Zeit des Virus, Update XII

Cold and clear

Im Okto­ber war es mög­lich, die Pan­de­mie für einen Moment zu ver­ges­sen. Das haben lei­der zu vie­le Men­schen getan. Jetzt sind wir mit­ten in der vier­ten Wel­le, die trotz Imp­fung dra­ma­ti­scher aus­fällt als die drei Wel­len zuvor. 100.000 Coro­na-Tote in Deutsch­land, in eini­gen Land­krei­sen Inzi­den­zen über 1000, gar über 2000, Intensivpatient*innen, die in ande­re Bun­des­län­der ver­legt wer­den müs­sen – und eine Poli­tik, die ins­ge­samt den Ein­druck erweckt, die­se Ent­wick­lung nicht geahnt zu haben. Wobei das mehr mit weg­schau­en, dann geht es schon weg zu tun hat als damit, dass nie­mand vor­her­ge­sagt hät­te, dass es so kommt. 

Denn das haben eini­ge gemacht – im Früh­jahr und im Som­mer, mit Blick auf die Impf­quo­te und die stär­ke­re Anste­ckung bei Del­ta. Ein Drit­tel Unge­impf­te sind zu vie­le, um das Virus zu stop­pen. Und auch wenn es für die vier­te Wel­le zu spät ist, fin­de ich es rich­tig, dass jetzt über eine Impf­pflicht dis­ku­tiert wird und die Boos­ter-Imp­fung pro­pa­giert wird. Seit ges­tern liegt auch die EMA-Zulas­sung für Biontech für Kin­der zwi­schen 5 und 11 Jah­ren vor. Öster­reich hat dar­auf­hin emp­foh­len, bis zur Ver­füg­bar­keit ent­spre­chend nied­ri­ger dosier­ter Lie­fe­run­gen den Erwach­se­nen­impf­stoff in den Arzt­pra­xen und Impf­zen­tren in gerin­ge­ren Dosen zu sprit­zen und damit jetzt in die Imp­fung von Kin­dern ein­zu­stei­gen. Deutsch­land scheint dar­auf zu war­ten, dass die Sti­ko sich zu einer Emp­feh­lung durch­ringt (was viel­leicht zum drit­ten Advent der Fall sein mag), und dann nach Weih­nach­ten mit dem Imp­fen zu beginnen. 

Mein Gefühl hier: es wäre klü­ger, schnel­ler zu han­deln, und dabei viel­leicht die eine oder ande­re büro­kra­ti­sche Hür­de und Haf­tungs­fra­ge staat­li­cher­seits aus dem Weg zu räu­men. Wie über­haupt die­se Pan­de­mie alle Vor­ur­tei­le über die deut­sche Lie­be zu For­mu­la­ren und Vor­schrif­ten zu bestä­ti­gen stimmt. So jeden­falls klin­gen Berich­te dar­über, dass Impf­zen­tren Men­schen abge­wie­sen haben, die weni­ge Tage vor den emp­foh­le­nen sechs Mona­ten bis zum Boos­ter in der Schlan­ge stan­den. Es gibt Län­der, die hier sehr viel prag­ma­ti­scher vor­ge­hen – mit Imp­fun­gen in Apo­the­ken, mit Impf­an­schrei­ben samt Ter­min­vor­schlag an alle Bürger*innen, mit gut orga­ni­sier­ten Rei­hen­imp­fun­gen in Turn­hal­len und Gemein­de­zen­tren. Hier könn­ten wir was ler­nen. Und damit viel­leicht die Impf­quo­te doch noch – recht­zei­tig, bevor dann die neue Vari­an­te „Nu“ in vol­ler Kraft zuschlägt – in eine halb­wegs brauch­ba­re Höhe zu trei­ben. Oder halt doch: Impfpflicht.

Was es gibt, sind immer­hin inzwi­schen stren­ge­re Regeln für Betriebs­stät­ten (end­lich!) und für den Nah- und Fern­ver­kehr. Jetzt müss­ten die nur noch kon­trol­liert werden … 

Wie über­haupt die­se Pan­de­mie lei­der auch zeigt, dass es mit dem Ver­trau­en auf Eigen­ver­ant­wor­tung und Frei­wil­lig­keit nicht wirk­lich getan ist. Es gibt sehr vie­le, die sich an die Regeln hal­ten, die ver­ant­wort­lich sind. Aber es reicht, wenn eine Min­der­heit – 10, 20 Pro­zent – das nicht tut, um alles ein­zu­rei­ßen, was die ande­ren mit Sorg­falt und Umsicht auf­ge­baut haben. Ich habe kein Ver­ständ­nis dafür, wenn Men­schen ande­re in Gefahr brin­gen – und auch nicht, wenn Ver­wal­tun­gen und Unter­neh­men die Coro­na-Ver­ord­nun­gen so lan­ge abklop­fen, bis sie doch noch ein Schlupf­loch fin­den, um „schlau“ die Regeln zu umge­hen. Wenn ein Weih­nachts­markt maxi­mal 2000 Per­so­nen umfas­sen darf, machen wir halt drei neben­ein­an­der. Und wenn medi­zi­ni­sche Attes­te vor­lie­gen müs­sen, um die Mas­ken­pflicht zu umge­hen, dann las­sen wir die halt von einem befreun­de­ten Arzt schrei­ben (sie­he die Vor­fäl­le in Frei­bur­ger Waldorfschulen …). 

Ich fin­de das bedau­er­lich, ler­nen zu müs­sen, dass das grü­ne Men­schen­bild, das von Eigen­ver­ant­wor­tung und Soli­da­ri­tät aus­geht, in die­ser Kri­se an sei­ne Gren­zen kommt. Und ich fra­ge mich, wie das eigent­lich aus­sieht, wenn zur Bekämp­fung der Kli­ma­kri­se die eine oder ande­re unpo­pu­lä­re Maß­nah­me getrof­fen wer­den muss. Erklä­ren, über­zeu­gen, ver­mit­teln hilft nicht, wenn Leu­te par­tout nicht kapie­ren wol­len, was eigent­lich los ist, und sich statt­des­sen lie­ber von der Gegen­welt rea­li­täts­ver­leug­nen­der Verschwörungsmystiker*innen ein­fan­gen lassen. 

All das scheint nicht neu zu sein, und auch bei frü­he­ren Pan­de­mien schon vor­ge­kom­men zu sein. Opti­mis­tisch stimmt es mich jeden­falls nicht. Inso­fern steigt mein Wunsch, dass die­je­ni­gen, die etwas bewe­gen kön­nen, indem sie Regeln set­zen und kon­trol­lie­ren, das auch tun, und sich nicht davon abschre­cken las­sen, dass es Gegen­wehr geben könn­te. Ja: die wird es geben, das ändert aber nichts dar­an, dass es jetzt not­wen­dig ist, schnell und ent­schlos­sen zu han­deln. Und das erwar­te ich, wie wohl inzwi­schen eine Mehr­heit der Bevölkerung.

Kurz: Parteigewordene Bürokratie

Wel­che Par­tei hat einen Beam­ten als Vorsitzenden?

Wel­che Par­tei legt bekann­ter­ma­ßen mehr Wert auf Ver­fah­ren als auf Inhalte?

Wel­che Par­tei hat für in einem For­mu­lar fest­ge­hal­te­ne Vor­stands­be­schlüs­se „Umset­zungs­ver­ant­wort­li­che“?

Vie­les spricht dafür: die Pira­ten sind die ers­te par­tei­ge­wor­de­ne digi­ta­le Büro­kra­tie. Was mich, aber das wäre eine ande­re Geschich­te, an die Wiki­pe­dia erin­nert. Oder: der deut­sche Nerd und die ord­nungs­ge­mä­ße Durch­füh­rung von Verwaltungsvorschriften …

Wie Akkreditierungen Studiengänge bürokratisieren

Rutschbahn
Nicht alles, was im Stu­di­um gelernt wird, lässt sich in Büchern nie­der­schrei­ben und ordent­lich ordnen.

Ich war ja ges­tern im Land­tag. Sogar rich­tig im Ple­num. Und im „Ple­num“, mit­tags. Genau­er gesagt: bei der Öffent­li­chen Anhö­rung „Plan B(achelor) 2012“ (pdf) von The­re­sia Bau­er MdL (hoch­schul­pol. Spre­che­rin und stlv. Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de) und der grü­nen Land­tags­frak­ti­on Baden-Würt­tem­berg. The­re­sia will den Bache­lor refor­mie­ren und damit Baden-Würt­tem­berg zum Vor­rei­ter­land machen. Und wie das geht, dar­um ging es bei der – übri­gens recht gut und breit besuch­ten – Anhörung.

Neben­bei bemerkt: Waren wir als Stu­die­ren­de eigent­lich auch pene­trant dar­in, eine ver­fass­te Stu­die­ren­den­schaft und mehr stu­den­ti­sche Mit­be­stim­mung als All­heil­mit­tel zu verkaufen?

Inhalt­lich ging es um die eigent­lich recht sin­ni­gen und heh­ren Zie­le der Bolo­gna-Reform, um die Schwä­chen ihrer tat­säch­li­chen Umset­zung in natio­na­le bzw. baden-würt­tem­ber­gi­sche Gesetz­ge­bung und Stu­di­en­ord­nun­gen, und um Ideen, Bache­lor und Mas­ter bes­ser zu gestal­ten. Let­ze­res kam mir aller­dings etwas zu kurz.

Hier möch­te ich jetzt ein The­ma auf­grei­fen, das wie­der­holt zu Tage trat. Als Fra­ge for­mu­liert: Ist es in Deutsch­land über­haupt mög­lich, eine „Ermög­li­chungs­kul­tur“ umzusetzen?
„Wie Akkre­di­tie­run­gen Stu­di­en­gän­ge büro­kra­ti­sie­ren“ weiterlesen

Minus zwei Minuten

Symbolbild ICENeu­er­dings gibt es ja eine gesetz­li­che Ver­an­ke­rung dafür, dass die Bahn bei Ver­spä­tun­gen Tei­le der Fahrt­kos­ten erstat­tet. Ab 60 Minu­ten Ver­spä­tung am Ziel­ort müs­sen – auf Antrag, d.h. nach dem Aus­fül­len eines recht lang­wie­ri­gen For­mu­lars – 25 Pro­zent des Fahr­prei­ses erstat­tet werden.

Vor kur­zem war ich mit der Bahn in Bonn. Auf der Rück­fahrt hat­te der Inter­ci­ty von Bonn nach Mann­heim Ver­spä­tung, so dass wir den Anschluss­zug dort ver­pass­ten. Die eigent­lich ange­dach­te Ver­bin­dung wäre um 18:59 Uhr in Frei­burg gewe­sen. Den ICE, den wir dann in Mann­heim neh­men konn­te, hat­te laut Fahr­plan 19:59 Uhr als Ankunftszeit. 

Im ver­spä­te­ten Zug von Bonn ver­teil­te der Zug­be­glei­ter von sich aus Ent­schä­di­gungs­for­mu­la­re. Nach­dem es eine pri­va­te Rei­se war, waren kei­ne Kon­flik­te zwi­schen der insti­tu­tio­nel­len Rei­se­kos­ten­er­stat­tung und der Deut­schen Bahn um Ori­gi­nal­fahr­kar­ten zu erwar­ten. Des­we­gen habe ich das mit der Ent­schä­di­gung mal aus­pro­biert, also das umfang­rei­che For­mu­lar ausgefüllt. 

Heu­te kam nun Post vom „Ser­vice­cen­ter Fahr­gast­rech­te“. Weil kurz vor Frei­burg noch mal mäch­tig beschleu­nigt wur­de, war der Zug zwei Minu­ten zu früh in Frei­burg. Sprich: 19:57 Uhr. Gefühl­te Ver­spä­tung: eine Stun­de. Fak­ti­sche Ver­spä­tung laut „Ser­vice­cen­ter“: 58 Minuten. 

„Wir bedau­ern die Ihnen ent­stan­de­nen Una­nehm­lich­kei­ten und bit­ten Sie gleich­zei­tig um Ver­ständ­nis, dass in Ihrem Fall kei­ne Ent­schä­di­gung gezahlt wer­den kann, da wir die gesetz­li­chen Rege­lun­gen zu den Fahr­gast­rech­ten gegen­über allen Kun­den in glei­cher Wei­se anwen­den müssen.“ 

Ein klei­nes biß­chen Ver­ständ­nis habe ich ja sogar. Viel­leicht ist es ein blö­der Zufall, dass der ICE gera­de hier mal ein biß­chen zu früh war. Und klar, recht­li­che Gleich­be­hand­lung – das ist schon ein Argument.

Trotz­dem bleibt der Ein­druck haf­ten, dass die recht­li­che Fest­le­gung der Zah­lungs­gren­ze von 60 Min­un­ten als Neben­ef­fekt alle Kulanzen aus­ge­löscht hat. Zudem gibt es jetzt im Stun­den­takt Anrei­ze, Ver­spä­tun­gen unter die magi­sche Stun­den­gren­ze zu drü­cken, um nur bloß nicht zah­len zu müs­sen. Der rela­tiv büro­kra­tisch Pro­zess der Ent­schä­di­gungs­be­an­tra­gung trägt ein übri­ges zu dem Ein­druck bei, dass die „Fahr­gast­rech­te“ von der Bahn weni­ger als Ser­vice den als poli­ti­sches Zuge­ständ­nis gese­hen wer­den, dass es mög­lichst zu umge­hen gilt.

Was bedeu­tet das nun umge­dreht? Tole­ran­te­re War­te­zei­ten, rea­lis­ti­sche Fahr­plä­ne, die auch tat­säch­lich ein­ge­hal­ten wer­den – und ein Halb­stun­den­takt auf den hoch­fre­quen­tier­ten ICE-Stre­cken, beispielsweise.

War­um blog­ge ich das? Weil mich das Ver­hal­ten der Bahn nicht so rich­tig glück­lich macht. Selbst wenn hier völ­lig geset­zes- und regel­kon­form gehan­delt wurde.