Zum Aiwanger-Flugblatt

Lan­ge wirk­te es so, als sei­en die Aiwan­ger-Frei­en-Wäh­ler in Bay­ern nur so eine Art CSU neben der CSU. Kein Wun­der, dass Mar­kus Söder mit denen koaliert. In den letz­ten Mona­ten ist der bay­ri­sche Vize­mi­nis­ter­prä­si­dent Hubert Aiwan­ger immer wie­der durch weit nach rechts­au­ßen offe­ne Äuße­run­gen auf­ge­fal­len. Sei es bei Drauf­hau­en auf Bünd­nis 90/Die Grü­nen, sei es mit Bemer­kun­gen wie „uns unse­re Demo­kra­tie wiederholen“. 

Seit vor­ges­tern gibt es nun hef­ti­ge Debat­ten um ein extrem anti­se­mi­ti­sches Flug­blatt, dass in Aiwan­gers Schul­zeit in den 1980er Jah­ren in sei­nem Schul­ran­zen gefun­den wur­de, und von dem er jetzt behaup­tet, dass sein älte­rer Bru­der es ver­fasst hat. Was nicht unbe­dingt erklärt, war­um es in sei­nem Schul­ran­zen war, und war­um er – also der Vize-MP-Aiwan­ger, nicht der Waf­fen­han­del-Aiwan­ger – dafür an der Schu­le dis­zi­pli­na­risch bestraft wur­de. Die Süd­deut­sche Zei­tung berich­tet aber nicht nur über das Flug­blatt, son­dern auch über Hit­ler-Ver­eh­rung. Im Netz kur­siert auch ein Bild, auf dem das sehr sicht­bar wird.

Unab­hän­gig davon, ob der Aiwan­ger Hubert das Flug­blatt ver­fasst hat oder nicht – ganz offen­sicht­lich war es etwas, das an sei­ne poli­ti­sche Hal­tung als Jugend­li­cher anschluss­fä­hig war. (Und mich wür­de ja auch inter­es­sie­ren, ob das im Eltern­haus, am Wohn­ort (Rot­ten­burg an der Laaber, knapp 9000 Ew.) bekannt, gedul­det oder viel­leicht sogar erwünscht war …).

Die span­nen­de Fra­ge ist jetzt: Gab es von den 1980ern bis heu­te eine Ent­wick­lung beim baye­ri­schen Vize-MP? Oder tickt der im Grun­de immer noch so, ver­steckt das nur bes­ser? Das, was er bis­her dazu gesagt hat, klingt nicht nach Ent­wick­lung, son­dern nur nach eil­fer­ti­gem Ent­schul­di­gungs­ver­such im Sin­ne von Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on. Das heißt, sofern da jetzt nicht noch mehr folgt: Wir müs­sen uns Hubert Aiwan­ger als einen Men­schen vor­stel­len, der in sei­ner Jugend Hit­ler toll fand – und heu­te immer noch ganz rechts­au­ßen steht.

Auf den ers­ten Blick sieht es nun so aus, dass Mar­kus Söder im baye­ri­schen Wahl­kampf damit ein mas­si­ves Pro­blem hat. 

Er hat schon ange­kün­digt, Auf­klä­rung ein­zu­for­dern. Reicht ihm das Schie­ben auf den Bru­der, die halb­ga­re Ent­schul­di­gung? Oder zieht er Kon­se­quen­zen? Letzt­lich müss­ten die hei­ßen, die Koali­ti­on mit den Frei­en Wäh­lern in Bay­ern auf­zu­kün­di­gen, und wich­ti­ger noch: sie im Okto­ber nicht erneut ein­zu­ge­hen. Das wäre konsequent.

Wet­ten wür­de ich dar­auf aber nicht. Aus zwei Grün­den. Ers­tens, weil Söder ja in sei­ner bis­he­ri­gen poli­ti­schen Lauf­bahn schon durch eine extre­me Wen­de­hals­fä­hig­keit auf­ge­fal­len ist, und auch durch die Fähig­keit, irgend­was zu for­dern, zu behaup­ten, anzu­kün­di­gen und es dann schlicht nicht zu machen. 

Und zwei­tens: die CSU war unter Strauß die Par­tei, die nichts rechts von sich dul­de­te. Mög­li­cher­wei­se sind sich CSU und FW ideo­lo­gisch doch näher, als es auf den ers­ten Blick aus­sieht. Und wer in Bay­ern ganz rechts wäh­len möch­te, muss sei­ne Stim­me nicht der AfD geben, son­dern darf die Frei­en Wäh­ler stär­ken, die dann mit der CSU wei­ter­ma­chen dür­fen. Wie sie als maß­geb­lich durch Aiwan­ger gepräg­te Par­tei ticken, ist jetzt klar.

Inso­fern bin ich mir gar nicht so sicher, ob das Auf­de­cken die­ses Flug­blatts im Bay­ern-Wahl­kampf wirk­lich hilft – oder ob es nicht letzt­lich igno­riert und weg­ver­dampft wird (von Söder), und heim­lich gewert­schätzt wird (von den Wähler*innen ganz rechts) – mit der Fol­ge, dass die jet­zi­ge Koali­ti­on am Schluss gestärkt dasteht. 

Ein Gedanke zur politischen Geografie

Fried­rich Merz sprach davon, dass die Uni­on eine „Alter­na­ti­ve für Deutsch­land mit Sub­stanz“ sei – ein wei­te­rer Schritt auf dem Weg von CDU und CSU zurück nach rechts; die Ablö­sung des Gene­ral­se­kre­tärs durch einen Hard­li­ner und die Erklä­rung, dass Grü­ne der Haupt­geg­ner sei­en, gehö­ren eben­falls zu die­ser Geschich­te. Eben­so wie der Vor­schlag von Thors­ten Frei, das Asyl­recht abzu­schaf­fen; rechts-offe­ne Aus­sa­gen der säch­si­schen CDU und erst recht der Söder-Popu­lis­mus-Plus-Wahl­kampf in Bay­ern. Ich schrei­be bewusst „zurück nach rechts“. Mei­ne Jugend­zeit fällt mehr oder weni­ger mit Kohls „geis­tig-mora­li­scher Wen­de“ zusam­men, und ein bay­ri­scher CSU-Poli­ti­ker namens Franz-Josef Strauß ist mir noch gut mit dem Spruch erin­ner­lich, dass rechts von der CSU nur die Wand kom­men dür­fe. „Kin­der statt Inder“ war ein Wahl­kampf­slo­gan (2000), und die Asyl­rechts­ver­schär­fun­gen in den 1990er Jah­ren wür­de ich ursäch­lich eben­so auf das Kon­to der CDU/CSU schreiben.

Also: die Uni­on bewegt sich nach rechts. In der übli­chen poli­ti­schen Geo­gra­fie aus „links“, „Mit­te“ und „rechts“ wird dadurch ein Platz in der Mit­te frei. Und es mag in der aktu­el­len Lage mit bedroh­li­chen Zustim­mungs­wer­ten für die AfD etc. nach Zweck­op­ti­mis­mus klin­gen, aber ich bin über­zeugt davon, dass durch den Rück­zug der CDU aus der mit Mer­kel breit besetz­ten poli­ti­schen Mit­te sicht­bar wird, dass die­ser Ort längst besetzt ist – und zwar durch Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Und zwar nicht durch einen Rechts­ruck und die Über­nah­me popu­lis­ti­scher Posi­tio­nen, son­dern weil es eine star­ke Reso­nanz zwi­schen einem, sagen wir, pro­gres­si­ven Bür­ger­tum des 21. Jahr­hun­derts und den poli­ti­schen Hal­tun­gen mei­ner Par­tei gibt. 

Die poli­ti­sche Geo­gra­fie ist ja höchst vola­til. Es gibt allen Kom­pas­sen und Umfra­gen zum Trotz kei­ne Null­mar­ke, die eine abso­lu­te Mit­te defi­niert. Auf Ska­len von ‑5 bis +5 wer­den die Über­zeu­gun­gen und Hal­tun­gen von Bünd­nis 90/Die Grü­nen meist „links der Mit­te“ ein­sor­tiert. Und das ist auch rich­tig so. Genau­so, wie für alle außer für die Anhänger*innen der AfD klar ist, dass die­se Par­tei ganz weit rechts auf die­ser Ska­la steht. Aber ers­tens ist das poli­ti­sche Spek­trum nicht ein­di­men­sio­nal, und zwei­tens ist die Hal­tung einer Par­tei kein Punkt. 

Wie gesagt, viel­leicht mag es Zweck­op­ti­mis­mus sein, davon aus­zu­ge­hen, dass ein gro­ßer Teil der Men­schen in Deutsch­land für Wer­te des 21. Jahr­hun­derts steht – für Welt­of­fen­heit und Tole­ranz, für eine öko­lo­gi­sche Grund­fär­bung und die Ori­en­tie­rung an Nach­hal­tig­keit, für gesell­schaft­li­che Soli­da­ri­tät und für den Zusam­men­halt. Viel­leicht ist ein grö­ße­rer Teil der Bevöl­ke­rung viel ver­ängs­tig­ter, kon­ser­va­ti­ver und ins­ge­samt schlim­mer in sei­nen Ein­stel­lun­gen, als ich das ger­ne hät­te. Aber ist das die Mit­te der Gesell­schaft? Ist das die Mit­te des poli­ti­schen Spek­trums? Oder gibt es nicht doch ein Bünd­nis der Ver­nünf­ti­gen (um nicht den „Auf­stand der Anstän­di­gen“ zu zitie­ren), einen com­mon sen­se, das es gut wäre, die wirk­lich wich­ti­gen Pro­ble­me wie den Kli­ma­wan­del gemein­sam anzu­ge­hen, sich kei­ne Angst machen zu las­sen und anstän­dig und respekt­voll mit­ein­an­der umzugehen? 

Ich gehe davon aus, dass es eine Mehr­heit gibt, die so denkt – und dass die­se Mehr­heit nicht am Rand steht, son­dern sich selbst als Mit­te der Gesell­schaft sieht. Und genau da sehe ich eine gro­ße Pas­sung zur grü­nen Pro­gram­ma­tik, zu grü­nen Grund­hal­tun­gen und nicht zuletzt zum grü­nen Per­so­nal. Aktu­ell wird das über­deckt. Vie­les liegt hin­ter Nebel­ker­zen und Rauch­bom­ben, die der­zeit bewusst und in gro­ßer Zahl gewor­fen werden. 

Wenn sich der Nebel lich­tet, wird deut­lich wer­den, dass wir längst da sind, „ick bin all hier“, wie der Igel im Wett­lauf mit dem Hasen sagt. Und dazu soll­ten wir stehen. 

Kurz: Doppelspiel der CDU

Dass ich ver­wun­dert wäre, wäre jetzt auch falsch. Trotz­dem war die­se Woche eine, die mög­li­cher­wei­se typisch für die CDU/CSU der nächs­ten Jah­re ist. Auf der einen Sei­te: mun­ter mit gegen das Gebäud­en­er­gie­ge­setz schimp­fen, das nach­holt, was in den letz­ten Jah­ren nicht gemacht wur­de. Und auch wenn’s miss­glückt ist, „fair­hei­zen“ als Kam­pa­gne zu star­ten (schön, wie effek­tiv hier die grü­ne Bun­des­tags­frak­ti­on und die Bun­des­par­tei gemein­sam mit Umwelt­or­ga­ni­sa­tio­nen einen Hash­tag gedreht haben). Grü­ne in Inter­views als Ideo­lo­gen dar­stel­len, grü­nen Minister*innen jede Ver­nunft abspre­chen. Über­haupt: das mit dem Kli­ma­wan­del ist viel­leicht gar nicht so schlimm, soll­ten wir uns nicht lie­ber über Gen­der-Ster­ne auf­re­gen? Einen katho­li­schen Kin­der­gar­ten zum Hass­ob­jekt zu machen, weil den Eltern mit­ge­teilt wird, dass es kei­ne Mut­ter­tags­ge­schen­ke gibt. Und um alles zu top­pen: Ein Besuch der CSU in Flo­ri­da, bei DeS­an­tis, also Trump in radi­ka­ler und effek­ti­ver. Das ist einer, der gera­de mas­siv in die Frei­heit der Uni­ver­si­tä­ten ein­greift, der Bücher ver­bie­tet, Schul­bi­blio­the­ken leer­räumt, und LSBTTIQ nicht nur ver­ach­tet, son­dern über poli­ti­sche Maß­nah­men wie Behand­lungs­ver­bo­te aktiv bekämpft. Kuschel­part­ner der Uni­on? (Und über die AfD-nahe Tona­li­tät am Rand des Flücht­lings­gip­fels mal gar nicht geredet …). 

Auf der ande­ren Sei­te: eine gan­ze Rei­he von Minis­ter­prä­si­den­ten und ein stell­ver­tre­ten­der Minis­ter­prä­si­dent in Koali­tio­nen der CDU mit Grü­nen. Das klappt bei allen ideo­lo­gi­schen Unter­schie­den soweit ganz ok, ist jeden­falls eine rea­le und rea­lis­ti­sche poli­ti­sche Konstellation. 

Was ist jetzt das stra­te­gi­sche Ziel davon, Grü­ne im Bund zu ver­teu­feln? Ich mein, dass es irgend­wie selt­sam ist, Grü­ne abends im Bier­zelt als Aus­ge­burt der Höl­le dar­zu­stel­len, und am nächs­ten Mor­gen am Kabi­netts­tisch mit ihnen über den bes­ten Weg zur Umset­zung von Kli­ma­schutz­ge­set­zen zu strei­ten? Da ent­steht doch ein Wider­spruch, der irgend­wann viel­leicht auch Wähler*innen auf­fällt. Mag sein, dass das dahin­ter steckt, dass Merz etc. nicht ein­fach nur plan­los in die Arme der Fins­ter­nis ren­nen, weil das schein­bar rech­te Wähler*innen über­zeugt, son­dern dass sie aktiv aus­schlie­ßen wol­len, bei den nächs­ten Wah­len über Koali­tio­nen mit Bünd­nis 90/Die Grü­nen auch nur nach­den­ken zu müs­sen. Zie­le wäre dann ent­we­der – Modell Ber­lin – eine Koali­ti­on mit einer wil­li­gen SPD, oder, um noch wei­ter in die Ver­gan­gen­heit zu gehen, eine CDU-SPD-FDP-Koali­ti­on als Koali­ti­on der ganz alten Bun­des­re­pu­blik. Denk­bar – aber da will ich nichts unter­stel­len – wäre rech­ne­risch natür­lich auch eine Öff­nung zur AfD. Öster­rei­chi­sche Ver­hält­nis­se? Oder gar Ungarn als Vor­bild? Ich hof­fe doch nicht. 

Kurz: Demokratie und die Union

Das Wahl­pro­gramm von CDU und CSU wur­de ges­tern vor­ge­stellt – und von den Vor­stän­den der Uni­ons­par­tei­en beschlos­sen. Letz­te­res klingt selt­sam, auch die Wiki­pe­dia weiß, dass Wahl­pro­gram­me in der Regel von Par­tei­ta­gen oder Dele­gier­ten­kon­fe­ren­zen ver­ab­schie­det wer­den. Und bei CDU uns CSU macht’s der Vor­stand. Das Pro­gramm (das übri­gens schon vor Ver­öf­fent­li­chung durch den Fak­ten­check flog und den CDU-CSU-Mit­glie­dern von der SPD zur Ver­fü­gung gestellt wur­de) ent­hält vie­le Wahl­ver­spre­chen, aber wohl wenig, was Ange­la Mer­kel wirk­lich umset­zen will. So ganz klar ist das alles nicht. Und ob ein CDU-Par­tei­tag das so durch­ge­hen hät­te las­sen, mit eini­gen durch­aus moder­nen Abschnit­ten – wer weiß.

Aber: War da nicht was mit der Pflicht zur inner­par­tei­li­chen Wil­lens­bil­dung im Par­tei­en­gesetz? Wie die inner­par­tei­li­che Wil­lens­bil­dung in einer Par­tei for­mal statt­zu­fin­den hat, wird zwar im Par­tei­en­gesetz beschrie­ben (§§ 9 und 15), aller­dings letzt­lich doch recht knapp – ver­gli­chen etwa mit den umfang­rei­chen Aus­füh­run­gen zu Buch­hal­tung, Spen­den und Rechen­schafts­pflich­ten (§§ 18 bis 31a). Min­der­hei­ten in der Par­tei sol­len sich betei­li­gen kön­nen, und für Sat­zung und Pro­gramm gibt es strik­te Vorgaben. 

Pro­gramm? Ja – aller­dings meint das Par­tei­en­gesetz damit das „Par­tei­pro­gramm“, d.h. die all­ge­mei­nen poli­ti­schen Grund­sät­ze. Das grü­ne Grund­satz­pro­gramm bei­spiels­wei­se ist von 2002. Nur eine Min­der­heit dürf­te es ken­nen, obwohl der Bun­des­wahl­lei­ter alle Par­tei­pro­gram­me sam­melt. Wahl­ent­schei­dend – und Grund­la­ge z.B. von Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen – dürf­te eher als die Par­tei­pro­gram­me das jewei­li­ge Wahl­pro­gramm sein. Aber das taucht for­mal im Par­tei­en­gesetz über­haupt nicht auf. For­mal sind CDU und CSU also wohl völ­lig im Recht, wenn das Wahl­pro­gramm im Vor­stand beschlos­sen wird und Mit­glie­der kei­ne Chan­ce haben, Ände­rungs­an­trä­ge dazu zu stel­len. Ein gutes Licht auf die demo­kra­ti­sche Ver­fasst­heit der Uni­on wirft es den­noch nicht. 

Viel­leicht wäre es an der Zeit, das Par­tei­en­gesetz an die­sem Punkt zu über­ar­bei­ten. Der Wahl­akt ist zen­tral, und nicht zuletzt ist die Auf­stel­lung von Kan­di­da­tin­nen im Par­tei­en­gesetz gere­gelt. Da müss­te es eigent­lich logisch sein, äqui­va­lent dazu auch Rege­lun­gen dazu zu fin­den, wie ein kurz- bis mit­tel­fris­ti­ges Wahl­pro­gramm zustan­de kommt – und was pas­siert, wenn eine Par­tei es nicht für nötig hält, einem Par­tei­tag (geschwei­ge denn allen Mit­glie­dern …) die Chan­ce zu geben, an der Erstel­lung des Wahl­pro­gramms mitzuwirken.