Im August war ich nicht nur in Schottland, sondern auch im Allgäu – die Kühe hier gehören zum Bauernhof meines Cousins. Habe kurz überlegt, ob angesichts des ergiebigen Allgäuer Regens an dem Augustwochen nicht „Aquaculture“ ein besserer Titel für das Foto gewesen wäre.
Entfernte Verwandte im Stadtbild
Unlängst war ich in Leutkirch, der Heimatstadt meines Vaters. Beim Gang durch die Stadt sind mir einige Namen aufgefallen – die (leider leerstehende) Konditorei Albrecht, Stör und Wagenseil, das prominent in der Marktstraße stehende Spielwarengeschäft Zorn. Bekannt kamen mir diese Namen vor, weil sie auch immer wieder auf der Allgäuer Seite meines eigenen Stammbaums vorkommen. Das hat mich neugierig gemacht, ob denn da eine Verwandtschaftsbeziehung besteht.
Konkret habe ich dazu geguckt, wie es mit Spielwaren Zorn ausschaut. Um die Spannung rauszunehmen: ja, es gibt eine Beziehung, aber um einen gemeinsamen Vorfahren zu finden, muss man bis ins 17. Jahrhundert zurück gehen.
Dass es überhaupt möglich ist, diese Verbindung zu finden, hat vor allem etwas damit zu tun, dass der Stammbaum der Familie Zorn bis Mitte des 20. Jahrhundert akribisch dokumentiert ist. Auf der Website der Familie Leiprecht finden sich die Bücher zur Familiengeschichte der Familie Zorn aus Kempten, die Rudolf Schonger zusammengestellt hat. Auf rund 1500 als JPEG eingescannten Schreibmaschinenseiten werden hier mit vielen Quellenabschrieben und Nachweisen die (männlichen) Äste der Familie Zorn seit dem 13. Jahrhundert ausgebreitet. Auf S. 724 finden wir dann den 1929 geborenen Paul Zorn, bei dessen Tanten Käthe und Elise jeweils der Hinweis „Korb- und Spielwarengeschäft Leutkirch“ eingetragen ist. Auch in der Zorn-Chronik (S. 725) steht ein bisschen mehr zu diesem Geschäft und dem Haus in der Marktstraße.
Gleichzeitig gibt es in der Schwäbischen Zeitung anlässlich des 175-jährigen Bestehen des Spielwarengeschäfts einen recht ausführliche Artikel, in dem er heutige Inhaber von „Spielwaren Paul Zorn“, Burkhard Zorn, zu Wort kommt, und in dem auch die Anzeige eines Jakob Zorn, Drechslermeister, aus dem Jahr 1847 dokumentiert ist, in dem dieser dafür wirbt, Pfeifenköpfe, Kinderspielwaren u.ä. herzustellen. In der Zorn-Chronik dürfte dies Jacob Christoph Zorn (geb. 1816) sein (ebenfalls auf S. 724 zu finden), also der Ur-Ur-Großvater des heutigen Inhabers des Spielwarengeschäfts.
Um eine gemeinsame Verbindung zu finden, müssen wir allerdings noch fünf weitere Generationen zurückgehen. Dann landen wir bei Balthasar Zorn (1666–1714). Näheres zu ihm finden wir ab S. 700 der Zorn-Chronik. Dieser Balthasar Zorn war Bierbrauer und „Sackpfeiffer“-Wirt in Kempten; seine Gerichtsakten füllen einige Seiten der Chronik. Sein Sohn Johann Zorn (1691–1739) war zwischenzeitlich Wirt in Leutkirch, ging aber später wieder – als Wirt – nach Kempten zurück. Balthasar Zorns Enkel Abraham Zorn (geb. 1730) blieb schließlich als Wirt des „Weißen Ochsen“ in Leutkirch, sein Sohn, Balthasar Zorns Ur-Enkel Christoph Zorn (geb. 1762) wird als Drechsler in Leutkirch benannt. Auch dessen Sohn Abraham Zorn (geb. 1786) führt dieses Handwerk fort – und gibt es an seinen Sohn, den bereits genannten Jacob Christoph Zorn weiter.
Bei Balthasars Eltern, dem Kemptener Metzger Hans Zorn (1625–1670) und seiner Frau Euphrosine, geb. Bockh (1629–1691) kommen nun die beiden Linien zusammen. Balthasar hat einen Bruder, den Jacob Zorn (1651–1724, Kempten). Auch dessen Kinder gehen nach Leutkirch (vgl. Zorn-Chronik, S. 448 ff.). Das war damals allerdings gar nicht so einfach – sein Sohn Johannes Zorn (1679–1744) erhält die Bürgerrechte von Leutkirch erst, nachdem er (im Jahr 1700) zusagt, die Leutkircherin Rosina Mendler zu heiraten. Er wird später zum Mitglied des Gerichts und des Rates und zum Zunftmeister der Cramerzunft. Johannes Zorns Enkel heißt wiederum Johannes Zorn (1731–1815), ist Nadler und wird zum Stadtammann Leutkirchs; dessen Sohn, Paul Zorn (1766–1839) wird Wirt des „Rößle“ in Leutkirch. Die Urenkelin von diesem Paul Zorn wiederum ist Euphrosine (1852–1938), die den „Rad“-Wirt Gottlieb Friedrich Weixler heiratet (meine Ur-Ur-Großeltern).
Da die Leutkircher Handwerkerfamilien bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder untereinander geheiratet haben, kann es sein, dass es auch noch jüngere Verbindungen gibt.
Meine Ur-Ur-Großeltern, Teil I
Ich beschäftige mich seit einiger Zeit – neu aufgeflammt durch ein Geschichtsprojekt aus dem Unterricht meiner Tochter – mit dem, was sich Genealogie nennt. Vor etwa einem Jahr hatte ich einen kurzen Text zu Georg Mayerhoffer geschrieben. Die Idee, zu den unterschiedlichen Herkunftsfamilien und ‑zweigen etwas zu schreiben, geistert ebenso lange durch meinen Kopf. Aber einerseits ist das nicht ganz so einfach, weil das mathematisch schnell unangenehm viel wird (2^x), insbesondere wenn’s nicht um patriarchale Väter und Vorväter geht, von Heteronormativität gar nicht erst zu reden -, andererseits rückt die Beschäftigung mit den eigenen Vorfahren schnell in ein seltsam heimattümelndes Licht. Ich finde den Blick auf die eigenen Vorfahren gar nicht so sehr spannend im Sinne eines „seht, ich stamme ab von …“ (18 19, 20 Generationen zurück dann Augsburger Fugger und irgendwelche Adelsfamilien, die restlichen 2^20 = 524.288 Vorfahren, die nicht adelig waren, sind halt nicht mehr dokumentiert …), sondern letztlich als Brennglas auf (Sozial-)Geschichte und historische Lebenswelten.
Darüber zu schreiben, das hatte ich mir zwar vorgenommen, es aber bisher nicht in die Tat umgesetzt. Bis mir heute die Idee kam, nicht einzelne Familienzweige beschreiben zu wollen, sondern erst einmal mit einem Querschnitt anzufangen. Und auch nicht mit dem 15. Jahrhundert, sondern – weit genug weg, damit es nicht zu nah ist, aber nah genug, damit es nicht zu viele sind – mit meinem Ur-Ur-Großeltern. 16 Personen – das ist noch halbwegs überschaubar.
Als ersten Aufschlag gibt es also eine kleine Ahnenreihe aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ich fange in diesem Beitrag mit den vier Ur-Ur-Großelternpaaren väterlicherseits an, die im Allgäu bzw. in der Nähe des ostwürttembergischen Ipfs lebten.
Nachkommen des Salzburger Emigranten Georg Mayerhoffer
Die Genealogie lässt mich nicht los – und beim Stöbern in alten Unterlagen, die mein Vater aufbewahrt und ausgewertet hat, bin ich auch auf die interessante, Anfang des 20. Jahrhunderts als Manuskript gedruckte Auflistung der Nachkommen des Salzburger Emigranten Georg Mayerhoffer gestoßen; wohl aus dem Nachlass einer meiner Urgroßtanten. Das vom damaligen Leutkircher Stadtpfarrer Braun zusammengestellte Heftlein ist ziemlich schlecht erhalten, deswegen habe ich es eingescannt und den Scan in ein PDF gepackt, das hier heruntergeladen werden kann.
Ausgangspunkt der Auflistung ist Johann Jakob Mayerhoffer, Gärtner und Leutkircher Rotochsenwirt (1743–1804), Sohn des Georg Mayerhoffer aus Salzburg, der zusammen mit seiner Frau Euphrosine, geb. Stör, Tochter des Bartholomäus Stör, ebenfalls Rotochsenwirt zu Leutkirch, zwölf Kinder hatte, von denen sechs früh starben und sechs – Johann Jakob, Anna, Andreas, Georg, Gabriel und Johann Michael – samt der jeweiligen Nachkommen bis etwa 1910 aufgeführt werden. Zum Teil gibt es ein paar biografische Sätze zu den einzelnen Personen. (Aus Salzburg nach Leutkirch emigriert ist Georg Mayerhoffer vermutlich der Religion wegen, auch wenn das nicht in diesem Heft steht – die Reichstadt war evangelisch, das katholische Salzburg kämpfte gegen die Reformation)
Herkünfte
Meine Tochter geht jetzt in die 6. Klasse. Als Einstieg in den Geschichtsunterricht konnten die Kinder ihrem Stammbaum nachspüren. Dazu fertigte sie mit der Unterstützung insbesondere diverser Großeltern ein schönes Poster an, auf dem vier Generationen zu sehen sind – mit Verlängerungsmöglichkeit nach oben, denn auch ein weiteres Zurückgehen in die Vergangenheit wäre machbar gewesen.
Und zwar deshalb, weil mir bei ihrer Recherche wieder eingefallen war, dass ich vor 25 Jahren – nicht im Geschichtsunterricht, sondern aus Interesse – mal einem ähnlichen Projekt nachgegangen war. Das dazu geschriebene Turbo-Pascal-Programm fand sich zwar noch in den archivierten Archivdateien (geht das anderen Leuten auch so, dass sie einen Ordner „Alter Rechner“ in ihrem Dateiverzeichnis haben, in dem sich dann wieder ein Ordner „Noch älteres Krams“ findet, etc.?), es wollte aber unter Windows 7 nicht mehr laufen, auch nicht auf einer simulierten 386er-Dosbox, jedenfalls wären dazu wohl noch diverse Anpassungen nötig gewesen, zu denen mir Zeit und Muße fehlten. Was es aber noch gab, waren die Daten, die ich damals gesammelt hatte, und zwar nicht nur als Rohdaten, sondern auch als lange Personenliste.
Die fand dann nicht nur das Kind spannend, sondern auch ich. Unter anderem deswegen, weil an den Stammbaumdaten sehr schön deutlich wird, was für Mobilitätssprünge es in den letzten fünfzig bis hundert Jahren gegeben hat. Denn bis dahin ist das recht übersichtlich: auf der Seite meines Vaters spielt sich alles im Allgäu und in der bayerisch-württembergischen Grenzregion – etwa in Nördlingen – ab; erst, wenn viel weiter zurück geschaut wird, geht es im 16. oder 17. Jahrhundert dann bis Salzburg und Zürich. Aber ganz überwiegend sind es Handwerker, Generationen von Leutkircher Wirten und Brauern sowie Bauern und Bäuerinnen, die sich da finden lassen. Alteingessen, mit einer geringen Mobilität, sowohl in räumlicher als auch in sozialer Hinsicht. Erst mein Vater geht dann – in Tübingen – auf die Universität und studiert Chemie.
Auf der Seite meiner Mutter ist es ebenfalls übersichtlich: hier spielt sich fast die ganze Herkunfsgeschichte zwischen Nord- und Ostsee ab, teilweise in Dörfern, die heute kaum noch zu finden sind, die längst in größeren Gemeinden aufgegangen sind. Hier gibt es zunächst Kleinbauern, dann Lehrer, Erzieherinnen, Ingenieure und Kaufleute in Bremen und im Bremer Umland. Meine Mutter lässt sich zur Chemotechnikern ausbilden und wagt den Schritt in den Süden.
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre treffen meine Eltern in Tübingen aufeinander, heiraten, gründen eine Partei, bekommen Kinder, gehen erst nach Frankfurt und schließlich nach Freiburg. Da wohne ich heute noch, während es meine Schwestern nach Bonn und Saarbrücken gezogen hat.
Das Muster relativ langer Ortsansässigkeit lässt sich auch auf der mütterlichen Seite meiner Tochter beobachten; da findet sich etwa das alte sozialdemokatische Bürgertum in Offenburg.
Ich bin neugierig, wie das weitergeht. Heute ist für viele längst Europa, wenn nicht gar der Erdball der Horizont der sozialen Mobilität. Bleibt es dabei und verstärkt sich das noch – oder setzt sich eine Gegenbewegung durch, wie sie sich in Heimatdebatten und – im europäischen Kontext – in Separationsbewegungen niederschlägt? Bleibt es bei der Anziehungskraft der Städte, oder schlägt das Pendel hin zum ländlichen Raum aus?
Warum blogge ich das? Vielleicht als persönlichen Beitrag – wo komme ich eigentlich her – dazu, warum ich es durchaus interessant finde, über Heimat zu reden, auch in einem grünen Diskurs.
P.S.: Nachdem dann alles im richtigen Verzeichnis war, lief das alte Programm dann auch …