Dass die Wahlniederlage in Brandenburg ganz spurlos an der grünen Bundesspitze vorbeigehen würde, war nicht zu erwarten. Dass jetzt der ganze Vorstand – die Vorsitzenden und der Schatzmeister, die politische Geschäftsführerin und die beiden weiteren Vorstandsmitglieder – seinen Rücktritt einreicht, hat mich dann doch überrascht. Aber: es ist die richtige Reaktion zum spätestens jetzt richtigen Zeitpunkt. Und dass der Vorstand geschlossen zurücktritt, ist dann doch wieder etwas, was typisch grün ist: wir gewinnen gemeinsam, und wir verlieren gemeinsam.
Ich zolle Ricarda und Omid und allen weiteren Vorstandsmitgliedern großen Respekt für diesen Schritt. Ich bin mir sicher, dass ihnen dieser Schritt nicht leicht gefallen ist. Es ist ja immer auch ein bisschen politische Traumdeuterei, politische Probleme und Herausforderungen allein auf die Personen – hier an der Spitze der Partei – zu projizieren. Ich schätze alle Vorstandsmitglieder, und ganz besonders Ricarda und Omid. Das sind Gute!
Gleichzeitig gehört zur Größe eben auch, die Zeichen der Zeit erkennen zu können. Und die rufen lautstark nach einer Neuaufstellung, nach einer Neuerfindung. Das letzte Mal ist die Partei Anfang 2018 durch eine solche Häutung gegangen, nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen, als Robert und Annalena die Fundamente gelegt haben, die dann zur Regierungsbeteiligung 2021 geführt haben. Auch hier gilt: vielleicht war es gar nicht nur die neue Idee von „grün“, die beide verkörpert haben, vielleicht war es auch ein Zeitgeist, der grüne Ideen hochgespült und grüne Politik attraktiv erscheinen lassen hat. Dennoch hat die Neuerfindung als „Bündnispartei“ ihren Anteil daran: Grün als Projekt, das für breite Teile der Bevölkerung interessant sein kann und sich für breite Teile der Bevölkerung interessiert.
Etwas hämisch schreiben Journalist*innen davon, dass Ricarda und Omid nur einen Übergangsvorstand gebildet haben. Das springt zu kurz: sie haben mitgeholfen, die Koalition zu zimmern und sie haben die Klammer zwischen Partei und Regierung geschlossen. Das immer im Gegenwind der Unzufriedenen, mit persönlichen Anfeindungen und aus der politischen Krise heraus. Keine einfache Aufgabe. Und ob jemand anderes diese Zeit besser gestaltet und organisiert hätte – das bezweifle ich doch.
Trotzdem: es war zunehmend spürbar, dass eine neue Idee für „Grün“ gebraucht wird, die über die Verteidigung der Regierungsbeteiligung hinausgeht. Eine Idee, die darüber hinausgeht, dass wir für Klimaschutz und gegen Nazis sind, um es ganz platt zu sagen.
Der Parteitag im November in Wiesbaden bietet jetzt die Chance, gleich in dreifacher Hinsicht eine Neuerfindung hinzukriegen.
Erstens wird jetzt ein neuer Vorstand gewählt. Bisher schwirren nur Namen für die Vorsitzenden durch die politische Gerüchteküche. Ich bin gespannt, wer letztlich wirklich den Ring in den Hut werfen wird – und mit welchen Ideen eine solche Bewerbung verbunden werden wird. Potenziale sehe ich viele. Und die nächsten Wochen bieten auch Raum dafür, sich zu profilieren.
Zweitens hat Robert – ich bleibe mal bei den Vornamen – angekündigt, seine mögliche Kanzlerkandidatur offen zur Debatte zu stellen. Zwischen Merz und Scholz halte ich ihn für ein Angebot, das glänzen kann, wenn es richtig angegangen wird.
Und drittens ist dieser Parteitag – auch vor den Ankündigungen jetzt – einer, der in der politischen Aussprache die Chance bietet, den in letzter Zeit verlaufenen Kurs auszudiskutieren und klar zu ziehen. Es wäre zu kurz gedacht, das mit einer Verständigung über einen Kurswechsel in der Migrationspolitik zu verwechseln. Es geht auch um die Frage, wie viel Eigenständigkeit in der Koalition sichtbar sein soll, wie staatstragend und wie grundsatztreu wir auftreten, und wo wir mitgehen und wo wir Nein sagen. Da schwellt sehr viel, im besten Falle auch stellvertretend für zumindest ein bestimmtes Milieu – und das muss jenseits von Formelkompromissen und Regierungszwängen mal geklärt werden.
Ich bin Delegierter für den Wiesbadener Parteitag und habe nach meiner Wahl geschrieben, dass ich es mir nicht leicht gemacht habe, mich als Delegierter zur Kandidatur zu stellen – weil ich erwartete, dass dieser Parteitag einer der schwersten der grünen Geschichte wird, einer mit dem realen Risiko, dass wir uns entweder zerlegen oder einen Zustand des frustrierten Rückzugs erreichen.
An der Lage hat sich – eigentlich – nicht viel geändert. Es bleibt falsch, alles auf einzelne Personen zu projizieren, was systemisch und in einer Organisation falsch läuft. Trotzdem öffnen Rücktritt und Wahl des Vorstands ein Fenster. Ich sehe jetzt eine reelle Chance, dass dieser Parteitag im Rückblick einer sein wird, auf dem wir uns als Partei neu erfunden haben, auf dem wir knapp ein Jahr vor dem planmäßigen Bundestagswahltermin gemeinsam und selbstbewusst sagen können: das ist grün, und dafür stehen wir!
Das wäre es wert.