Beim Bundeswahlleiter gibt es einen Countdown – demnach sind es heute noch 38 Tage bis zur Bundestagswahl. Der Wahlkampf nimmt allmählich Fahrt auf. Plakate hängen, die Wahlbenachrichtigungen werden verteilt, und die Spitzenkandidat*innen touren durch die Republik.
Es lässt sich darüber streiten, welchen Beitrag die Flutkatastrophe, Corona samt Delta-Welle und jetzt das offensichtliche Unvermögen der Bundesregierung, die mit einem Truppenabzug aus Afghanistan verbundenen Folgen richtig einzuschätzen haben werden – zumindest haben sie dazu beigetragen, dass thematische Auseinandersetzungen jetzt die Agenda dominieren.
Gleichzeitig ist die Wahl so offen wie wohl selten zu vor. Das Bild oben zeigt den Verlauf der Umfragen für das letzte halbe Jahr (siehe auch diesen Beitrag aus dem Mai). Die aktuellen Umfrageergebnisse lassen sich so deuten, dass wir es im Herbst mit drei großen Fraktionen (die jeweils etwa 20 Prozent der Stimmen +/- 2,5 Prozentpunkte bekommen haben) und drei kleineren Fraktionen (mit jeweils etwa 10 Prozent +/- 2,5 Prozentpunkte) zu tun haben werden. Weitere rund 10 Prozent der Stimmen werden auf Kleinstparteien entfallen, die aller Voraussicht nach nicht im Bundestag vertreten sein werden.
Das heißt andersherum: aktuell haben alle drei Kanzlerkandidat*innen noch echte Chancen, Kanzler*in zu werden. Das hängt bekanntermaßen nicht davon ab, wer Sieger*in in Beliebtheitsumfragen wird oder wer als erster durchs Ziel geht, sondern einzig und alleine davon, wer es schafft, auf Grundlage des Wahlergebnisses eine Koalition auf die Beine zu stellen, die mehr als die Hälfte der Sitze im Bundestag hinter sich bringt und diejenige Person dann zum Kanzler oder zur Kanzlerin wählt.
Annalena Baerbock und Armin Laschet haben dabei die Achterbahnfahrt bereits hinter sich – Olaf Scholz galt lange als chancenloser Dritter, wittert jetzt aber seine Möglichkeit, in einer Ampelkoalition oder gar mit rot-grün Kanzler zu werden. Das ist natürlich eine interessante Geschichte, die jetzt fleißig erzählt wird. Ob er in einem Monat noch so glänzt, wie das jetzt der Fall ist, werden wir dann sehen. Als Vizekanzler einer eher orientierungslosen Bundesregierung, als jemand, der große Erinnerungslücken in Sachen Wirecard hat, und als einer, der Klimaschutz bisher praktisch nicht so wichtig fand, bietet Olaf Scholz jedenfalls genügend Stoff, um auch hier nach der Berg- noch eine mediale Talfahrt folgen zu lassen.
Gleichzeitig beginnt in Kürze die Briefwahl, die diesmal sicherlich wichtiger werden wird als 2017. Insofern werden die ersten Stimmen bald abgegeben.
Noch ist vieles offen. Und mehr denn je kommt es auf jede Stimme an. Bei den Direktmandaten entscheidet sich, ob es einen komplett aufgeblähten Bundestag geben wird, oder ob Direktmandate und Anteil am Wahlergebnis für CDU/CSU, GRÜNE und SPD etwa ausgeglichen sein werden. Und bei den Zweitstimmen werden es am Schluss, wenn sich nicht noch gravierend etwas ändert, wenige Prozentpunkte sein, die darüber entscheiden, wer Kanzler*in wird. Wer jetzt eine der zwei Dutzend Kleinparteien wählt, ist an dieser Entscheidung nicht beteiligt. Wer eine Kanzlerin Annalena Baerbock und grüne Richtlinienkompetenz in der nächsten Bundesregierung haben möchte, muss (außerhalb des leider vermurksten Saarlands) grün wählen. Wer glaubt, dass Scholz oder gar Laschet das besser können, muss SPD oder CDU wählen.
Ob die FDP in eine Ampelkoalition gehen wird, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt als unsicher. Und ebenso ist die Regierungstauglichkeit und Regierungswilligkeit der LINKEN höchst fragwürdig. 2011 in Baden-Württemberg reichten 24,2 bzw. 23,1 Prozent für die erste grün-rote Koalition. Vor einem halben Jahr hätte ich das für völlig unwahrscheinlich gehalten, inzwischen kann ich es mir aber vorstellen, dass GRÜNE und SPD zusammen die rund 47, 48 Prozent auf die Beine stellen, die für eine solche Koalition notwendig wären – aus meiner Sicht natürlich zehn Jahre nach Baden-Württemberg 2011 mit grün vorne, und damit mit einer klar auf Klimaschutz und humanitäre Außenpolitik fokussierten Kanzlerin.