In den letzten Wochen habe ich mich in unterschiedlichen Kontexten über die Urheberrechtsdebatte informiert bzw. mich mit anderen Menschen darüber unterhalten. Dabei ist mir eine Paradoxie aufgefallen, die ich die Scheinriesenparadoxie nennen möchte. Ein Scheinriese – als Referenz wäre Michael Ende heranzuziehen – ist ein Mensch, der in der Nähe normal groß erscheint, aber umso größer wirkt, je weiter weg. Am Horizont ist der Scheinriese dann tatsächlich riesenhaft und gewaltig – ein Phänomen, dass er mit vielen Problemen teilt.
Aber ich schweife ab. Was ich mit dem Scheinriesenparadox meine, ist folgendes. Abstrakt sind so gut wie alle KünstlerInnen erst einmal vehemente VerfechterInnen der Haltung, dass ja nichts am Urheberrecht geändert werden darf. Wird es konkreter, näher, kleiner, schrumpft diese absolute Ablehnung, und zwar ganz gewaltig. Schulhofkopien, nicht ganz legale Reproduktionen, die Weitergabe von Texten – all das wird, im kleineren sozialen Kontext zu Ereignissen, die zwischen „sind halt Jugendliche“ und „leben und leben lassen“ bewertet werden. Solche KünstlerInnen können dann gleichzeitig für eine Verschärfung des Urheberrechts, aber einen weitgehenden Verzicht auf seine Durchsetzung sein. Oder sie trennen zwischen ihrer ganz persönlichen liberalen Haltung und dem bösen Konzern, der die Abmahnungen und take-down-Hinweise verschickt. Oder in einer etwas anderen Wendung, selbst von Verwerterseite: Die vielen harten Regelungen im Urheberrecht müssten erhalten bleiben, um gegen kommerzielle Plattformen für illegale Vervielfältigungen vorgehen zu bleiben – aber sei doch klar, dass niemand diese nutzen würde, um Schulkinder oder RentnerInnen in Bedrängnis zu bringen.
Kurz: Irgendwo macht es in den Köpfen Klick, und es wird umgeschaltet zwischen dem liberalen sozialen Nahraum, in dem soziale Praktiken wichtiger sind als das abstrakt irgendwie wichtige Urheberrecht, und dem sozialen Fernraum, in dem nach der vollen Härte des Gesetzes gerufen wird. Die am Horizont so überwältigend aussehende harte Linie rückt sich in der Nähe auf menschliches Maß zurecht. Aber dieses Klick bleibt ein Problem.