Nachdem ich vor ein paar Tagen etwas zu den Filmen und Serien geschrieben habe, die ich in diesem Frühjahr angeschaut habe, nun zur (digital) gedruckten Literatur.
Ich fange „meta“ an – mit zwei Büchern, die sich auf unterschiedlichen Enden der Komplexitätsskala mit SF als Literaturgenre auseinandersetzen. Das ist zum einen der im Original französische Comic Die Geschichte der Science-Fiction (2021) von Xavier Dollo und Djibril Morissete-Phan. Nett, auch die Idee, Autor*innen und deren erfundende Welten als Teil der Lehrgeschichte auftauchen zu lassen – aber irgendwie wurde mir nicht so ganz klar, an wen sich das richtet. Für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Geschichte der SF ist’s dann doch zu oberflächlich, zudem sind seitenlange in Großbuchstaben verfasste Infoboxen eher nicht so prickelnd. Einer ganzen Reihe der Buch‑, Film- und Comicempfehlungen, die am Rand des Comics empfohlen werden, beziehen sich auf die französische Genregeschichte und sind hier nicht erhältlich. Wer noch nichts über die Geschichte der Science Fiction als Genre weiß, wird durch dieses Buch eher verwirrt – wer sich schon damit auskennt, wird relativ bald ungeduldig. Vielleicht wäre das ganze als interaktive Website interessanter als als gedrucktes Buch.
Am anderen Ende der Komplexitätsskala liegt Dietmar Daths Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine (2019). Auf fast tausend Seiten entwickelt Dath – der ja auch selbst Autor im Genre ist – eine an Beispielen und biografisch-politisch Exkursen reiche Analyse der Funktion von Science Fiction, die auch für Genrekenner*innen noch Entdeckungen bereit hält. Das ist allerdings ein Werk, das studiert werden muss. Insbesondere die zugrundeliegende Theorie, die im Begriff des algebraischen „Aufhebungsfunktors“ und der „Neginduktion“ mündet, stellt Graubrot oder schlimmeres dar, und muss erst einmal durchdacht werden, um die restlichen 900 Seiten mit Genuss und Erkenntnisgewinn zu lesen. Deutlich wird jedenfalls die Einbettung der SF-Kunstproduktion in ihre jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – und deutlich wird auch, dass das in Geschichten gepackte Nachdenken darüber, wie der Lauf der Dinge wäre, eigentlich nie unpolitisch ist, und trotzdem nicht einfach nur ein Werkzeug ist, sondern einen eigenen literarischen Anspruch entwickelt.
Soweit zum Lesen von Texten über Science Fiction – jetzt zur SF selbst.
Von dem nigerianisch-britischen Autor Tade Thompson habe ich Rosewater (2016) gelesen – ein gar nicht so einfach auf einen Punkt zu bringender Roman aus den 2050er/20260er Jahren. Er spielt weitgehend in Nigeria, an einem Ort namens Rosewater, der durch eine gigantische, undurchdringliche Kuppel gekennzeichnet ist, die das Alien Wormwood errichtet hat. Die Hauptperson, Kaaro, ist/war Spezialagent mit psychischen Fähigkeiten – und soll nun herausfinden, warum „Sensitive“ wie er plötzlich erkranken und sterben. Neben der durchaus packenden (und meines Erachtens gut verfilmbaren) Handlung kann der Roman auch als Auseinandersetzung mit Hybridisierung und lokaler/globaler Kultur in Nigeria gelesen werden.
Auf Up against it (2011) von Laura Mixon bin ich gestoßen, weil Cory Doctorow über die jetzt erschienene Neuauflage getwittert hat. Und hey – es ist extrem bedauerlich, Mixon und ihr Buch erst jetzt entdeckt zu haben. Mich erinnerte das Setting etwas an The Expanse (der erste Band davon ist ebenfalls 2011 erschienen), insbesondere mit Blick auf die Konflikte zwischen Erde und Astroiden-Siedlung, letztere der Ort der Handlung. Zugleich ist Mixon eine würdige Nachfolgerung der cyberpunkigen Spielart der Space Opera (ich denke da an Bruce Sterlings Schismatrix [das Mixon die Idee eines Viridian Movements von ihm übernommen hat, spricht für sich und für sie] oder die Weltraum-Bücher von Michael Swanwick), und auch der eine oder andere Bezug zu Snow Crash von Neal Stephenson ließe sich herstellen. Die ineinander verschränkten Fokuspunkte, die Mixon benutzt, sind zum einen der Blick von Geoff, einem Teenager, der lieber (Nano-)Dinge zusammenhackt, als etwas sinnvolles zu tun, und der der Administratorin Jane, die das Wohlergehen der ganzen Kolonie vor Augen hat, und gleichzeitig in Machtspielen gefangen ist. Geoffs Bruder kommt ums Leben – was erst wie ein Unfall aussieht, ist ein Mord – und nur der Beginn einer Entwicklung, die ganz Phocaea in Gefahr bringen kann. Mir hat’s sehr gut gefallen.
Ebenfalls Space Opera, aber ganz anders geartet, sind einige der Kurzgeschichten und Novellen von Aliette de Bodard, die ich erst jetzt für mich entdeckt habe. Während ich mit der Urban Fantasy Of Dragons, Feasts and Murders (2020) nicht viel anfangen konnte, vielleicht auch, weil ich mich in die S/M‑Beziehung zwischen den beiden Hauptpersonen nicht so richtig einfühlen konnte, bin ich an ihren Xuya-Universe-Geschichten hängen geblieben. Im einzelnen sind das die Novellen On a Red Station, Drifting [2012], The Citadel of Weeping Pearls [2015], The Tea Master and the Detective [2018] und Seven of Infinities [2020] sowie diverse Kurzgeschichten. Die gemeinsame Welt (zum Teil tauchen auch Personen aus der einen Novelle im Hintergrund der anderen auf) ist ein vietnamesisch geprägtes Weltraumimperium. Werte wie die Achtung der Familie und eine strikte Hierarchie ziehen sich hier ebenso durch wie AIs, die auf Harmonielehren aufbauen, überlichtschnelle Schiffe steuern und Raumstationen kontrollieren oder Memorychips, die den Rat der verstorbenen Älteren immer parat halten – kombiniert mit queeren Romanzen, Kriminalfällen und Sozialstudien. Eine lesenswerte und zu recht mehrfach preisgekrönte Mischung.
Adrian Tchaikovskys Elder Race (2021) wirkt erst einmal wie Fantasy – es gibt eine Königin und miteinander im Krieg liegende Königreiche, es gibt Gerüchte über Magie und dunkle Dämonen, und auf dem Berg in einem Turm lebt ein Zauberer. Relativ bald ist klar, dass der ein Anthropologe ist (deswegen auch die Vergleiche mit Le Guin in den Buchbesprechungen; ganz diesen Status erreicht das Buch meiner Meinung nach aber nicht), dass es hier um eine vergessene Kolonie geht, und dass das, was wie Magie aussieht, eigentlich Technologie ist. Interessant wird das Buch durch die doppelte Perspektive – mit Lynesse sind wir in einem Abenteuerroman, mit Nyr in einer Lost-Colony-Geschichte, und das wechselt von Kapitel zu Kapitel, bis die Perspektiven beginnen, sich zu schneiden.
Definitiv keine Science Fiction ist dagegen Francesca Mays Wild and Wicked Things (2022) – England nach dem ersten Weltkrieg, es gibt Magie, die allerdings nach dem Einsatz im Krieg verboten und verpönt ist. Annie Mason kommt nach Crow Island, um das Erbe ihres Vaters anzutreten und den Kontakt zu ihrer Freundin Beatrice wieder herzustellen. Es gibt Gerüchte darüber, dass Magie auf Crow Island gelebt wird – insbesondere die Partys im Delacroix-Haus sind berüchtigt. Annie fühlt sich zu Emmeline Delacroix hingezogen – und gerät immer tiefer in die Welt der Magie, die ihre Kosten hat. Das Buch ist fesselnd geschrieben und bringt das Zeitgefühl dieser Zwischenkriegszeit sehr gut rüber; in gewisser Weise musste ich daher beim Lesen an Vogts Anarchie Déco denken – beiden Büchern gemeinsam ist die ungefähre Epoche, eine queere Liebesgeschichte und eben eine Alternativweltgeschichte, in der es Magie gibt – aber so richtig lebendig wird all das für mich bei May und nicht bei den Vogts.
Nicht wirklich empfehlen möchte ich am Schluss Kameron Hurleys Empire Ascendant (2015), den zweiten Teil ihrer Worldbreaker-Geschichte. Ich musste mich eher durcharbeiten, die Vielzahl an Perspektiven mit jeweils unterschiedlichen Konventionen lässt den Überblick schnell vermissen. Wer epische Fantasy – hier vermischt mit Parallelwelten – mag, wird einiges an Empire Ascendant spannend finden, mir war das zu vollgepackt, und teilweise auch zu grausam. Band 2 gelesen habe ich vor allem, weil ich am Schluss von Band 1 wissen wollte, wie es weitergeht.. Teil 3 werde ich aber erst mal nicht lesen.