Zum Überlebensminimum-Unsinn (Update 2: Hartz-IV soziologisch betrachtet)

Zwei Chem­nit­zer Öko­no­men (Prof. Dr. Fried­rich Thie­ßen und ein Dipl.-Kfm. Chris­ti­an Fischer) haben eine Stu­die ver­öf­fent­licht (schein­bar tat­säch­lich in der Zeit­schrift für Wirt­schafts­po­li­tik erschie­nen, wenn dem Doku­ment zu trau­en ist), auf die u.a. taz und Spie­gel Online auf­ge­sprun­gen sind, und die als betriebs­wirt­schaft­li­che Legi­ti­ma­ti­on einer maxi­ma­len Redu­zie­rung der Hartz-IV-Sät­ze ver­stan­den wer­den kann. Zur Erin­ne­rung: der Regel­satz (ohne Wohn­geld) liegt (zum Zeit­punkt der Stu­di­en­ver­fas­sung) bei 345 Euro, der Mini­mal­fall der Stu­die kommt auf 132 Euro (ohne Hei­zung, Strom und Miete). 

Inzwi­schen füh­len die Autoren sich genö­tigt, die Stu­die mit einem recht­fer­ti­gen­den Vor­blatt zu ver­se­hen. Trotz­dem müss­te „Stu­die“ eigent­lich in Anfüh­rungs­zei­chen gesetzt werden. 

Umso inter­es­san­ter ist es, sich anzu­schau­en, wie die Vor­an­nah­men aus­se­hen, die zu solch unsin­ni­gen Ergeb­nis­sen führen.

1. Aus­gangs­punkt ist öko­no­men-typisch ein ratio­nal han­deln­der Mensch, dar­un­ter wird hier nicht nur ver­stan­den, dass in jedem Fall das bil­ligs­te Pro­dukt genom­men wird, son­dern auch, dass mit Geld ver­nünf­tig umge­gan­gen wird, kei­ne Lebens­mit­tel weg­ge­wor­fen wer­den usw. Dar­auf (und nicht auf dem tat­säch­li­chen Ver­hal­ten von Men­schen) zur Ver­fü­gung zu stel­len­de Geld­mit­tel auf­zu­bau­en, ist zynisch.

2. Aus­gangs­punkt ist zwei­tens die Preis­la­ge der bil­ligs­ten Anbie­ter (ger­ne auch kos­ten­lo­ser Second-Hand-Pro­duk­te) in Chem­nitz. Auch wenn in der Stu­die behaup­tet wird, dass das kei­ne Rol­le spielt, kann ich mir z.B. kaum vor­stel­len, dass das ÖPNV-Ticket (Jah­res­netz­kar­te) in Ham­burg, Ber­lin, Chem­nitz, Köln und Frei­burg preis­lich ähn­lich liegt.

3. Drit­tens – und hier geht es ans Ein­ge­mach­te – wird ver­sucht, von einem mehr oder weni­ger selbst defi­nier­ten Ziel­set (ver­wie­sen wird dazu auf ein unver­öf­fent­lich­tes Manu­skript des Ko-Autors Fischer) aus einen monat­li­chen Waren­korb zu defi­nie­ren. Dabei wird ziem­lich kom­plett igno­riert, dass Hartz IV mehr sein soll als eine Über­le­bens­si­che­rung, son­dern als Mini­mal­fall wird tat­säch­lich rein das phy­si­sche Über­le­ben her­an­ge­zo­gen. Selbst die rela­tiv schlich­te, von Öko­no­men ger­ne her­an­ge­zo­ge­ne Maslow­sche Bedürf­nis­py­ra­mi­de macht deut­lich, dass zwi­schen dem phy­si­schen Exis­tenz­mi­ni­mum und mensch­li­chem Über­le­ben Wel­ten liegen.

4. Das Fall­bei­spiel wird anhand eines gesun­den deut­schen Man­nes ohne Behin­de­rung und sons­ti­ge Ein­schrän­kung, aber dafür mit deut­schen Ver­brauchs­ge­wohn­hei­ten berech­net. Über jedes Ein­zel­ne die­ser Attri­bu­te lie­ße sich dis­ku­tie­ren. Kin­der samt deren Extra­kos­ten kom­men nicht vor, eben­so­we­nig dür­fen ratio­na­le Almo­sen­emp­fän­ger (m) irgend­wel­che Hob­bies, Inter­es­sen, sozia­len Kon­tak­te oder Ernäh­rungs­vor­lie­ben haben.

5. Exter­ne Kos­ten (z.B. die Gesund­heits­fol­gen einer auf den bil­ligs­ten Dis­coun­ter­pro­duk­ten basie­ren­den Ernäh­rung) kom­men abso­lut nicht vor. Gesund­heits­kos­ten kom­men über­haupt nicht vor, der deut­sche Mann ist ja auch gesund.

6. Der Fall­bei­spiel­mann ver­zich­tet auf Alko­hol und Tabak (ist irra­tio­nal), ist dafür jedoch rela­tiv viel Wurst und Fleisch (scheint ratio­nal zu sein). Gespart wird über­haupt ins­be­son­de­re am Essen – im Monat rei­chen 9 kg Brot, 9 kg Kar­tof­feln, 10 kg Obst, 10 kg Gemü­se, 7,5 l Milch, 1,8 kg Käse, 1,6 kg Fleisch, 1,8 kg Wurst, 1,3 kg Fisch und 1,2 kg Fett. Gewür­ze sind aller­dings eben­so­we­nig vor­ge­se­hen wie z.B. Süßig­kei­ten. Oder Kaf­fee. Kaf­fee! Genuß gibt’s nicht. Beim Dis­coun­ter kos­tet die­ser Waren­korb (der angeb­lich einem WHO-Stan­dard ent­spre­chen soll) laut Stu­die 68 Euro. Pi mal Dau­men kom­me ich mit den übli­chen Super­markt­prei­sen auf min­des­tens das Dop­pel­te (auch die rea­len Ernäh­rungs­aus­ga­ben im unte­ren Quin­til abzgl. Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger lie­gen die­ser Stu­die zu Fol­ge mit 138 Euro in die­ser Grö­ßen­ord­nung). Eine ratio­na­le – also ver­nünf­ti­ge, gesun­de, und öko­lo­gi­sche – Ernäh­rung wird ver­mut­lich noch­mal etwas teu­rer. Aber die scheint eben nicht vor­ge­se­hen zu sein.

7. Ähn­lich schräg ist es bei All­tags­ge­gen­stän­den und Klei­dung (sol­len gebraucht bzw. umsonst irgend­wo erwor­ben wer­den). Gebraucht wird auch gar nicht viel. Aha.

8. Für „Kom­mu­ni­ka­ti­on, Unter­hal­tung, Ver­kehr“ sind im Mini­mal­fall vor­ge­se­hen: ein bil­li­ger Fern­se­her, die Mit­glied­schaft in der Stadt­bi­blio­thek und 2,38 Euro für Brief­mar­ken (reicht das für die not­wen­di­gen Bewer­bun­gen?). Und ein ÖPNV-Ticket für 23 Euro pro Monat, auf der Sei­te der Chem­nit­zer Ver­kehrs-AG habe ich aller­dings nichts auch nur annä­hernd in die­ser Preis­klas­se gefun­den. Die Stadt­bi­blio­thek darf dann auch gleich das kos­ten­freie Inter­net mit­lie­fern, Tele­fon ist nicht not­wen­dig. Kos­ten ins­ge­samt: 26,78 Euro pro Monat. Über die Effek­te einer der­ar­ti­gen Frei­zeit­zu­wei­sung haben die Autoren aller­dings nicht nach­ge­dacht, jeden­falls machen sie kei­ne Aus­füh­run­gen dazu. Fahr­rad, Kino, Fuß­ball, Urlaub (noch nicht mal das Wochen­end­ti­cket der DB AG), Tele­fon, Knei­pen­kon­sum: sind alle nicht vor­ge­se­hen. Kurz: ein­ge­sperrt in den eige­nen vier Wän­den, in der Zeit, die zwi­schen Arbeits­amt, Dis­coun­ter-Preis­su­che und Stadt­bi­blio­thek mit ÖPNV noch bleibt. Pri­vat­sphä­re in der Kom­mu­ni­ka­ti­on gibt es hier auch nicht.

9. Abschlie­ßend wird dann noch argu­men­tiert, dass auch Men­schen, die mehr Geld haben, unzu­frie­den sind, und dass es des­we­gen nicht wei­ter schlimm wäre, wenn mini­mal­aus­ge­stat­te­te Per­so­nen glau­ben, Män­gel zu leiden.

Zusam­men­ge­fasst: rela­tiv aske­tisch leben­de gesun­de allein­ste­hen­de Män­ner mit deut­schen Ver­zehr­ge­wohn­hei­ten ohne sozia­le Kon­tak­te, ohne Kin­der und ohne Hob­bies kom­men mit 132 Euro im Monat aus. Nor­ma­le Men­schen mit nor­ma­len Prak­ti­ken nicht, Men­schen mit Pro­ble­men nicht, und Fami­li­en erst recht nicht. Es wun­dert mich nur, dass nicht als Berech­nungs­grund­la­ge auch das „Con­tai­nern“ und die Nut­zung öffent­li­cher Infra­struk­tur zur Befrie­di­gung von Wohn­be­dürf­nis­sen her­an­ge­zo­gen wurden.

Die Ergeb­nis­se bestä­ti­gen also letzt­lich vor allem eins – mei­ne Vor­ur­tei­le über ÖkonomInnen.

War­um blog­ge ich das? Im Rah­men der Grund­ein­kom­mens­de­bat­te ging es auch dar­um, wie viel Men­schen zum eini­ger­ma­ßen guten und ent­wick­lungs­för­der­li­chen („Hil­fe zur Selbst­hil­fe“, anyo­ne?) Leben brau­chen, und ob die rela­tiv nied­ri­gen, finan­zier­ba­ren Grund­ein­kom­mens­bei­trä­ge, die wir vor­ge­schla­gen haben, dazu aus­rei­chen wür­den. Wir reden hier über 420 Euro ohne Wohn­kos­ten. Dafür gab’s hef­tig Schel­te, dass die Hartz-IV-Sät­ze bei eini­ger­ma­ßen „nor­ma­len“ All­tags­prak­ti­ken kaum aus­rei­chen, ist all­ge­mein bekannt – und dann schein­bar öko­no­misch begrün­det mal den Ide­al­ty­pus des edlen und spar­sa­men Armen als Regel­fall zu set­zen, was die Stu­die impli­zit macht, kann ein­fach nicht gut gehen. Oder heißt: Wer arm ist, muss lei­den. Und ver­dient die media­le Pole­mik, der ich mich hier­mit anschließe.

Update: (5.9.2008) Soeben haben sich die Grü­nen im Bun­des­tag mit einer Pres­se­mit­tei­lung zu die­ser Stu­die zu Wort gemel­det. Und Mar­kus Kurth macht das rich­tig gut.

PRESSEMITTEILUNG der Bun­des­tags­frak­ti­on Bünd­nis 90/Die Grünen

NR. 0931 – Datum: 8. Sep­tem­ber 2008

Exis­tenz­mi­ni­mums-Stu­die: Wirt­schafts-Pro­fes­sor aus Chem­nitz sei Selbst­er­fah­rung auf Hartz IV-Niveau empfohlen

Anläss­lich der Stu­die der TU Chem­nitz zur Höhe der sozia­len Min­dest­si­che­rung erklärt Mar­kus Kurth, sozi­al­po­li­ti­scher Sprecher:

Die Stu­die zwei­er Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Chem­nitz, unter Lei­tung von Pro­fes­sor Fried­rich Thie­ßen, zur Höhe der sozia­len Min­dest­si­che­rung ist unse­ri­ös und rea­li­täts­fremd. Die erho­be­nen Anga­ben zu den Ver­brauchs­kos­ten, die angeb­lich den Lebens­un­ter­halt sichern sol­len, sind völ­lig frei erfun­den und ent­beh­ren jed­we­der wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­ge. Stich­pro­ben­ar­ti­ge, eher zufäl­lig auf­ge­spür­te Schnäpp­chen in Chem­nitz haben mit einer seriö­sen, für bun­des­wei­te Maß­stä­be taug­li­chen Bedarfs­er­he­bung nichts zu tun. Jeder über­prüf­ba­re Beleg fehlt. Die staat­lich besol­de­ten Wis­sen­ser­fin­der soll­ten ein­mal ver­su­chen, einen Monat von Hartz IV zu leben. Das wür­de rei­chen, um der­ar­ti­ge Behaup­tun­gen zum Lebens­not­wen­di­gen zu widerlegen.

Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben und die Inte­gra­ti­on am Arbeits­markt haben für den pro­fes­so­ra­len Schnäpp­chen­jä­ger Thie­ßen offen­bar kei­ne Bedeu­tung. So ist es völ­lig welt­fremd, zu glau­ben, man kön­ne ohne Tele­fon am kom­mu­ni­ka­ti­ven Leben teil­neh­men und sich in einer 12-Euro-Hose auf ein Vor­stel­lungs­ge­spräch zu begeben. 

Update 2: Par­al­lel zur Debat­te um die Chem­nitz-Stu­die gibt es bei Tina Gün­ther eine aus­führ­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Medi­en­het­ze und Hartz-IV-Wirk­lich­keit, wie immer im soz­log sozio­lo­gisch unter­füt­tert. Lesens­wer­te Ergänzung.

Kurz: Ratzmann-Rückzug und grüne Kindererziehung (Update 2: Habecks Väterbuch)

Die grü­ne Bun­des­vor­sit­zen­den­su­che scheint von der Gen­der­po­li­tik bestimmt zu sein – auch Vol­ker Ratz­mann hat jetzt ange­kün­digt, aus pri­va­ten Grün­den doch nicht für die Büti­ko­fer-Nach­fol­ge anzu­tre­ten. Sei­ne Lebens­ge­fähr­tin Kers­tin And­reae ist schwan­ger – und will als baden-würt­tem­ber­gi­sche Spit­zen­kan­di­da­tin wie­der in den Bun­des­tag. Bei­des zusam­men scheint nicht zu gehen, und so reiht sich Ratz­mann (wie ich mei­ne, sehr ver­ständ­li­cher­wei­se) in die Rei­hen der­je­ni­gen ein, die wegen Erzie­hungs­zei­ten nicht für den Bun­des­vor­sitz in Fra­ge kom­men wollen. 

Para­do­xe Anmu­tung hat die­se Begrün­dung aller­dings schon – im März war es neben Robert Habeck und Ant­je Her­men­au auch der der­zei­ti­ge Allein­kan­di­dat Cem Özd­emir, der „nicht der Grüß-Gott-Onkel für mei­ne Toch­ter wer­den [will]“ (Vera Gas­e­row in der FR, dort lei­der nicht mehr ver­füg­bar, Kopie bei R.H.). Jetzt bleibt nur Cem übrig – und hof­fent­lich die Ein­sicht, dass die Ver­ein­bar­keit von Beruf und Fami­lie auch für poli­ti­sche Spit­zen­äm­ter rele­vant ist.

Update: SpOn berich­tet auch über die Vater­schaft. Auch, dass Robert Habeck eben­falls damit argu­men­tiert hat. Die Özd­emir-Poin­te kommt aller­dings nicht vor.

Update 2: (16.9.2008) Dafür spielt sie in Chris­ti­an Fül­lers Bespre­chung von Habecks Väter­buch („Ver­wirr­te Väter“) eine Neben­rol­le. Die Bespre­chung macht übri­gens rich­tig Lust dar­auf, das Buch zu lesen, was ich weder vom The­ma noch vom Jour­na­list erwar­tet hät­te. Dass Fül­ler aller­dings glaubt, dass Grü­ne Femi­nis­tIn­nen Eva Her­mann toll fin­den könn­ten, ist reich­lich absurd.

Twitter, Grüne und Parteitagsinszenierungen

Bünd­nis 90/Die Grü­nen haben ja schon rela­tiv lan­ge einen Twit­ter-Account, über den bis­her vor allem „Orga­ni­sa­ti­ons­ge­zwit­scher“ lief, was ich auch ganz okay fand. Nach­dem Huber­tus Heil der SPD eini­ges an posi­ti­ver Netz-PR beschert hat, wur­de dar­aus ges­tern ein Büti­ko­fer-Account, was nicht nur posi­tiv auf­ge­nom­men wur­de. Letzt­lich scheint eini­ges dafür zu spre­chen, klar zwi­schen per­sön­li­chen und orga­ni­sa­tio­nel­len Accounts zu tren­nen (die taz macht das inzwi­schen auch: mit einem für Chef­re­dak­teur Peter Unfried, einem Account für Schlag­zei­len und einem für Small­talk und Gerüch­te aus dem taz-Betrieb. Sinn­vol­le Aus­dif­fe­ren­zie­rung, also.

Beim grü­nen Twit­ter-Account ist es noch nicht so weit, der­zeit wird er also von Rein­hard Büti­ko­fer aus Den­ver befüt­tert. Der hat inso­fern recht schnell gelernt, als jetzt nicht nur poli­ti­sche Kurz­ana­ly­sen über den Ticker lau­fen, son­dern auch mal ein Kom­men­tar zur Sicher­heits­la­ge („Neue Sicher­heits­maß­nah­me: Alle Pins und But­tons abneh­men.“), oder auch die (so wie ich ihn ken­ne) büti­ko­fer-typi­sche Fuß­ball-Wahr­neh­mung des Poli­ti­schen („Clin­ton sehr gut im Angriff gg. McCain. Ker­ry noch bes­ser: Setzt den Sena­tor McCain gegen den Kan­di­da­ten McCain. So funktioniert’s!“). Aber dazu woll­te ich jetzt eigent­lich nichts schrei­ben, son­dern auf fol­gen­den Ein­trag hinweisen:

Demo­kra­ten stei­gern sich jdn. Tag in Mes­sa­ge, Insze­nie­rung u. Stim­mung. Wird mobi­li­sie­ren u. die Geg­ner beein­dru­cken. Mor­gen mehr #Büti­ko­fer

Nun wer­den die Grü­nen häu­fi­ger mal als die Par­tei bezeich­net, die im poli­ti­schen Stil den ame­ri­ka­ni­schen Mobi­li­sie­rungs­par­tei­en am nächs­ten kommt. Auch heu­te schon gibt es – und da ist wie­der­um Büti­ko­fer nicht ganz unschul­dig dar­an – ger­ne mal stark durch­in­sze­nier­te Par­tei­ta­ge (sie­he Abb.). 

BDK: Winfried Kretschmann ...
BDK 2005 als Bei­spiel für Parteitagsinszenierungen

Das geht nicht ganz soweit, dass Zwi­schen­ru­fe zum Abstim­mungs­ver­fah­ren vor­her abge­spro­chen wer­den; aber einen genau­en Zeit­plan im Hin­ter­grund, eine öffent­li­che Bot­schaft, eine stra­te­gi­sche Plat­zie­rung von Debat­ten und Kulis­se – all das gibt es auch auf deut­schen Par­tei­ta­gen, und eben auch bei den Grü­nen. Der Preis dafür, sich als pro­fes­sio­nel­le Medi­en­par­tei prä­sen­tie­ren zu können.

Sehr zum Ärger des Noch-Par­tei­chefs geht das nicht immer glatt; auch das macht den Reiz der Grü­nen aus. (Wobei es, egal wie der Par­tei­tag läuft, immer falsch ist: ent­we­der gibt es eine glat­te Insze­nie­rung, und die Medi­en fin­den es lang­wei­lig, oder es gibt basis­de­mo­kra­ti­schen Ärger, und die Medi­en sehen nur Streit).

Ich bin jetzt gespannt, ob Rein­hard Büti­ko­fer mal wie­der von den USA ler­nen will, und die nächs­te BDK – sei­ne letz­te als Par­tei­chef – zur gro­ßen Spit­zen­team­krö­nungs­mes­se wird. Sei­ne get­wit­ter­te Begeis­te­rung über den US-Par­tei­tag (des­sen demo­kra­ti­sches Gewicht eher in den Vor­wah­len als in der tat­säch­li­chen Zusam­men­kunft liegt) legt das irgend­wie nahe. 

War­um blog­ge ich das? Weil mich das Zusam­men­spiel bzw. der Wider­spruch zwi­schen öffent­li­cher Insze­nie­rung und demo­kra­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­on spä­tes­tens sein mei­ner Magis­ter­ar­beit interessiert.

Mal was anderes als immer nur Pressemitteilungsfloskeln (Update 3: Dialog)

SPD-Gene­ral­se­kre­tär Huber­tus Heil (35) nutzt Twit­ter, um sei­ne Ein­drü­cke von der Oba­ma-Nomi­nie­rung los­zu­wer­den. Das macht er seit ein paar Tagen. Ich habe ein paar Mal rein­ge­schaut (zum „fol­lo­wen“ konn­te ich mich aller­dings nicht durch­rin­gen) und mich drü­ber gefreut, dass das sehr unver­krampft pas­siert. In der deut­schen Poli­tik eine Seltenheit. 

Spie­gel Online (Cars­ten Vol­kery) ver­wech­selt den Twit­ter-Feed dage­gen mit einer Pres­se­mit­tei­lung oder einem Inter­view und mokiert sich über Locker­hei­ten. Der Arti­kel besteht selbst aller­dings zu unge­fähr 60 % aus Zita­ten aus dem Twit­ter-Feed. Im Teaser zum Arti­kel heißt es „Man­che rei­fe­re Genos­sen sind pein­lich berührt.“ – ich sehe die pein­li­che Berührt­heit eigent­lich eher bei man­chen Jour­na­lis­ten. Und schlie­ße mich Wolf­gang Lünen­bür­ger an, der das gan­ze als posi­ti­ven Schritt in Rich­tung „PR 2.0« bewertet. 

So kann Poli­tik im Netz auch aus­se­hen – wich­tig ist es dann aller­dings, die­se Ansprü­che auch über den Tag hin­aus auf­recht zu erhal­ten. Bleibt also die Fra­ge, was mit dem Twit­ter-Account hubertus_heil pas­siert, wenn der Par­tei­tag der US-Demo­kra­ten vor­bei ist – und ob der locke­re, inter­ak­ti­ve Stil auch bei­be­hal­ten wird, wenn es ans Ein­ge­mach­te geht (also z.B. beim Twit­tern von einem SPD-Par­tei­tag nach einer ver­lo­re­nen Land­tags­wahl). Ich bin gespannt.

War­um blog­ge ich das? Weil ich es inter­es­sant fin­de, wie ande­re Par­tei­en mit der netz­ba­sier­ten Direkt­kom­mu­ni­ka­ti­on umge­hen. Dani­el Mou­rat­i­dis (Lan­des­vor­sit­zen­der der baden-würt­tem­ber­gi­schen) Grü­nen twit­tert z.B. neu­er­dings auch, eben­so die Par­tei selbst. Und weil ich den­ke, dass die­se ers­ten Ver­su­che mit dazu bei­tra­gen, den „Stil“ poli­ti­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on im Web 2.0 zu defi­nie­ren und des­we­gen umso wich­ti­ger sind.

Update: Das The­ma scheint die Blog-Welt in Auf­ruhr zu ver­set­zen. Zurecht ver­mut­lich. Eine sehr knap­pe Zusam­men­fas­sung von allem, was dazu gesagt wer­den muss, fin­det sich bei Hen­ning (unge­fähr fünf kur­ze Sät­ze), eini­ge sehr hilf­rei­che Über­le­gun­gen bei Chris­toph Bie­ber, dem poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Inter­net-und-Poli­tik-Exper­ten: „Ja, lie­be Jour­na­lis­ten, was denn nun? Seri­ös, infor­ma­tiv und lang­wei­lig oder schnell, unfer­tig und experimentell?“

Update 2: Kur­zer Hin­weis auf die Bericht­erstat­tung in der taz, deut­lich netz­af­fi­ner und aus­ge­wo­ge­ner als SpOn.

Update 3: (29.8.2008) Heu­te mor­gen dann rich­tig über­rascht: Huber­tus Heil (SPD) und Rein­hard Büti­ko­fer (Grü­ne) twit­tern nicht nur par­al­lel aus Den­ver, son­dern reagie­ren auf­ein­an­der – Ad-Hoc-Ele­fan­ten­run­de oder so (von unten her zu lesen)…

Huber­tus Heil: @Die_Gruenen .… Es lohnt sich auch fuer uns in deutsch­land dafuer zu kaemp­fen. unge­fähr 4 Stun­den ago from Twit­ter­Ber­ry in rep­ly to Die_Gruenen 

Huber­tus Heil: @Die_Gruenen Rich­tig! in zehn jah­ren unab­haen­gi­ger (!) vom oel zu wer­den ist ein man-to-the-moon-pro­jekt.… unge­fähr 4 Stun­den ago from Twit­ter­Ber­ry in rep­ly to Die_Gruenen 

Bündnis90/Die Grü­nen: @hubertus_heil Wer das Ziel anzwei­felt, wird sich wun­dern! Das wird wie bei Ken­ne­dy und dem Flug zum Mond # Büti­ko­fer unge­fähr 4 Stun­den ago from web in rep­ly to hubertus_heil 

Huber­tus Heil: Er will die usa wirk­lich inner­halb von 10 jah­ren unab­hae­nig vom oel aus dem mitt­le­ren osten machen. Good. And good luck. Ist das moeg­lich? unge­fähr 5 Stun­den ago from TwitterBerry 

Windkraft und tote Fledermäuse (Update: BZ)

Baden-Würt­tem­berg ist in Bezug auf Wind­ener­gie sehr weit hin­ten­dran. So wur­den rund um Frei­burg gera­de ein­mal zwei Stand­or­te für Wind­kraft­an­la­gen geneh­migt – drei Räder am Schau­ins­land und vier auf dem Roß­kopf. Letz­te­re gerie­ten vor eini­gen Jah­ren hef­tig in die Debat­te, weil dort rela­tiv vie­le tote Fle­der­mäu­se gefun­den wur­den – die dann von Wind­kraft­geg­ne­rIn­nen schnell als Motiv für einen Gene­ral­ver­dacht ver­wen­det wur­den (wei­te­re: „Lärm“, „Land­schafts­ver­schan­de­lung“ und „Vogel­tod“). Ent­spre­chend genervt klingt die dama­li­ge Pres­se­mit­tei­lung des BUND; in der Pres­se ging es bis hin zum Ver­dacht, dass da jemand absicht­lich tote Fle­der­mäu­se unter die Roß­kopf-Roto­ren legt, um der Wind­kraft zu schaden. 

Wind power
Die vier Wind­rä­der auf dem Roßkopf

Jetzt gibt es eine Stu­die in einem bio­lo­gi­schen Fach­ma­ga­zin (SpOn berich­tet), der zufol­ge es weni­ger Zusam­men­stö­ße zwi­schen Rotor und Fle­der­maus sind, die die­se umbrin­gen, son­dern viel­mehr inne­re Ver­let­zun­gen auf­grund des sich am dre­hen­den Wind­rad schnell ver­än­dern­den Luft­drucks. Das klingt ziem­lich plau­si­bel – und ist inso­fern auch eine gute Nach­richt für Freun­de rege­ne­ra­ti­ver Ener­gien, als damit eine Ursa­chen­be­kämp­fung mög­lich ist. 

Statt also Wind­rä­der pau­schal zu ver­ur­tei­len, las­sen sich mit Unter­su­chun­gen wie die­ser sach­ge­rech­te Kri­te­ri­en für Stand­or­te und Ein­satz­fak­to­ren ent­wi­ckeln. Dazu muss dann aller­dings auch die – in Baden-Würt­tem­berg lei­der bis­her nicht gege­be­ne – prin­zi­pi­el­le Bereit­schaft da sein, Wind­ener­gie auch tat­säch­lich ein­zu­set­zen und zu fördern. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich es scha­de fin­de, dass ratio­na­le Argu­men­te schnell miss­braucht wer­den. Der oben ver­link­te Spie­gel-Arti­kel, in dem aus der Ursa­chen­er­klä­rung, war­um Wind­kraft­an­la­gen für Fle­der­mäu­se gefähr­lich sein kön­nen, gleich glo­ba­le Öko­sys­tem-Bedro­hun­gen her­bei­zi­tiert wer­den, ist dafür eben­so ein Bei­spiel wie das Auf­tre­ten man­cher Lob­by­is­tIn­nen für erneu­er­ba­re Ener­gien, die hin­ter jedem Gegen­ar­gu­ment gleich eine Indus­trie­ver­schwö­rung sehen. Nach­hal­tig und kon­struk­tiv ist bei­des nicht.

Update: (27.8.2008) Der Voll­stän­dig­keit hier noch der Link auf den gest­ri­gen BZ-Arti­kel, net­ter­wei­se im Voll­text auch für Nicht-Abon­nen­tIn­nen abrufbar.