Smarte Parteien? Um welches Problem geht es eigentlich?

Convention tools

In den Reve­la­ti­on-Space-Büchern des Sci­ence-Fic­tion-Autors Alas­ta­ir Rey­nolds tau­chen am Ran­de die „Demar­chists“ auf – eine Grup­pe von Men­schen, die das Ide­al direk­ter Demo­kra­tie ver­wirk­licht haben: Ein Implan­tat im Kopf legt jedem und jeder stän­dig Ent­schei­dun­gen zur Abstim­mung vor. Demo­gra­phie und Demo­kra­tie gehen inein­an­der über, der Wil­le des Vol­kes ist die stän­dig aktua­li­sier­te Sum­me des Wil­lens der Ein­zel­nen. Deli­be­ra­ti­on fin­det dage­gen, soweit das die­ser Fik­ti­on zu ent­neh­men ist, eher nicht statt. Aber, einem Sci­ence-Fic­tion-Buch ist das ange­mes­sen, eigent­lich erfah­ren wir auch nur etwas über das „Tool“ und wenig dar­über, wie die Prak­ti­ken, Pro­zes­se und Ver­fah­ren aus­se­hen, die die­se auf die Spit­ze getrie­be­ne Form direk­ter Demo­kra­tie so mit sich bringt.

Viel­leicht ist es die­ser Fokus auf die „Tools“, der mich bei eini­gen aktu­el­len Debat­ten an die­se Bücher den­ken ließ. Auch nach dem weit­ge­hen­den Schei­tern der – soweit das aus Außen­per­spek­ti­ve fest­zu­stel­len ist – sehr stark „tool“-zentrierten Liquid-Demo­cra­cy-Debat­ten der Pira­ten­par­tei bleibt der Ruf nach der „Smart Par­ty“ (Scho­ber et al. 2015) viru­lent. Fast drängt sich der Ein­druck auf, dass ver­zwei­felt am Glau­ben dar­an fest­ge­hal­ten wird, dass die­ser Netz­werk­tech­nik doch ein demo­kra­ti­sches Heils­ver­spre­chen zu ent­lo­cken sein muss. Jeden­falls wird nach wie vor dar­über gespro­chen, dass Par­tei­en bes­ser, schö­ner, effi­zi­en­ter und betei­li­gungs­ori­en­tier­ter wer­den könn­ten, wenn sie denn nur die rich­ti­ge Tech­nik ein­setz­ten. Bis­her haben die­se Ansät­ze den Rea­li­täts­test nicht bestan­den. Das liegt – behaup­te ich – nicht am feh­len­den Wil­len der Par­tei­en, son­dern schlicht dar­an, dass die glit­zern­den „Tools“ und die zu lösen­den Pro­ble­me nicht zuein­an­der passen.
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Unser Innenminister!

Vor ein paar Tagen erschien ein Arti­kel von Ulrich Schul­te in der taz, in dem er sich unter der Über­schrift „Ein Poli­ti­kum auf 140 Zei­chen“ damit aus­ein­an­der­setzt, was pas­sier­te, nach­dem Jörg Rupp einen inhalt­lich und sprach­lich dane­ben lie­gen­den Kom­men­tar zur Ham­burg-Wahl get­wit­tert hat­te. Ich will hier kei­ne Debat­te über Mücken und Ele­fan­ten anfan­gen, son­dern sage nur, dass die 15 Minu­ten des Ruh­mes für Jörg inzwi­schen vor­bei sind. Aber er ist ja nicht der ein­zi­ge, der Twit­ter für poli­ti­sche Kom­men­ta­re nutzt. 

Auch SPD-Innen­mi­nis­ter Rein­hold Gall tut das manch­mal:

Reinhold Gall: Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.

Hier bin ich gespannt, was wei­ter pas­siert. Wolf­gang Lue­nen­buer­ger-Rei­den­bach bei­spiels­wei­se for­dert Galls Rück­tritt. Auch der SWR berich­tet bereits über den Tweet. Neben vie­len ande­ren nimmt auch Claus von Wag­ner („Die Anstalt“) den Tweet zum Anlass für bis­si­ge Kom­men­ta­re.

Um auch dies fest­zu­hal­ten: Dass Gall sich – wie die Mehr­heit der Dele­gier­ten des SPD-Par­tei­kon­vents, mög­li­cher­wei­se anders als die Mehr­heit der SPD-Mit­glie­der – für die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung („VDS“) aus­spricht, ist bekannt. Das auch öffent­lich zu sagen, wäre kein Skan­dal. Dass der baden-würt­tem­ber­gi­sche Koali­ti­ons­ver­trag in die­sem Punkt sehr schwam­mig ist, ist eben­falls bekannt. Der Innen­mi­nis­ter hat hier eine ande­re Auf­fas­sung, wie der Ver­trag aus­zu­le­gen ist, als bei­spiels­wei­se der grü­ne Koalitionspartner. 

Was Gall ges­tern schrieb, geht aber weit dar­über hin­aus. Und das macht den Shit­s­tor­m­aspekt die­ses Tweets aus. Zum einen legt er (im Kon­text des gest­ri­gen SPD-Par­tei­tags) nahe, dass Vor­rats­da­ten­spei­che­rung dazu bei­tra­gen könn­te, sexua­li­sier­te Gewalt gegen Kin­der auf­zu­klä­ren. Dass hier die VDS mehr Erfolg ver­spricht als her­kömm­li­che poli­zei­li­che Maß­nah­men, ist min­des­tens umstrit­ten.

Noch infa­mer ist aller­dings das Wor­ding „ver­meint­li­che Frei­heits­rech­te“. Auch das wird z.B. von netzpolitik.org auf­ge­grif­fen. Denn Gall legt damit ja nahe, dass die infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung nur ein ver­meint­li­ches, aber kein ech­tes Frei­heits­recht ist. Zuge­spitzt stellt sich damit die Fra­ge, wel­che Grund­rech­te Gall sonst noch so als „ver­meint­lich“ anse­hen wür­de, und auf wel­che er – als Innen­mi­nis­ter! – ver­zich­ten wür­de, um die Auf­klä­rungs­quo­te bei schwe­ren Ver­bre­chen zu verbessern.

Wenn die SPD meint, sich mehr­heit­lich für die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung aus­spre­chen zu müs­sen, und – war­um auch immer – in ihrer inner­par­tei­li­chen Mei­nungs­bil­dung zu die­sem Ergeb­nis kommt, dann ist das zwar bedau­er­lich und durch­aus ein Grund für Empö­rung, letzt­lich aber erst ein­mal hin­zu­neh­men. Es gibt am Wahl­tag eine gan­ze Rei­he von Alter­na­ti­ven, die eine ande­re Posi­ti­on ver­tre­ten. Wenn ein Innen­mi­nis­ter per Twit­ter einen Kon­nex zwi­schen dem Kampf für Frei­heits­rech­te und der Dul­dung von Kin­des­miss­brauch auf­macht, dann fra­ge ich mich doch, was ihn dabei gerit­ten hat. Bekann­ter­ma­ßen gehö­ren zu den Par­tei­en, die in die­ser Sache eine ande­re Posi­ti­on als die SPD ver­tre­ten, auch Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Ich wür­de ja ger­ne wis­sen, was Innen­mi­nis­ter Gall glaubt, was wir als Koali­ti­ons­part­ner der SPD in Baden-Würt­tem­berg tun, wenn wir für Bür­ger­rech­te kämpfen.

War­um blog­ge ich das? Zum einen, weil ich mich inhalt­lich der Empö­rung über die­sen Tweet durch­aus anschlie­ßen kann. Zum ande­ren aber auch, weil ich doku­men­tie­ren will, wie Twit­ter zuneh­mend als poli­ti­sches Medi­um (und damit auch als direk­ter Kanal zwi­schen poli­ti­schen Akteu­rIn­nen und den Medi­en) funktioniert.

P.S., 22.06.15: Die heu­ti­ge Ent­schul­di­gung über­zeugt nur bedingt:

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Bei der Gele­gen­heit: duden.de defi­niert „ver­meint­lich“ als „(irr­tüm­lich, fälsch­lich) ver­mu­tet, ange­nom­men; scheinbar“.

P.P.S.: Und auf Sascha Lobos wort­rei­che Wort-für-Wort-Ana­ly­se des Gall­schen Tweets muss ich nicht nur aus Voll­stän­dig­keits­grün­den auch noch verlinken.

Politik im Netz – was geht?

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Letz­ten Sams­tag fand die Jah­res­ta­gung der Hein­rich-Böll-Stif­tung Baden-Würt­tem­berg statt, die die­se freund­li­cher­wei­se dem The­ma „Poli­tik im Netz – Wie das Inter­net poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on und Kul­tur ver­än­dert“ gewid­met hat­te. Im Fol­gen­den also ein paar Streif­lich­ter aus der Kon­fe­renz. Das Publi­kum wirk­te übri­gens sehr viel weni­ger nerdig, als das The­ma es hät­te ver­mu­ten lassen.

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In eigener Sache: Keine Panik!

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Nach einem wun­der­bar son­ni­gen Sonn­tags­spa­zier­gang sehe ich mich in der Lage, der Tat­sa­che ins Auge zu bli­cken: Die­ses Blog ver­liert an Attraktivität. 

Zum einen geht die Zahl der Zugrif­fe deut­lich zurück, Flattr wirft nur noch Gro­schen ab, ähn­li­ches gilt für die VG Wort; auch die Zahl der Kom­men­ta­re sinkt rapi­de. Zum ande­ren habe ich das Gefühl, dass die The­men, zu denen ich wirk­lich inter­es­san­te Din­ge zu sagen hät­te, oft zu nah an mei­nem Job dran sind. Das führt zu einer gan­zen Gale­rie von Sche­ren im Kopf. Ein Bei­spiel: Gefühlt könn­te ich zu gro­ßen hoch­schul­po­li­ti­schen Ereig­nis­sen wie dem Hoch­schul­fi­nan­zie­rungs­ver­trag Per­spek­ti­ve 2020, der in weni­gen Tagen unter­zeich­net wird, zwar einen Arti­kel schrei­ben, in dem die damit ver­bun­de­nen Errun­gen­schaf­ten gelobt wer­den (und da gibt es in der Tat eini­ge), wür­de mich aber schwer damit tun, eine aus­ge­wo­ge­ne Ana­ly­se zu schrei­ben, in der auch kri­ti­sche Punk­te beleuch­tet wer­den. Also sage ich ten­den­zi­ell eher nichts dazu.

Gleich­zei­tig ist so ein Rück­blick am Anfang des Jah­res natür­lich auch eine gute Gele­gen­heit, noch­mal die Fra­ge zu stel­len, wer mein Blog eigent­lich liest (zum Teil weiß ich das – Ver­wand­te, Freun­de, Fol­lower, poli­tisch Nahe­ste­hen­de) und was die jewei­li­gen Erwar­tun­gen sind, und ob das Blog die­sen (noch) gerecht wird. Auch das möch­te ich hier­mit tun, nach wie vor besteht die Mög­lich­keit, Kom­men­ta­re zu hin­ter­las­sen. Und wer will, darf sich auch ger­ne per Mail oder auf ande­ren Wegen an mich wen­den. (Und ja, ich habe die­se Fra­ge vor einem hal­ben Jahr schon ein­mal gestellt – die Dis­kus­si­on dort gibt durch­aus eini­ge Hinweise). 

Damit aber zu den Details des Attrak­ti­vi­täts­rück­gangs – und aus die­sem Anlass auch zu ein paar Über­le­gun­gen zum Medi­um Blog. (Und als Bonus für alle, die kei­ne Lust auf Sta­tis­ti­ken haben: ganz am Ende des Bei­trags fin­det sich noch eine Lis­te mit Bei­trä­gen aus 2014, die ich ger­ne zum Lesen empfehle …)

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Kurz: Die Bitterkeit der Gegangenen

Die Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz in Ham­burg habe ich per Stream (paar Mal rein­ge­schaut), auf den sozia­len Medi­en, aber auch im Pres­se­spie­gel und im Radio ver­folgt. Dabei ist mir auf­ge­fal­len, dass die Bericht­erstat­tung doch sehr vom Stand­punkt der Jour­na­lis­tIn­nen abhän­gig ist. Ein und der­sel­be Par­tei­tag erscheint da ein­mal als ohn­mäch­ti­ge Suche nach dem neu­en The­ma, als lang­wei­lig, als gelun­ge­ne Zusam­men­füh­rung der Par­tei und als erfolg­rei­che Bewäh­rungs­pro­be der Par­tei­spit­ze. Ins­ge­samt, so mein Ein­druck, ein guter Par­tei­tag – mit der Agrar­wen­de haben wir uns posi­tio­niert (und Toni Hof­rei­ter sich), mit den Debat­ten um das Asyl­recht (wie schon auf der baden-würt­tem­ber­gi­schen Lan­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz mit der Aus­ein­an­der­set­zung um Win­fried Kret­sch­manns Ent­schei­dung ein Mus­ter­bei­spiel dafür, wie strit­ti­ge, emo­tio­na­le The­men ernst­haft und mit Respekt behan­delt wer­den kön­nen) und die Außen­po­li­tik gezeigt, dass wir auch vor schwie­ri­gen Fra­gen nicht zurück­schre­cken. Mehr Biss – ja, das passt. Auch wenn’s nicht immer Äpfel sein müs­sen. Anders als ande­re Par­tei­en – ich den­ke da an die Pira­ten – ste­hen Grü­ne auch dafür, in und mit der Aus­ein­an­der­set­zung zusam­men­zu­fin­den, Zusam­men­halt zu pro­du­zie­ren. Und das ist wichtig.

Inter­es­sant ist aller­dings auch, wer wel­che Arti­kel und Kom­men­ta­re teil­te und wie bewer­te­te. Boris Pal­mer zum Bei­spiel war zufrie­den – kein Wun­der; aber er lob­te dann auch die Par­tei­lin­ke für die ernst­haf­te Debat­te. Alex Bonde teil­te den Sieg Wazi­ristans. Usw. – aber ich will jetzt gar nicht die gan­ze Rie­ge der Rea­lo-Män­ner auf­zäh­len. Auf der ande­ren Sei­te, vor allem auf den Lis­ten und in den Grup­pen der grü­nen Lin­ken, wur­den eher die kri­ti­schen Berich­te her­aus­ge­zo­gen, geteilt und zustim­mend bewer­tet. Prantl in der Süd­deut­schen und so. Auch das ver­wun­dert nur bedingt.

Etwas erschro­cken, wenn auch eben­falls psy­cho­lo­gisch erklär- und erwart­bar, bin ich über die Reak­ti­on einer drit­ten Grup­pe: die, die aus­ge­tre­ten sind, oder die inner­lich kurz davor ste­hen. Das sind in mei­nem z.B. Face­book-Bekann­ten­kreis gar nicht so vie­le. Dafür mel­den die­se sich umso hef­ti­ger zu Wort. Gold­waa­ge und schlipp­ri­ge Rut­schen sind ihre Instru­men­te, jede miß­li­e­bi­ge Äuße­rung ist ein wei­te­rer, laut­stark bekun­de­ter Beweis dafür, wie schlimm es um die Par­tei steht. Das Ende naht, noch besteht, so die­se Pro­phe­tIn­nen, die Chan­ce zur Umkehr. Wo ande­re Zusam­men­halt und Gemein­sam­kei­ten sehen, wird hier nur Duck­mäu­ser­tum und Ver­rat erkannt. Die bit­te­ren Phan­tom­schmer­zen der­je­ni­gen, die gegan­gen sind, ohne anders­wo anzu­kom­men, und die denen, die sich anders ent­schie­den haben, nun kei­nen Erfolg mehr gön­nen. Pro­fes­sio­nell ist das nicht.