Einen Sozialkonstruktivisten sollte das eigentlich nicht überraschen. Wir leben nicht nur in Filterblasen, sondern tatsächlich in so etwas wie auseinanderdriftenden Welten. Die Synchronisationsfunktion der Massenmedien stottert, und wenn es dann doch einmal gemeinsame mediale Großereignisse gibt – wie etwa das „TV-Duell“ zwischen Merkel und Steinbrück, das wohl mehr als 17 Mio. Menschen gesehen haben -, dann wird die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten, Werte, vorherrschenden Deutungen und Wissensbestände umso sichtbarer.
Dass zwei Meinungsumfragen direkt nach dem Duell diametrale Ergebnisse hervorbringen, mag etwas mit methodischen Artefakten zu tun haben – also vielleicht damit, was genau gefragt wurde [Nachtrag, 5.9.: so ist es] – aber möglicherweise ist auch das nicht viel mehr als ein Ausdruck davon, wie unterschiedlich die verschiedenen Wahrnehmungen – und damit die verschiedenen Wirklichkeiten – sind.
Da hilft dann auch das Kretschmannwort von den harten Fakten nichts – selbst die lassen sich völlig unterschiedlich interpretieren. Das wurde nicht nur bei dem Doppelinterview von Steinbrück und Merkel deutlich, sondern auch in der heutigen Runde zwischen Gysi, Brüderle und Trittin. Wir leben gleichzeitig in einem Land, in dem es allen wunderbar geht, und das super dasteht, und in einem Land, in dem es massive Armut und eine auseinandergehende Wohlstandsschere gibt. Wir leben in einem Land, in dem die Solarenergie die Strompreise verteuert hat, und in einem Land, in dem die Bevorzugung der energieintensiven Unternehmen – und deren Herausnahme aus der Umlage – die Strompreise verteuert hat. (Ja, wir leben in einem Land, in dem Industriestrompreise sinken und Verbraucherstrompreise steigen). Wir leben in einem Land, in dem Überwachung das zentrale Problem ist, und wir leben gleichzeitig in einem Land, in dem sich niemand dafür interessiert.
Üblicherweise lässt es sich mit diesen unterschiedlichen Wirklichkeiten recht gut leben. Die „Anderen“ können, wenn sich Wege kreuzen, seltsam angeschaut werden, aber meist bleiben wir ja doch unter uns. Ganz egal, in welcher Blase, oder welcher Schnittmenge, welcher Verschachtelung von Blasen. Ein klein wenig Störung mag attraktiv erscheinen, Perturbation erhöht die Kreativität – aber im Großen und Ganzen bestätigen wir uns das, was wir schon wissen, und bestätigen uns darin, dass das, was wir wissen, richtig ist – und das es völlig selbstverständlich falsch ist, das anders zu sehen.
Nur in Zeiten des Wahlkampfs stoßen unterschiedliche Interpretationen der Welt so deutlich und so schmerzhaft aufeinander, wie das sonst nie der Fall ist. Nur in solchen Zeiten wird uns so richtig bewusst, dass wir aus Sicht der „Anderen“ diejenigen sind, die seltsamen Irrglauben nachhängen und auch noch meinen, vernünftig zu sein. Rationalität ist was feines – solange sie mit der eigenen Logik übereinstimmt.
Und ja, gemeinsam geteilte Vorannahmen machen das Leben leichter. Ohne wäre es kaum möglich, sich überhaupt zu verständigen. Umso schwieriger wird es, wenn eine Verständigung durch Seifenblasenwände hindurch erfolgen muss. Nicht von den glitzernden Farben ablenken lassen, und auch nicht davon, dass alles verzerrt ist!
Warum blogge ich das? Als Metakommentar zu den TV-Duellen und aus einer gewissen Wahlkampfverzweiflung – mit Blick auch auf Umfragewerte – heraus. Und aus einer naiven, romantischen Hoffnung, dass es doch so etwas wie eine gemeinsame Basis geben müsste, die überhaupt als Grundlage von Politik dienen könnte.