Opposition mag Mist sein. Dennoch beneide ich die SPD-Mitglieder nicht, die jetzt darüber entscheiden müssen, ob der Koalitionsvertrag mit der Union angenommen wird oder nicht. Der kluge Jonas Schaible schreibt in seinem Newsletter dazu:
Gemessen an den Erwartungen ist das alles in Ordnung. Gemessen am Notwendigen ist es eher eine Katastrophe.
Die Erwartungen sind und waren niedrig. Und klar, es gibt den einen oder anderen Lichtblick im ausgehandelten Vertragstext. Dinge, die doch nicht so schlimm kommen, wie mal gedacht. Dinge, die sogar ganz positiv wären, wenn sie denn umgesetzt würden – der Finanzierungsvorbehalt und das eine oder andere ungeschickte Merz-Interview lassen da allerdings Zweifel aufkommen. Insgesamt: sicher kein Programm, das uneingeschränkt gut zu finden ist.
Wenn die SPD dem Vertrag zustimmt, wird Friedrich Merz am 6. Mai 2025 zum Kanzler gewählt. Danach dürfte dann sofort die Debatte weitergehen, was der Koalitionsvertrag bedeutet, welche Prioritäten gesetzt werden, und ob Maßnahme X oder Maßnahme Y zurückgestellt werden muss, weil schlicht – trotz Milliardenkreditermächtigung – kein Geld da ist. Ob die Regierung aus CDU, CSU und SPD vier Jahre hält; ob Merz die Lernkurve erklimmt; ob aus dem AfD halbieren vielleicht doch noch etwas wird – wir wissen es nicht. Aber zumindest wäre die Möglichkeit dafür da.
Wenn die SPD dem Vertrag nicht zustimmt, gibt es aus meiner Sicht so ungefähr vier Varianten, was dann passieren kann:
Die eine heißt „Neuwahlen“ – die aktuellen Umfragen sehen nicht großartig anders aus als die tatsächliche Bundestagswahl, nur dass die AfD noch ein paar Prozentpunkte mehr erhält, die CDU/CSU ein bisschen schlechter dasteht, und die SPD nicht aus dem Loch kommt, obwohl Olaf Scholz jetzt Lars Klingbeil heißt. Was in der Summe dann möglicherweise bedeutet, dass CDU/CSU und SPD keine Mehrheit mehr hätten. Mag sein, dass das anders aussehen würde, wenn tatsächlich gewählt würde, und die Optionen Merz – „kann es nicht“ -, Klingbeil und irgendwer aus dem neuen grünen Führungsteam wären. Wetten würde ich darauf aber nicht. Das Risiko, das mit Neuwahlen verbunden wäre, ist aus meiner Sicht jedenfalls deutlich größer als die Chance, die darin steckt. (Sollte dieser Pfad eingeschlagen werden, bliebe die aktuelle Regierung wohl noch ein paar Monate kommissarisch im Amt – technisch müsste es, wenn ich mich nicht ganz täusche, eine erneute verlorene Vertrauensabstimmung geben, damit es zu Neuwahlen kommt.)
Die andere Variante heißt „Minderheitsregierung“ – Untervariante „a“: die Wahl am 6. Mai scheitert, es kommt 14 Tage später zu einem zweiten Wahlgang, auch hier erhält Merz keine absolute Mehrheit, im dritten Wahlgang dann jedoch eine relative Mehrheit. Bundespräsident Steinmeier kann dann entscheiden, Merz zum Kanzler zu machen oder den Bundestag aufzulösen (siehe oben, „Neuwahlen“).
Oder, Untervariante „b“: Friedrich Merz erhält am 6. Mai trotz Ablehnung des Koalitionsvertrages durch die SPD eine absolute Mehrheit der Stimmen. Entweder aus der SPD-Fraktion, die sich über das Votum der Partei hinwegsetzt, oder aus der AfD. Er muss damit vom Bundespräsidenten zum Kanzler ernannt werden.
Sollte Merz so zum Kanzler gewählt werden, schlägt er danach dem Bundespräsidenten ein Kabinett vor. Hier würde die Vereinbarung mit der SPD über die Verteilung der Ministerien nicht greifen, und das Kabinett vermutlich rein aus den Reihen der Union besetzt. Alles, was sich unterhalb von Gesetzen machen lässt, könnte diese Regierung aus eigener Kraft machen – also Verordnungen erlassen und Beschlüsse im Kabinett fassen sowie den beschlossenen Haushalt umsetzen. Bei Abstimmungen im Bundestag ist (mit Ausnahmen, s.u.) in der Regel eine einfache Mehrheit notwendig. Die hätte die CDU/CSU, wenn SPD oder AfD sich enthalten oder zustimmen. Insofern müsste die Union bei jeder Gesetzesvorlage versuchen, eine solche Mehrheit bzw. mindestens eine Enthaltung anderer Fraktionen zu verhandeln. Oder einen generellen Beschluss über eine Duldung etwa durch die AfD erreichen.
Die einfache Mehrheit reicht nicht, wenn es um Grundgesetzänderungen (2/3‑Mehrheit), um die Vertrauensfrage, um die Ausrufung des Spannungsfalls (2/3‑Mehrheit) sowie für die Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrats geht.
Da es nur ein konstruktives Misstrauensvotum gibt, könnte die Minderheitsregierung – auch wenn sie keine Mehrheit beispielsweise für den Haushalt findet – nur vorzeitig beendet werden, wenn der Kanzler die Vertrauensfrage stellt und diese scheitert (Neuwahlen) oder wenn eine andere Kanzlerkandidat*in eine absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestags hinter sich bringt (Szenario: Merz wird Kanzler einer von der SPD geduldeten Minderheitsregierung, parallel verhandeln Union und SPD weiter, einigen sich im zweiten Schritt dann doch auf einen Koalitionsvertrag und ggf. eine andere Person als Kanzler*in, diese stellt sich in einem konstruktiven Misstrauensvotum zu Wahl und erhält die absolute Mehrheit).
Die dritte Variante halte ich für unwahrscheinlich, aber nicht für unmöglich („Neuverhandlungen“): Die SPD sagt nein, die Kanzlerwahl am 6. Mai wird abgesagt, Union und SPD setzen sich noch einmal zusammen und erarbeiten einen in einigen Punkten geänderten Koalitionsvertrag (oder eine Zusatzvereinbarung dazu, die z.B. bestimmte Maßnahmen aus dem Finanzierungsvorbehalt heraus holt), die SPD-Mitgliedschaft stimmt erneut ab, und im Juni wird Merz zum Kanzler gewählt.
Bleibt eine vierte Variante, die ebenfalls für unwahrscheinlich halte („Verhandlungen mit der AfD“): Die SPD sagt nein, die Kanzlerwahl wird abgesagt, die Union bietet der AfD Verhandlungen an, diese finden statt, sind erfolgreich, und am Schluss steht entweder eine CDU-CSU-AfD-Regierung oder eine von der AfD tolerierte reine Unionsregierung.
Und natürlich ist immer noch komplettes Chaos möglich: die Kanzlerwahl wird abgesagt, die rot-grüne Restregierung bleibt kommissarisch im Amt, hat aber keine Mehrheit im Bundestag. Oder irgendwelche Black-Swan-Ereignisse – eine andere Person in der Union setzt sich intern gegen Merz durch, weil die Verhandlungen scheitern, oder es wird nach langen Gesprächen der Parteien mit dem Bundespräsidenten eine Expert*innen-Regierung eingesetzt, oder …
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Unterm Strich scheint mir jeder dieser anderen Wege riskant bis sehr riskant, weil weder Neuwahlen (mit einem möglicherweise noch schlechterem Ergebnis für progressive Kräfte) noch eine Tolerierung durch oder gar Koalition mit der AfD wünschenswert sind, und auch die Fortführung der kommissarischen Regierung eher ein Problem ist. Was die Entscheidung der SPD-Mitglieder dennoch nicht einfacher machen dürfte. Trotzdem vermute ich, dass es da am Schluss eine Mehrheit gibt, und Merz am 6. Mai zum Kanzler gewählt werden kann.