Entfernte Verwandte im Stadtbild

Unlängst war ich in Leut­kirch, der Hei­mat­stadt mei­nes Vaters. Beim Gang durch die Stadt sind mir eini­ge Namen auf­ge­fal­len – die (lei­der leer­ste­hen­de) Kon­di­to­rei Albrecht, Stör und Wagen­seil, das pro­mi­nent in der Markt­stra­ße ste­hen­de Spiel­wa­ren­ge­schäft Zorn. Bekannt kamen mir die­se Namen vor, weil sie auch immer wie­der auf der All­gäu­er Sei­te mei­nes eige­nen Stamm­baums vor­kom­men. Das hat mich neu­gie­rig gemacht, ob denn da eine Ver­wandt­schafts­be­zie­hung besteht. 

Kon­kret habe ich dazu geguckt, wie es mit Spiel­wa­ren Zorn aus­schaut. Um die Span­nung raus­zu­neh­men: ja, es gibt eine Bezie­hung, aber um einen gemein­sa­men Vor­fah­ren zu fin­den, muss man bis ins 17. Jahr­hun­dert zurück gehen. 

Dass es über­haupt mög­lich ist, die­se Ver­bin­dung zu fin­den, hat vor allem etwas damit zu tun, dass der Stamm­baum der Fami­lie Zorn bis Mit­te des 20. Jahr­hun­dert akri­bisch doku­men­tiert ist. Auf der Web­site der Fami­lie Lei­precht fin­den sich die Bücher zur Fami­li­en­ge­schich­te der Fami­lie Zorn aus Kemp­ten, die Rudolf Schon­ger zusam­men­ge­stellt hat. Auf rund 1500 als JPEG ein­ge­scann­ten Schreib­ma­schi­nen­sei­ten wer­den hier mit vie­len Quel­len­ab­schrie­ben und Nach­wei­sen die (männ­li­chen) Äste der Fami­lie Zorn seit dem 13. Jahr­hun­dert aus­ge­brei­tet. Auf S. 724 fin­den wir dann den 1929 gebo­re­nen Paul Zorn, bei des­sen Tan­ten Käthe und Eli­se jeweils der Hin­weis „Korb- und Spiel­wa­ren­ge­schäft Leut­kirch“ ein­ge­tra­gen ist. Auch in der Zorn-Chro­nik (S. 725) steht ein biss­chen mehr zu die­sem Geschäft und dem Haus in der Marktstraße.

Gleich­zei­tig gibt es in der Schwä­bi­schen Zei­tung anläss­lich des 175-jäh­ri­gen Bestehen des Spiel­wa­ren­ge­schäfts einen recht aus­führ­li­che Arti­kel, in dem er heu­ti­ge Inha­ber von „Spiel­wa­ren Paul Zorn“, Burk­hard Zorn, zu Wort kommt, und in dem auch die Anzei­ge eines Jakob Zorn, Drechs­ler­meis­ter, aus dem Jahr 1847 doku­men­tiert ist, in dem die­ser dafür wirbt, Pfei­fen­köp­fe, Kin­der­spiel­wa­ren u.ä. her­zu­stel­len. In der Zorn-Chro­nik dürf­te dies Jacob Chris­toph Zorn (geb. 1816) sein (eben­falls auf S. 724 zu fin­den), also der Ur-Ur-Groß­va­ter des heu­ti­gen Inha­bers des Spielwarengeschäfts. 

Um eine gemein­sa­me Ver­bin­dung zu fin­den, müs­sen wir aller­dings noch fünf wei­te­re Gene­ra­tio­nen zurück­ge­hen. Dann lan­den wir bei Bal­tha­sar Zorn (1666–1714). Nähe­res zu ihm fin­den wir ab S. 700 der Zorn-Chro­nik. Die­ser Bal­tha­sar Zorn war Bier­brau­er und „Sackpfeiffer“-Wirt in Kemp­ten; sei­ne Gerichts­ak­ten fül­len eini­ge Sei­ten der Chro­nik. Sein Sohn Johann Zorn (1691–1739) war zwi­schen­zeit­lich Wirt in Leut­kirch, ging aber spä­ter wie­der – als Wirt – nach Kemp­ten zurück. Bal­tha­sar Zorns Enkel Abra­ham Zorn (geb. 1730) blieb schließ­lich als Wirt des „Wei­ßen Och­sen“ in Leut­kirch, sein Sohn, Bal­tha­sar Zorns Ur-Enkel Chris­toph Zorn (geb. 1762) wird als Drechs­ler in Leut­kirch benannt. Auch des­sen Sohn Abra­ham Zorn (geb. 1786) führt die­ses Hand­werk fort – und gibt es an sei­nen Sohn, den bereits genann­ten Jacob Chris­toph Zorn weiter. 

Bei Bal­tha­sars Eltern, dem Kemp­te­ner Metz­ger Hans Zorn (1625–1670) und sei­ner Frau Euph­ro­si­ne, geb. Bockh (1629–1691) kom­men nun die bei­den Lini­en zusam­men. Bal­tha­sar hat einen Bru­der, den Jacob Zorn (1651–1724, Kemp­ten). Auch des­sen Kin­der gehen nach Leut­kirch (vgl. Zorn-Chro­nik, S. 448 ff.). Das war damals aller­dings gar nicht so ein­fach – sein Sohn Johan­nes Zorn (1679–1744) erhält die Bür­ger­rech­te von Leut­kirch erst, nach­dem er (im Jahr 1700) zusagt, die Leut­kir­che­rin Rosi­na Mend­ler zu hei­ra­ten. Er wird spä­ter zum Mit­glied des Gerichts und des Rates und zum Zunft­meis­ter der Cram­er­zunft. Johan­nes Zorns Enkel heißt wie­der­um Johan­nes Zorn (1731–1815), ist Nad­ler und wird zum Stadt­am­mann Leut­kirchs; des­sen Sohn, Paul Zorn (1766–1839) wird Wirt des „Röß­le“ in Leut­kirch. Die Uren­ke­lin von die­sem Paul Zorn wie­der­um ist Euph­ro­si­ne (1852–1938), die den „Rad“-Wirt Gott­lieb Fried­rich Weix­ler hei­ra­tet (mei­ne Ur-Ur-Groß­el­tern).

Da die Leut­kir­cher Hand­wer­ker­fa­mi­li­en bis ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein immer wie­der unter­ein­an­der gehei­ra­tet haben, kann es sein, dass es auch noch jün­ge­re Ver­bin­dun­gen gibt. 

Herkünfte

Small/big windmill

Mei­ne Toch­ter geht jetzt in die 6. Klas­se. Als Ein­stieg in den Geschichts­un­ter­richt konn­ten die Kin­der ihrem Stamm­baum nach­spü­ren. Dazu fer­tig­te sie mit der Unter­stüt­zung ins­be­son­de­re diver­ser Groß­el­tern ein schö­nes Pos­ter an, auf dem vier Gene­ra­tio­nen zu sehen sind – mit Ver­län­ge­rungs­mög­lich­keit nach oben, denn auch ein wei­te­res Zurück­ge­hen in die Ver­gan­gen­heit wäre mach­bar gewesen. 

Und zwar des­halb, weil mir bei ihrer Recher­che wie­der ein­ge­fal­len war, dass ich vor 25 Jah­ren – nicht im Geschichts­un­ter­richt, son­dern aus Inter­es­se – mal einem ähn­li­chen Pro­jekt nach­ge­gan­gen war. Das dazu geschrie­be­ne Tur­bo-Pas­cal-Pro­gramm fand sich zwar noch in den archi­vier­ten Archiv­da­tei­en (geht das ande­ren Leu­ten auch so, dass sie einen Ord­ner „Alter Rech­ner“ in ihrem Datei­ver­zeich­nis haben, in dem sich dann wie­der ein Ord­ner „Noch älte­res Krams“ fin­det, etc.?), es woll­te aber unter Win­dows 7 nicht mehr lau­fen, auch nicht auf einer simu­lier­ten 386er-Dos­box, jeden­falls wären dazu wohl noch diver­se Anpas­sun­gen nötig gewe­sen, zu denen mir Zeit und Muße fehl­ten. Was es aber noch gab, waren die Daten, die ich damals gesam­melt hat­te, und zwar nicht nur als Roh­da­ten, son­dern auch als lan­ge Personenliste.

Die fand dann nicht nur das Kind span­nend, son­dern auch ich. Unter ande­rem des­we­gen, weil an den Stamm­baum­da­ten sehr schön deut­lich wird, was für Mobi­li­täts­sprün­ge es in den letz­ten fünf­zig bis hun­dert Jah­ren gege­ben hat. Denn bis dahin ist das recht über­sicht­lich: auf der Sei­te mei­nes Vaters spielt sich alles im All­gäu und in der baye­risch-würt­tem­ber­gi­schen Grenz­re­gi­on – etwa in Nörd­lin­gen – ab; erst, wenn viel wei­ter zurück geschaut wird, geht es im 16. oder 17. Jahr­hun­dert dann bis Salz­burg und Zürich. Aber ganz über­wie­gend sind es Hand­wer­ker, Gene­ra­tio­nen von Leut­kir­cher Wir­ten und Brau­ern sowie Bau­ern und Bäue­rin­nen, die sich da fin­den las­sen. Alt­eing­es­sen, mit einer gerin­gen Mobi­li­tät, sowohl in räum­li­cher als auch in sozia­ler Hin­sicht. Erst mein Vater geht dann – in Tübin­gen – auf die Uni­ver­si­tät und stu­diert Chemie.

Auf der Sei­te mei­ner Mut­ter ist es eben­falls über­sicht­lich: hier spielt sich fast die gan­ze Her­kunf­s­ge­schich­te zwi­schen Nord- und Ost­see ab, teil­wei­se in Dör­fern, die heu­te kaum noch zu fin­den sind, die längst in grö­ße­ren Gemein­den auf­ge­gan­gen sind. Hier gibt es zunächst Klein­bau­ern, dann Leh­rer, Erzie­he­rin­nen, Inge­nieu­re und Kauf­leu­te in Bre­men und im Bre­mer Umland. Mei­ne Mut­ter lässt sich zur Che­mo­tech­ni­kern aus­bil­den und wagt den Schritt in den Süden.

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jah­re tref­fen mei­ne Eltern in Tübin­gen auf­ein­an­der, hei­ra­ten, grün­den eine Par­tei, bekom­men Kin­der, gehen erst nach Frank­furt und schließ­lich nach Frei­burg. Da woh­ne ich heu­te noch, wäh­rend es mei­ne Schwes­tern nach Bonn und Saar­brü­cken gezo­gen hat.

Das Mus­ter rela­tiv lan­ger Orts­an­säs­sig­keit lässt sich auch auf der müt­ter­li­chen Sei­te mei­ner Toch­ter beob­ach­ten; da fin­det sich etwa das alte sozi­al­de­mo­ka­ti­sche Bür­ger­tum in Offenburg. 

Ich bin neu­gie­rig, wie das wei­ter­geht. Heu­te ist für vie­le längst Euro­pa, wenn nicht gar der Erd­ball der Hori­zont der sozia­len Mobi­li­tät. Bleibt es dabei und ver­stärkt sich das noch – oder setzt sich eine Gegen­be­we­gung durch, wie sie sich in Hei­mat­de­bat­ten und – im euro­päi­schen Kon­text – in Sepa­ra­ti­ons­be­we­gun­gen nie­der­schlägt? Bleibt es bei der Anzie­hungs­kraft der Städ­te, oder schlägt das Pen­del hin zum länd­li­chen Raum aus? 

War­um blog­ge ich das? Viel­leicht als per­sön­li­chen Bei­trag – wo kom­me ich eigent­lich her – dazu, war­um ich es durch­aus inter­es­sant fin­de, über Hei­mat zu reden, auch in einem grü­nen Diskurs.

P.S.: Nach­dem dann alles im rich­ti­gen Ver­zeich­nis war, lief das alte Pro­gramm dann auch …