dafür nicht geeignet sind. Oder: was passiert mit @jarheads, Menschen in kaputten Körpern, die aber weiter am „Sensorium“, wie die digitale Ergänzung der Welt hier heißt, teilnehmen? Becketts Roman spielt in einer Zukunft, in der all das selbstverständlich ist. Und die digitale Schicht bleibt nicht Ornament, sondern ist tief in die Gesellschaft eingewoben. Ein Beispiel dafür ist die Idee, dass strikes/strokes verteilt werden können, die eine Art Währung darstellen. Oder die Art und Weise, wie stoffliche Räume und Games übereinander gelegt werden. Wie sich die Sprache verändert hat, die Ökonomie – in Richtung einer aufmerksamkeitsgetriebenen gig economy mit post-kapitalistischen Celebrities; aber auch die Politik (globale direkte Demokratie, aber mit Eintrittshürden in Form von Tutorials und Abfragen …) und die Medien in einer Überwachungsgesellschaft (Cloudsight hat da einiges gemeinsam mit Malka Olders Information – eine Weltbehörde für Informationskontrolle).
Eine augmentierte Realität plausibel zu schildern, passiert hier nicht das erste Mal. Wer möchte, kann bis zu William Gibsons Neuromancer (1984) zurückgehen. Bei Gibson ist der Cyberspace vor allem durch Separierung gekennzeichnet – er muss betreten werden, dazu gibt es eine spezielle technische Ausrüstung, dort gelten andere Regeln. Becketts Sensorium ist dagegen ein Teil der Welt, an der alle – oder fast alle – Menschen in unterschiedlichem Ausmaß immer teilhaben. Das ist das neue daran. Auch in den neusten Büchern von Neal Stephenson (Fall, or Dodge in Hell, 2019), Karl Schroeder (Stealing Worlds, 2019) und Tom Hillenbrand (Hologrammatica, 2018) ist augmentierte Realität ein Thema. Beckett packt da nochmal eins drauf.
Oder: Wenn Science Fiction auch dazu da ist, gegenwärtige Entwicklungen zu reflektieren, dann scheint das selbstverständliche Ineinanderfließen von stofflicher und digitaler Welt mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, eine der Debatten zu sein, die jetzt geführt werden muss.
Das zweite große Thema, mit dem sich Science Fiction gegen Ende der 2010er Jahre auseinandersetzt, ist das Ende der Welt. Die Klimakrise und der Zusammenbruch der globalen Ordnung als apokalyptischer Hintergrund sind fast schon ein alter Hut, etwas Gegebenes. Bei Beckett heißt diese Zeit des Zusammenbruchs Setback – und sie beginnt etwa heute. Das Buch spielt aber etwa eine Generation später – der Zusammenbruch, die Zwangsmaßnahmen wie Umsiedlungen, #triage und Rationierungen sind noch in Kraft, im Vordergrund steht jetzt aber der Wiederaufbau, die Erneuerung der natürlichen Kreisläufe, der harte Kampf um Klima und Sauerstoff. Das ist der Lebensinhalt der Bounceback-Generation: prosozial, anpackend, aktivistisch, optimistisch und höflich. Selbst auf der Barrikade werden noch die Orangenschalen fein säuberlich getrennt gesammelt, um sie wieder dem Kreislauf zuzuführen. Zur Schau gestellter Konsum ist ekelhaft. Oder in den Worten der Hauptperson, Rubi Whiting: „Row, row, row, everyone. All we have is us.“
Wer wach ist, nimmt genau diesen Geist heute wahr. Selbstverständlich ist Science Fiction immer Gegenwartsliteratur – und ja, vielleicht brauchen wir, ganz ohne außerirdische Bedrohung und vor Zwangsumsiedlungen („Verdichtung“) und Rationierungen etwas davon. Fridays for Future, anyone?
Literatur hat dabei Freiheiten – eine gewisse Herausforderung für meine suspension of disbelief stellt die Tatsache dar, dass der Roman in einer Welt der Knappheit spielt, dass aber gleichzeitig jede Mengen Drohnen, Server und High-Tech-Dinge zum Einsatz kommen. Im Buch selbst gibt es dafür zwei Erklärungen: das Sensorium ist auch ein Ort, an dem Menschen Spaß haben können und Dinge erleben, ohne dafür Ressourcen etwa in Form von Reisen zu verbrauchen; und die High-Tech, etwa in Form von Nahrungswürfeln oder sich selbst konfigurierendem Nanomaterial, das als Kleidung dient, ist letztlich ressourcenschonender als die handgemachte Alternative, die als Luxusgut gilt.
Nebenbei ist Gamechanger ein Buch über zerbrechliche Personen, die jeweils mit ihren eigenen Dämonen kämpfen. Und auch das trägt dazu bei, dass ich Becketts Buch am liebsten am Stück gelesen hätte.
Leseempfehlungen für den Sommer
Dass ich in den letzten Tagen kaum dazu gekommen bin, mich um dieses Blog zu kümmern, hat auch etwas damit zu tun, dass ich einige SF-Neuerscheinungen verschlungen habe. Die Art Bücher, bei denen am Ende Traurigkeit einsetzt, weil das Buch zu Ende ist, und die Geschichte doch eigentlich noch weiter gehen könnte. Falls also noch jemand was zum Lesen für den Sommer sucht, ist hier vielleicht etwas dabei.
Besonders empfehlen möchte ich Semiosis von Sue Burke. Auf den ersten Blick ist das eine dieser Geschichten von einem Generationenraumschiff, das auf einem Planeten landet, um eine neue Kolonie zu gründen. (Dass es von dieser Sorte Geschichten in den letzten Jahren einige gab, mag mir nur so vorkommen. Vielleicht hat es aber auch was mit dem Wunsch, diesem Planeten zu entkommen, zu tun). Interessant wird dieses Buch deswegen, weil wir – über mehrere Generationen hinweg – der idealistisch geprägten Kolonie dabei zuschauen, wie sie zum einen ihre ganz eigenen Regeln entwickelt, für jede Generation immer wieder neu. Zum anderen wird nach und nach klar, dass intelligentes Leben in Pflanzenform durchaus aggressiv sein kann. Aber eben auch lernfähig. Und nach und nach wachsen einem die ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten ans Herz.
Ein bisschen ähnlich hinsichtlich des Einfühlens in wirklich fremde Intelligenzen ist Children of Ruin von Adrian Tchaikovsky, eine Art Parallelquel zu seinen Children of Time. Die damals noch sehr fremdartigen intelligenten Spinnen sind uns jetzt nah – aber was passiert, wenn Tintenfische ganz getrennt und verteilt beginnen, zu denken, und unterbewusst Raumfahrt zu betreiben?
Genug der Generationenraumschiffe und fremden Lebensformen. Ein anderer Trend sind Deep-Tech-Dystopien, irgendwie das Cyberpunk der 2020er Jahre. Neben Cory Doctorows Walkaway (und seiner Novellen-Sammlung Radicalized) passt auch das gerade erschienene Stealing Worlds von Karl Schroeder gut zu diesem Trend. Nach Trump und Klimakrise sind die USA ein vertrauensloses Land am Abgrund. Dafür gibt es überall Sensoren und Überwachungstechnik. Das scheint gutes zu haben, wenn es etwa um eine globale Blockchain zur Überwachung von Umweltproblemen geht, führt aber auch dazu, dass es gar nicht so einfach ist, unterzutauchen. Augmented Reality a la Google Glass ist weit verbreitet, und letztlich ist es ebenso ein Spiel, den Überwachungskameras auszuweichen, wie es ein Spiel ist, zerfallene Häuser wieder aufzubauen. Oder steckt mehr dahinter?
(Etwas weniger Deep-Tech, aber auch near future in einer sehr globalen und diversen Welt: Elizabeth Bears Novelle In the House of Aryaman, a Lonely Signal Burns, eine Art Detektivgeschichte.)
Schon etwas älter und nicht so glaubwürdig, aber nichtsdestotrotz spannend zu lesen, ist ein anderes Untergangsszenario für die USA. In Robert Charles Wilsons Julian Comstock. A Story of the 22nd Century landen wir in einem Land, das sich mehr nach 19. Jahrhundert als nach Zukunft anfühlt, mit Feudalherren und einer strikten Klassengesellschaft, einer gerade eben beginnenden Wiederentdeckung der Industrialisierung (im Post-Öl-Zeitalter), einer alles dominierenden Kirche und radikalen Intellektuellen und Bohemians … Wie gesagt, besonders glaubwürdig finde ich den völligen technologischen Verfall nicht, aber interessant ist das allemal.
Ach ja, industrielle Fantasy: Michael Swanwick beschreibt in The Iron Dragon’s Mother Faery nach der Industrial Revolution, aus der Sicht einer Drachenpilotin, die nach ihrem ersten Flug unehrenhaft entlassen werden soll – und auf der Flucht ganz unterschiedlichen Geschichten und Gestalten begegnet.
Last but not least habe ich Kameron Hurley für mich entdeckt. Ihre Light Brigade spinnt ausgehend von Beamen-als-Waffe eine Nicht-ganz-Military-SF; vielleicht ist’s auch ein Kommentar zu Heinleins Starship Troopers. Faszinierender fand ich The Stars Are Legion, eine sehr eigene Geschichte über biotechnologische Raumschiffwelten, Gebärfähigkeit und Machtspiele.
Für mich neu entdeckt: Bujolds Vorkosigan-Serie
Manchmal lohnt es sich, die eigenen Vorurteile zu überprüfen. Beispielsweise habe ich die Vorkosigan-Serie von Lois McMaster Bujold bis vor kurzem für uninteressant für mich gehalten. Ich wusste, dass es um die Abenteuer eines Raumschiff-Kapitäns Miles Vorkosigan geht, dass die Serie mit „Horatio Hornblower im Weltraum“ verglichen wurde (Wissenslücke, aber irgendwas mit Flotten, Militär und Seefahrt), und dass es sich dabei um „MilSF“, also militärische Science Fiction handelt.
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