Wow! Knapp 250.000 Menschen sind echt ziemlich viele. #unteilbar hat es geschafft, die auf die Straße zu bringen. Oder, wie die ZEIT titelt: die Sammlungsbewegung ist da. Keine Retortengeburt a la „aufstehen“ des nationalen Flügels der Linkspartei, sondern eine Bewegung, die sich aus verdammt vielen Quellen speist. #unteilbar, für Solidarität und gegen Ausgrenzung, gegen den Versuch, Geflüchtete gegen Arme, Migrant*innen gegen Queers auszuspielen.
Kurz: Kategorienfehler
In den letzten Tagen ist oft von Auseinandersetzungen zwischen Links und Rechts zu lesen. Das suggeriert eine in Links – Mitte – Rechts aufgeteilte Gesellschaft, mit einer Mitte, die dieses ganze Theater gar nichts angeht. Das ist aber ein krasser Kategorienfehler. 80 Prozent der Menschen in Deutschland stehen zum Grundgesetz und zu einer Werthaltung, die nicht wörtlich im Grundgesetz steht, die aber viel mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Dazu gehört eine besondere weltpolitische Verantwortung Deutschlands, dazu gehört der Wert der Solidarität, und dazu gehört es auch, Menschen, die verfolgt werden, Schutz zu bieten. Wenn der Begriff nicht so kaputt wäre, könnte diese Werthaltung auch als Leitkultur bezeichnet werden.
Eine kleine, radikale Minderheit versucht, diesen Konsens zu zerstören. Weil diese kleine, radikale Minderheit dafür keine Mehrheiten hat, greift sie zum Baukasten der Propaganda. Sie stilisiert sich selbst als Opfer. Sie behauptet, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen. Sie versucht, ihre Position als normal darzustellen. Sie sucht Anlässe, um ihre Ideologie medial wirksam ausbreiten zu können. Chemnitz ist nur ein Beispiel für dieses Vorgehen. Diskurse, Wahrheit, Fakten – das ist dieser kleinen, radikalen Minderheit egal. Ihr Ziel ist der Bruch mit der historischen Verantwortung Deutschlands. Wenn diese kleine, radikale Minderheit vom Systemwechsel spricht, dann greift sie damit Demokratie, Pressefreiheit und Toleranz an.
Das fiese an dieser Situation ist, dass diese Strategie des Rechtsrucks zu verfangen scheint. Der Verfassungsschutz wird seiner Aufgabe nicht gerecht. Der Opfer-Diskurs scheint für Menschen anschlußfähig zu sein, die sich selbst als Opfer der gesellschaftlichen Entwicklung sehen. Medien orientieren sich an Ausgewogenheit und an Neuigkeitswerten und präsentieren die Positionen dieser kleinen, radikalen Minderheit als „die eine Seite“, der „die andere Seite“ gegenüber gesetzt werden muss. Soziale Medien katalysieren alles, was Aufmerksamkeit erregt, und hetzen damit die Stimmung an. Und manchen Propagandist*innen aus der großen Mehrheit scheint es ganz recht zu sein, mit dem rechten Feuer zu spielen, in der Hoffnung, selbst davon zu profitieren. Wir haben ein Problem. Daher mache ich mir Sorgen um den historischen Konsens in diesem Land – und hoffe, dass eine Bewegung wie #wirsindmehr einen Beitrag dazu leistet, Solidarität, Freiheit, Demokratie und Verantwortung als unsere Werthaltung zu schützen.
Ein Dossier zum Ende der Freiburger Linie, und ein paar Fragen zur Forschungsfreiheit im Sicherheitsstaat (Update 6: offene Briefe zum Fall Andrej H.)
Eindrücke, wonach eine vermeintliche „Freiburger Linie“ nicht mehr eingehalten werde, polizeiliche Verhaltensweisen sich geändert haben oder durch Wechsel von Führungspersonen nicht mehr Anwendung finden, sind subjektive Eindrücke.
So steht’s in einer Pressevorlage der Freiburger Polizei. Ich glaube derzeit eher den subjektiven Eindrücken, und bin da auch nicht der einzige. Mit dem neuen Polizeichef Amann hat sich ganz klar etwas verändert. Was, lässt sich zum Beispiel einem umfangreichen Dossier bei Indymedia entnehmen. Da wollte ich einfach mal drauf hinweisen.
Warum blogge ich das?
Eigentlich hatte ich nur „Andrej“ und „Stadtsoziologie“ in Google eingegeben, um herauszufinden, wer denn der im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen die angebliche militante Gruppe verhaftete Berliner Soziologe ist, der in der Presse immer nur als „Andrej H.“ bezeichnet wird. Also aus Neugierde. Die Suchmaschinentreffer ergeben dann das Bild eines engagierten, politisch sicherlich links stehenden Akademikers, der sich am Lehrstuhl von Prof Häußermann an der HU mit Gentrification, Privatisierungen und Hartz IV auseinandersetzt (wenn das inzwischen ausreicht, um des Terrorismus verdächtigt zu werden, sollte die Deutsche Gesellschaft für Soziologie mal lieber schnell ihre Mitgliederliste vernichten).
Da u.a. Spiegel Online auch auf eine Debatte bei Indymedia verwiesen, habe ich dann auch dort mal wieder reingeschaut – und zwar ein paar Solidaritätsdemoankündigungen und ‑berichte gefunden, aber nicht die große Debatte. Dafür dann das oben angesprochene Dossier zum Ende der Freiburger Linie, auf das ich hiermit hinweise. Was ich damit anfangen soll, dass die intellektuelle Fähigkeit zum Verfassen kapitalismuskritischer Analysen inzwischen ausreicht, um als Mitglied einer angeblichen terroristischen Vereinigung identifiziert zu werden, weiss ich dagegen grade noch nicht so genau. Volker Ratzmann von den Berliner Grünen sagt dazu:
Das hieße, dass zukünftig jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin, die sich im politischen Bereich und mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt, aufpassen muss, dass niemand gegen ihren Willen ihre Ausführungen zur Begründung seiner eigenen und strafrechtlich relevanten Handlungen heranzieht. Wenn sie dann vielleicht noch in Seminaren Kontakt hatten, werden sie gleich zum Bestandteil einer konstruierten terroristischen Vereinigung.
Das Zitat bringt es auf den Punkt.
Zusammengenommen zeigt beides – die Erkenntnisse, wie sehr die badische Deeskalation an einer Person hing, und die Tatsache, dass der Staat mal eben wieder Methoden aus den 1970er Jahren ins Spiel bringt – wie schwierig es ist, Freiräume des Denkens und Handelns aufrecht zu erhalten. Sich darauf zu verlassen, dass sicher geglaubte Freiheiten bestand haben, könnte fatal sein.
Update: Inzwischen gibt es laut WordPress-Statistik ironischerweise Leute, die nach „Andrej H.“ und „Soziologie“ (u.ä.) suchen – und dann hier bei einem Bericht über eine solche Suche landen. Dass es tatsächlich möglich ist, über eine derartige Suche umfangreiche Infos über Andrej H. zu finden, ist, nebenbei gesagt, ein Hinweis darauf, dass bestimmte mediale Anonymisierungsstrategien (wir nennen den „Verdächtigen“ nicht mit vollem Namen, sondern nur mit Vornamen und Initial) nicht funktionieren, wenn 1. der Vorname hinreichend selten ist, und 2. weitere Infos („Berliner Stadtsoziologe“) vorliegen, die die Menge möglicher Personen deutlich einschränken. Anders gesagt: der Versuch der Anonymisierung funktioniert in diesem Fall überhaupt nicht …
Update 2: Bei Telepolis gibt’s ein Interview mit Prof. Rainer Rilling (Uni Marburg und Rosa-Luxemburg-Stiftung) zum Fall Andrej H. und den Konsequenzen daraus.
Update 3: Rilling sitzt auch im wissenschaftlichen Beirat von Attac, der sich ebenfalls dazu äußert (via).
Update 4: (15.08.2007) Wie die ZEIT berichtet, gibt es inzwischen einen offenen Brief einer ganzen Reihe WissenschaftlerInnen, in dem die Generalbundesanwältin aufgefordert wird, die Ermittlungen gegen Andrej H. einzustellen und – meine Paraphrase – in Zukunft etwas genauer hinzusehen, statt sozialwissenschaftliche Arbeit als Verdachtsmoment zu nehmen. Unterzeichnet haben den unterstützenswerten Brief u.a. Hartmut Häußermann, Wilhelm Heitmeyer, Claus Offe, Helmuth Wiesenthal, Franz Schultheis, Michael Schumann, Susanne Frank, Wolfgang Kaschuba, Ralf Fücks (Böll-Stiftung) und 52 weitere WissenschaftlerInnen. Ich bin mir sicher, dass noch eine ganze Reihe mehr diesen Brief unterschreiben würden, wenn dafür im weiteren Kreis Unterschriften gesammelt würden. Hoffen wir, dass es was hilft.
Update 5: Der erwähnte offene Brief kann doch durch weitere Menschen unterstützt werden [via] – ich habe gerade unterschrieben (und gleich mal dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Mail mit der Frage geschickt, ob die Fachgesellschaft nicht ihre Mitglieder auf diesen Brief aufmerksam machen möchte).
Update 6: Der Fall Andrej H. zieht weitere Kreise – das Blog Kulturwissenschaftliche Technikforschung berichtet von der Tagung der American Sociological Association
Auf der Jahrestagung der American Sociology Association (Vereinigung der US-amerikanischen Soziologen, vgl. http://www.asanet.org/), wo seit Samstag rund 4.000 Sozialwissenschaftler in New York tagen, wird der Fall in mehreren Veranstaltungen diskutiert, kursieren Petitionen, insbesondere Stadtsoziologen zeigen sich sehr besorgt über die deutsche Entwicklung.
Auch ein weiterer offener Brief mit Unterstützung namhafter ausländischer WissenschaftlerInnen wird erwähnt – u.a. sind da (neben Elmar Altvater, Dieter Rucht und Roland Roth aus Deutschland) auch Mike Davis, Saskia Sassen, Richard Sennett und John Urry zu finden, um nur die bekanntesten zu nennen.