Noch ein Foto aus Glasgow. Der ScotRail-Bahnhof „Exhibition Center“ und das eigentliche Messegelände sind durch diese überdachte Fuß- und Radverkehrsbrücke verbunden. An der Wand steht „People make Glasgow“. Bewusst an eine solche verglaste Fußgängerbrücke erinnere ich mich sonst nur von einem Besuch in Luleå in Schweden. Möglicherweise verbindet das schlechte Wetter beide Städte.
Photo of the week: Enter the night, Glasgow
Um vom am Rand der Merchant City in Glasgow gelegenen Hotel zum Scottish Event Campus zu kommen, auf dem die Worldcon stattfand, gab es zwei Möglichkeiten: zu Fuß, so 30 bis 40 Minuten, entlang der Clyde, oder – zumindest zu den abends dann nicht mehr gegebenen Betriebszeiten – mit der S‑Bahn. Hier bin ich zu Fuß zurückgelaufen, und – wie auf späteren Fotos vom selben Abend zu sehen ist – gerade noch rechtzeitig angekommen, bevor der große Regen losging. Zu diesem Zeitpunkt war aber allenfalls ein Nieseln in der Luft zu spüren, der Abend färbte die regungslose Clyde schwarz, und vom gegenüberliegenden Ufer schienen bunte Lichter.
The good kind of weird – Teil I
In den USA erlebt das Adjektiv weird gerade eine politische Aufladung. Trump und Co. werden da seitens der Demokrat*innen als weird bezeichnet, und das zu Recht. Politisch-strategisch finde ich es richtig, den rechten Populismus nicht mehr als satisfaktionsfähig anzusehen, nicht als ernsthafte Haltung, die eine*r haben kann, sondern als seltsam, als das, was Bullies im Schulen und verschwörungsgläubige Onkel und Tanten tun, als Kult und Narretei. Ja: das ist der richtige Weg, den rechten Menschenfängern zu begegnen. So ist es, und das anzuerkennen, zu sehen und zu sagen, statt sich auf einen Konservativismus mit Haltung und Werten zu beziehen, den es längst nicht mehr gibt.
Gleichzeitig ist diese politische Umdeutung des Wortes weird ein bisschen schade. Sie zwingt dazu, eine Grenzlinie zu ziehen, und – wie es beispielsweise Nnedi Okorafor in ihrem Guest-of-Honour-Interview tat, über „the good kind of weird“ zu sprechen. Denn weird – aber positiv konotiert – beschreibt ganz gut, wie sich diese (imaginierte) Gemeinschaft des SF-Fandom anfühlt.
Was passiert, wenn rund 6000 eher nerdige, möglicherweise auch eher introvertierte Menschen jeglichen Alters aus der ganzen Welt zusammenkommen, lässt sich aktuell in Glasgow beobachten. Dort finden noch bis Montag die Worldcon statt, oder offziell: „Glasgow 2024, a Worldcon for Our Futures“, zugleich die 82. World Science Fiction Convention. Dieses fan-organisierte Event mit rund 975 Panels, Talks, Readings, Partys – und der Verleihung der Hugo Awards als Anlass/Höhepunkt – bietet Science-Fiction-Fans und „Professionals“, also Autor*innen, Verleger*innen, Künstler*innen jede Menge Möglichkeiten, sich auszutauschen, zu diskutieren, Spaß zu haben (und wohl auch: Netzwerke und Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen). Neben der jährlichen Worldcon gibt es nationale und regionale Conventions in kleinerem Rahmen.
Ich lese seit meiner Jugend Science Fiction (und Fantasy), folge der Szene durchaus aktiv, habe eine ganze Reihe Autor*innen in meinem „Medienmenü“ – trotzdem war Glasgow jetzt die erste Convention, auf die ich mich getraut habe. Das liegt auch daran, dass sie nur alle paar Jahre in Europa stattfindet.
Insofern war ich neugierig, was da auf mich zukommt. Die Convention findet auf dem Scottish Event Campus (SEC) statt, einem recht weitläufigen Messegelände. Neben x Vortragsräumen und Auditorien (samt dem großen Saal im „Armadillo“, dem schuppentierartigen Hauptgebäude des SEC) gehören zur Conventionen auch zwei große Messehallen mit Ständen der Verlage, diverser Kunsthandwerker*innen und Künstler*innen, und auch der Science Communication der umliegenden Universiäten.
Dieses große Gelände ist gefüllt mit Menschen, deren auffälligstes Merkmal ihre Unterschiedlichkeit ist – von Anzugtypen und (Schottland) Kilts bis hin zu eigenwilligen Kleidungsstücken und Verkleidungen. Das eine oder andere Katzen- und Elfenohr ist ebenso zu sehen wie bunt gefärbte Haare, mittelalterlich anmutende Roben oder spitze Hüte. Es gibt grauhaarige Menschen mit langen Bärten und wild herumrennende Kinder in Glitzerklamotten. Viele tragen Masken. manche nutzen Mobilitätshilfen vom Stock bis zum Elektrofahrzeug. In der Menge sind ein paar bekannte Gesichter zu sehen (auch wenn es dauert, bis klar wird: hey, dass ist ja der Autor, die Autorin von … !). Die Toiletten sind für alle Geschlechter, und für die Badge werden Pronomen-Aufkleber bereitgehalten.
Manche Badge ist mit einer langen Reihe an Ribbons versehen, lokale Fanclubs, Unterstützung für Austragungsorte, oder einfach Quatsch und Scherze sind da zu finden.
Es geht darum, eine gute Zeit zu haben. Und das kann auch dem Neuling gelingen, bei entsprechender Auswahl der besuchten Events und einer gewissen Offenheit für Begegnungen.
Mir persönlich hat bisher all das gefallen, was die (parasoziale) Beziehung zu meinen Lieblingsautor*innen vertieft hat. Jo Walton live und in Farbe zu erleben (und über Lesegewohnheiten zu reden), zu hören, wie die Guests of Honour Nnedi Okorafor und Ken MacLeod zu den Autor*innen wurden, die sie sind – das war ebenso interessant wie die Kameradie zwischen Charles Stross und John Scalzi zu sehen oder festzustellen, dass S.B. Divya und Aliette de Bodard auch außerhalb ihrer Bücher extrem schlaue Menschen sind. Und noch dazu nicht nur Autorinnen, sondern eben selbst auch Fans.
Gut gefallen haben mir auch die künstlerischen Events – Oper ist nicht so meins, aber trotzdem war Dr. Morrows Insel eindrucksvoll, ebenso das SF-Orchester oder die Orgelmusik aus Interstellar.
(Weniger viel anfangen konnte ich mit quasi-akademischen Panels in voll besetzen Räumen, auf denen wild spekuliert wurde … aber das gehört wohl auch dazu …)
Science Fiction und Fantasy im Juni und Juli 2024
Aus verschiedenen Gründen – unter anderem dem Wunsch nach Vollständigkeit – bin ich im Juni nicht dazu gekommen, etwas zu meiner SF-Lektüre zu schreiben. Dafür wird es heute im Rückblick auf Juni und Juli etwas länger.
Ich fange mal mit zwei Büchern an, die ich vor allem deswegen gelesen habe, weil sie auf der Shortlist für den Hugo („best novel“) stehen. Da ich mich dann doch entschieden habe, die Chance einer Worldcon in Europa zu nutzen und nächste Woche nach Glasgow zu fahren, durfte ich diesmal mit abstimmen – und die anderen vier Romane in der Kategorie „best novel“ kannte ich schon.
Das ist zum einen Martha Wells Witch King (2023), der erste Roman einer neuen Fantasy-Serie. Wells kannte ich bisher vor allem als Autorin der Muderbot-Diaries, ihre vorherigen Fantasy-Romane habe ich glaube ich nicht gelesen. Im Witch King geht es auf zwei miteinander verschränkten Zeitebenen zum einen um eine Revolution gegen ein angriffslustiges Imperium, zum anderen, in der Gegenwart des Romans, um die Frage, wer die beiden Hauptpersonen lebendig begraben hat, und welche Intrigen und politischen Verwicklungen dahinter stecken. Die beiden Hauptpersonen sind zum einen der namensgebende Witch King, ein Dämonenprinz namens Kai, der verschiedene menschliche Körper benutzt, und zum anderen Ziede, eine Hexe, die Windgeister beschwören kann. Neben Dämon*innen und Hexer*innen gibt es in Wells Rising-World-Szenario „normale“ Sterbliche, aber auch ein Volk von Unsterblichen und das bereits genannte Imperium der Hierarchie, über das – bis auf deren blutrünstiges und gewaltsames Vorgehen – wenig bekannt ist. Das eine oder andere Magie-Element funktioniert anders als erwartet (positiv, weil eine Abwechslung), und wie doch sehr unterschiedliche Charaktere zusammenkommen, wird von Wells ebenso gut beschrieben wie die zerstörten Städte und Landschaften, in denen die Geschichte spielt. Besonders gefallen hat mir die alles andere als einfache Innensicht des Erzählers: der Dämonenprinz kämpft mit Zweifeln, Unsicherheiten und Überforderung. (Darin erinnert Witch King trotz komplett anderem Setting an die Murderbot-Reihe).
Ebenfalls gut gefallen hat mir der zweite mir bisher unbekannte Roman auf der Hugo-Shortlist, The Adventures of Amina al-Sirafi von Shannon Chakraborty (2023). Das Buch ist die Ich-Erzählung einer legendären Piratenkapitänin, die einem Schreiber von ihren Abenteuern – und der Geschichte hinter der Geschichte – berichtet. Nach und nach kommt die eine oder andere Verstrickung zu Tage, und was anfangs nach Piratenabenteuer in einem interessanten Setting aussieht, wird zunehmend zu Fantasy mit Djinns, Dämonen und Seeungeheuern, wobei die Grenze zwischen magischer Welt und Alltag dünner ist als heute. Stichwort: interessantes Setting – der Roman spielt rund um den Indischen Ozean, im islamischen Mittelalter. Die Hauptperson ist mehr oder weniger strenggläubige Muslimin, andere Charaktere bringen ihre eigenen Religionen mit dazu. Europa und die Kreuzzüge kommen am Rande vor – als über diese islamische Welt hineinbrechende Katastrophe, zu deren Hinterlassenschaften auch der Hauptantagonist gehört, ein mit Zauberkünsten experimentierender fränkischer Söldner. Und ganz nebenbei ist Amina al-Sirafi auch alleinerziehende Mutter eines kleinen Mädchens, werden Geschlechtsidentitäten und unterschiedliche Formen des Begehrens und der Aufbegehrens abgehandelt, ohne jedoch davon abzulenken, dass wir es mit knalligen und vielfarbigen Abenteuern in einer von hier aus gesehen fremden Vergangenheit zu tun haben.
Der Vollständigkeit halber mein Ranking für den Hugo, Best Novel: „Science Fiction und Fantasy im Juni und Juli 2024“ weiterlesen
Science Fiction und Fantasy im März 2024
Vor ein paar Tagen wurden die Finalisten für den diesjährigen Hugo-Award von der Worldcon Glasgow veröffentlicht. Vier der sechs für den besten Roman nominierten Werke habe ich gelesen (und finde sie dort sehr zu recht platziert), in den anderen Kategorien sind es jeweils nur ein oder zwei Einträge, die ich kenne. Was mich zu der Frage bringt: war jemand schon mal auf einer Worldcon? Bei Riesenveranstaltungen bin ich immer so ein bisschen skeptisch, ist nicht wirklich meine bevorzugte Umwelt – gleichzeitig liegt Glasgow halt tatsächlich in einer – in den hiesigen Sommerferien – erreichbaren Entfernung. Will ich da hin?
Damit zu dem, was ich im März angeguckt und gelesen habe – im Rückblick einiges, Pendelstrecken zahlen sich aus …
Angeguckt habe ich mit meinen inzwischen schon sehr jugendlichen Kindern die Netflix-Serie „The Last Airbender“ (die Realverfilmung von 2024), die solide gemacht ist, auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle die Greenscreens bzw. die digitale Trickkiste nicht ganz perfekt eingesetzt finde. Die Geschichte selbst ist aus der Zeichentrickserie bekannt, hier aber nochmal verdichtet. Im Hintergrund ziemlich viel Trauma, im Vordergrund hübsche Landschaften, fantastische Orte, fliegende Tiere und nachvollziehbare Zauberkräfte.
Angeschaut habe ich mir weiter „Cloud Atlas“ (2012) – zum zweiten Mal, das Buch von David Mitchell habe ich ebenfalls schon ein- oder zweimal gelesen. Und es lohnt sich, diesen sehr langen Film zweimal zu sehen – die (mit der Rahmenhandlung) sieben Zeitebenen sind sonst doch etwas verwirrend. Und das eine oder andere Detail in der Verknüpfung zwischen den Zeitebenen wird auch erst beim zweiten Hinsehen sichtbar. Was ich nicht wusste, und erst im Nachhinein gelernt habe: die Schauspieler*innen in den Zeitebenen sind zu großen Teilen identisch, wechseln allerdings wild Alter, z.T. auch ethnische Herkunft und Geschlecht. Das ist dann doch ziemlich eindrucksvoll.
Ähnlich unverfilmbar und ähnlich lang (und vermutlich ebenfalls besser, wenn er ein zweites Mal angeschaut wird): der zweite Teil von „Dune“ (2024) von Denis Villeneuve läuft jetzt im Kino. Das erste Dune-Buch ist in der Verfilmung damit in Teil 1 und 2 rund fünf Stunden lang, das ist einiges – und die Dune-Serie hätte ja auch noch einige Nachfolgebände zu bieten, dazu gleich. Während Teil 1 viel Exposition bot, und mir vor allem in seiner Ästhetik (samt brutalistischer Raumschiffe) in Erinnerung geblieben ist, ist Teil 2 sehr viel handlungsreicher. Paul Atreides schließt sich den Fremen an, wird als deren Messias anerkannt, reitet auf Sandwürmern und greift schließlich das Imperium an. Das hat epischen Charakter, und zeigt, was Kino kann. Einige Details fand ich bemerkenswert, etwa die Entscheidung, Pauls Schwester Alia – aufgrund einer Zeitraffung gegenüber dem Buch – größtenteils nur als voll bewussten Embryo zu zeigen, oder auch die in Infrarotschwarzweiß gefilmten Szenen auf Giedi Prime, die eine ganz eigene Fremdartigkeit zum Ausdruck bringen.