Science Fiction und Fantasy im Oktober 2024

Hochburg ruins XVIII

Einer der weni­gen Pod­casts, die ich regel­mä­ßig höre (und bei dem ich jetzt bei den Fol­gen aus dem Jahr 2011 ange­kom­men bin) ist „The Histo­ry of Rome“. Das ist tat­säch­lich genau das, was drauf­steht: von der Grün­dung bis zum Ende wird das römi­sche Reich vor allem anhand sei­ner Impe­ra­to­ren und Cäsa­ren bespro­chen, streng chro­no­lo­gisch geord­net. Und neben­bei geht’s auch um All­tags­kul­tur, Schlach­ten (deren Details ich dann sofort wie­der ver­ges­se) und geo­gra­fi­sche Beson­der­hei­ten, vor allem aber um Intri­gen und stän­di­ge Macht­wech­sel. Span­nend fin­de ich, dass eini­ges dann gar nicht so anders ist als heu­te; wahr­schein­lich lie­ße sich mit etwas Abstand – sagen wir, in 10.000 Jah­ren – sogar argu­men­tie­ren, dass auch in den heu­ti­gen Groß­mäch­ten noch viel Rom steckt, und z.B. die heu­ti­ge USA (oder das heu­ti­ge Russ­land?) gar nicht so viel ande­res als eine Fort­set­zung des Römi­schen Reichs mit ande­ren Mit­teln ist. Jeden­falls, war­um ich das hier erwäh­ne: in einer der letz­ten Fol­gen ging es um Kai­ser Juli­an, der von 361 bis 363 herrsch­te (und eher zufäl­lig an die Macht gekom­men war). 

Im Spe­cu­la­ti­ve-Fic­tion-Kon­text inter­es­sant ist nun, dass Juli­an einen Plan hat­te: er woll­te die von sei­nen Vor­gän­gern zuguns­ten des Chris­ten­tums erlas­se­nen Ver­bo­te der heid­ni­schen Reli­gio­nen rück­gän­gig machen und wohl eine ein­heit­li­che pla­to­nisch-neo­heid­ni­sche Staats­re­li­gi­on nach christ­li­chem Orga­ni­sa­ti­ons­vor­bild ein­füh­ren. Das gelang ihm aller­dings auf­grund sei­ner kur­zen Regie­rungs­zeit nicht – und genau das ist natür­lich ein her­vor­ra­gen­der Aus­gangs­punkt für Alternativgeschichten.

Im Wiki­pe­dia-Arti­kel habe ich dazu John M. Fords Roman The Dra­gon Wai­ting (1983, neu auf­ge­legt 2020) gefun­den und gele­sen. Die­ser Roman spielt im Über­gang vom Spät­mit­tel­al­ter zur frü­hen Neu­zeit in einer euro­päi­schen Welt, in der das Chris­ten­tum eine rand­stän­di­ge Reli­gi­on ist, Byzanz die gro­ße Metro­po­le und das byzan­ti­ni­sche Reich die beherr­schen­de Welt­macht ist, und in der nicht nur diver­se Kul­te und Reli­gio­nen, son­dern auch Magie und Vam­pi­ris­mus vor­kom­men. Aller­dings: dafür, dass die Geschich­te hier einen ganz ande­ren Ver­lauf genom­men hat, ist dann doch eini­ges sehr ähn­lich – die Medi­ci in Flo­renz tau­chen eben­so auf die die diver­sen fran­zö­si­schen und bri­ti­schen König*innen die­ser Zeit. Der titel­ge­ben­de Dra­che bezieht sich auf ein Medail­lon, das einen roten und einen wei­ßen Dra­chen im Kampf mit­ein­an­der zeigt, und das Wales – mit Hen­ry Tudor – Kampf gegen Eng­land – mit Richard III. – meint. Trotz­dem: ein inter­es­san­tes Buch. Dafür sor­gen ins­be­son­de­re die Bio­gra­fien und Bezie­hun­gen in der für den Quest zusam­men­ge­wür­fel­ten Trup­pe aus dem Zau­be­rer Hywel, der flo­ren­ti­ni­schen Ärz­tin Cyn­thia, dem exi­lier­ter byzan­ti­ni­scher Thron­wär­ter Dimi und dem bay­ri­schen Vam­pir und Fach­rit­ter-Inge­nieur Gre­gor, die ver­mut­lich für Men­schen mit tie­fe­rer Kennt­nis der bri­ti­schen Geschich­te noch span­nen­de­ren Abwei­chun­gen dazu – und Fords groß­ar­ti­ge und dich­te Erzähl­kunst. Ich habe eine Rezen­si­on von Jo Walt­on gefun­den, die dem Buch deut­lich bes­ser gerecht wird als mei­ne Kurz­zu­sam­men­fas­sung. (Schö­ne Beschrei­bung dar­aus: die ers­ten drei Kapi­tel lesen sich wie drei ganz unter­schied­li­che Roman­an­fän­ge – genau so ging’s mir beim Lesen). 

Das Buch hat mich dann dazu gebracht, ein­mal zu schau­en, was Ford sonst so geschrie­ben hat. Dadurch bin ich auf Aspects (2022) gesto­ßen. Und auf die Tat­sa­che, dass John. M. Ford tra­gi­scher­wei­se 2006 gestor­ben ist, mit nur 49 Jah­ren. Aspects ist unvoll­endet, und hin­ter­lässt das melan­cho­lisch-nost­al­gi­sche Gefühl, dass die Welt hier etwas ver­passt hat, was sie unter ande­ren Umstän­den hät­te haben kön­nen. Denn eigent­lich ist Aspects – bzw. die ers­ten knapp 500 Sei­ten eines grö­ße­ren Romans, dem der Schluss fehlt – nur der ers­te Roman einer grö­ßer ange­leg­ten Serie in einer her­vor­ra­gend gebau­ten Par­al­lel­welt, die in etwa dem spä­ten 18. oder 19. Jahr­hun­dert unse­rer Welt ähnelt. Auch die­ses Buch ist her­vor­ra­gend geschrie­ben, und Ford schafft es, die­se sekun­dä­re Welt leben­dig wer­den zu las­sen. Nicht, indem er Din­ge erklärt, son­dern weil immer wie­der wie selbst­ver­ständ­lich Bezü­ge zu his­to­ri­schen Ereig­nis­sen die­ser Welt ein­ge­streut sind, loka­le Dia­lek­te und Sozio­lek­te eine Rol­le spie­len oder Begriffs­schöp­fun­gen auf­tau­chen, die erschließ­bar sind, aber auf sub­ti­le Unter­schie­de hin­deu­ten (und nie auf­ge­setzt wir­ken, son­dern Teil die­ser Welt sind). Das Buch ist groß­ar­tig und dicht geschrie­ben, der Autor guckt genau hin. 

Aspects spielt in Lys­tou­rel, der flo­rie­ren­den Haupt­stadt der Repu­blik Les­co­ray – die ein biss­chen an Lon­don erin­nert – und beginnt im Monat der Schaf­hir­ten, kurz vor der Herbste­quinoxe. Die Repu­blik erstreckt sich von kar­gen Ber­gen im Nor­den bis hin zu son­ni­gen Gefil­den im Süden. Und es ist eine Repu­blik – mit einem zwei­ge­teil­ten Par­la­ment, einer Kam­mer aus Lords (und Ladys) und einer Kam­mer aus „com­mon­ers“. Neben den ver­erb­ten Sit­zen der Coro­na­ge (was ich frei als „Kron­le­hen“ über­set­zen wür­de, auch wenn der König schon lan­ge abge­schafft ist), den Corons, sit­zen reli­giö­se und magi­sche Lords und Ladys im Ober­haus. Die Reli­gi­on Les­co­rays ver­ehrt die Göt­tin in ihren ver­schie­de­nen Aspek­ten (daher der Titel des Buchs), und ja: auch hier gibt es Magie, mit einem inter­es­san­ten Sys­tem, das sicher­stellt, das eini­ges dann doch bes­ser dem Inge­nieur­we­sen über­las­sen wird. Haupt­per­so­nen des Buchs sind zwei Corons, Lord Varic (der lie­ber in der Stadt Lys­tou­rel lebt als in sei­nem Kron­le­hen im wüs­ten Nor­den), und Lady Longlight aus einem pro­vin­zi­el­len Lehen ganz am Rand des Reichs. Ent­spre­chend geht es viel um Poli­tik und poli­ti­sche Intri­gen. Das Buch beginnt mit einem Duel und endet – abrupt abbre­chend – mit einem Kapi­tel, in dem Varic dar­über sin­niert, ob es hilft, das Duel­lie­ren per Gesetz zu ver­bie­ten, und war­um das nicht so ist. Dazwi­schen fin­den wir par­la­men­ta­ri­sche Vor­gän­ge, reich beschrie­be­ne Spei­sen und Klei­dungs­sti­le, eine ganz genau hin­schau­en­de Beob­ach­tungs­ga­be, die auch auf kleins­te Ges­ten ach­tet, das Haus Stran­ge, das aus der mon­dä­nen All­tags­welt gefal­len zu sein scheint, immer wie­der die Eisen­bahn und ande­re moder­ne Errun­gen­schaf­ten, kom­pli­zier­te Lie­bes­ge­schich­ten, Exkur­se in die Geschich­te und Mythen­welt Les­co­rays, hin­ge­bungs­voll beschrie­be­ne Gesell­schafts­spie­le und einen Ban­di­ten­über­fall. Und das alles in einer Welt, die ein biss­chen wie unser 18. oder 19. Jahr­hun­dert ist, in der es aber nor­mal zu sein scheint, wenn ein Kind zwei Müt­ter hat, Men­schen stumm sind oder im Roll­stuhl sit­zen, und in der etwa der Gre­at Cap­tain der Poli­zei selbst­ver­ständ­lich eine Frau ist. Und das alles, ohne ana­chro­nis­tisch zu wir­ken – in Lys­tou­rel ist es halt ein­fach so. Genau­so, wie es dort Stra­ßen­kin­der, Klein­kri­mi­nel­le und Spio­na­ge gibt und eben über­haupt nicht alles gut ist. Ford macht hier einen Kos­mos auf, in dem ich ger­ne län­ger ver­weilt wäre. 

Im direk­ten Ver­gleich der bei­den Bücher wür­de ich sagen, dass ihm hier gelingt, was er in The Dra­gon Wai­ting ver­sucht hat – eine alter­na­ti­ve Geschich­te zu schrei­ben, in einer Welt, die in vie­len Punk­ten unse­rer ähnelt, in ande­ren aber gra­vie­rend davon abweicht – und damit eine Folie zu schaf­fen, vor der die genaue Beob­ach­tung mensch­li­cher und poli­ti­scher Bezie­hun­gen mög­lich ist. 

Eben­falls her­vor­ra­gend fand ich Sourdough (2017) von Robin Slo­an (zu des­sen ande­ren Büchern ich im Sep­tem­ber etwas geschrie­ben hat­te). Die Pro­gram­mie­re­rin Lois lebt in San Fran­cis­co und arbei­tet für ein auf­stre­ben­des und hip­pes Robo­tik-Unter­neh­men. Aus einer Lau­ne her­aus lässt sie sich dar­auf ein, bei einem Lie­fer­ser­vice, der mit hand­ge­schrie­be­nen Zet­teln für sei­ne Spe­zia­li­tä­ten wirbt, schar­fe Sup­pe und Sau­er­teig­brot zu bestel­len. Sie freun­det sich mit den Inha­bern die­ses Lie­fer­ser­vice an, und bekommt zum Abschied den namens­ge­ben­den Sau­er­teig geschenkt. Der ist ein biss­chen beson­ders und ver­bin­det San Fran­cis­co mit der ima­gi­nä­ren Kul­tur der immer auf Wan­der­schaft befind­li­chen Mazg. Lois lernt not­ge­drun­gen Backen – und gerät in eine unwahr­schein­li­che, aber char­mant erzähl­te Para­bel über Start-ups, Hybris und die Welt der Hefen und Bak­te­ri­en. Schnell gele­sen, und genau das rich­ti­ge für fins­te­re Zeiten.

In gewis­ser Wei­se eben­falls um Hefen und Bak­te­ri­en geht es in Ali­en Clay (2024) von Adri­an Tchai­kovs­ky. Und auch an Greg Egans Mor­pho­tro­phic fühlt ich mich erin­nert, weil bei­de eine ähn­li­che Prä­mis­se tei­len: eine frem­de Welt, in der die Gren­zen zwi­schen Orga­nis­men flie­ßend sind. Bei Egan sind es Zell­ko­lo­nien, die zwi­schen Orga­nis­men wech­seln, bei Tchai­kovs­ky eher grö­ße­re, sym­bio­ti­sche Ein­hei­ten. Er ent­wirft eine Bio­lo­gie, in der alles mit allem ver­netzt ist, und in der Spe­zi­al­funk­tio­nen (wie z.B. Sehen oder Ver­dau­en) von dar­auf spe­zia­li­sier­ten Lebewesen/Organellen durch­ge­führt wer­den, die mun­ter zwi­schen Orga­nis­men wech­seln. Und natür­lich gibt es hier auch kei­ne Gren­ze zwi­schen Tie­ren und Pflan­zen. Die Welt, die so funk­tio­niert, heißt Kiln und umkreist einen Stern, der nur weni­ge Licht­jah­re von der Erde ent­fernt ist. Es gibt hier eine Straf­ko­lo­nie – wie das mit einem Ver­satz über Licht­jah­re hin­weg funk­tio­nie­ren soll, wird sogar halb­wegs plau­si­bel gemacht. Ziel: Suche nach der unter­ge­gan­ge­nen Zivi­li­sa­ti­on, von der nur noch Rui­nen zu fin­den sind. Die Ideo­lo­gie des irdi­schen Regimes setzt auf wis­sen­schaft­li­che Ortho­do­xie – der Mensch ist die Kro­ne der Schöp­fung im Uni­ver­sum, das End­ziel der Evo­lu­ti­on. Die Straf­ko­lo­nie kennt zwei Klas­sen – den Kom­man­dan­ten und die Wissenschaftler*innen, und die in bil­ligst gedruck­ten Raum­schif­fen her­ge­flo­ge­ne Unter­klas­se aus Arbeiter*innen und in Ungna­de gefal­le­nen Wissenschaftler*innen, die es auf der Erde gewagt haben, gegen das Regime auf­zu­be­geh­ren. Einer davon ist der Erzäh­ler des Buchs. Tchai­kovs­ky bringt bei­des sehr packend zusam­men: das gna­den­lo­se Regime und die Rebel­li­on dage­gen, und die Suche nach einer bio­lo­gi­schen Wahr­heit, die es nicht geben darf. 

Soweit die Bücher. Ange­guckt habe ich Der Jun­ge und der Rei­her (Net­flix, 2023) von Hayao Miya­za­ki, bin damit aber nicht so rich­tig warm gewor­den. Zei­chen­stil und Quer­ver­wei­se sind her­vor­ra­gend, aber die (wohl teil­wei­se auto­bio­gra­fi­sche, magisch-rea­lis­tisch gespie­gel­te, teil­wei­se auf „How Do You Live“ anspie­len­de) Geschich­te war für mich nicht gut nach­voll­zieh­bar, das Han­deln der Protagonist:innen wenig plausibel. 

Dann habe ich Mars Express ange­schaut, einen fran­zö­si­schen SF-Noir-Ani­ma­ti­ons­film (2023). Ein Ver­bre­chen soll auf­ge­klärt wer­den, die Poli­zis­tin, die ermit­telt, ist dem Alko­hol ver­fal­len, es gibt Robo­ter und böse Groß­kon­zer­ne. Also alles sehr cyber­punk-typisch, das Ende phi­lo­so­phi­scher als zunächst ver­mu­tet. Der Zei­chen­stil erin­ner­te mich an Moe­bi­us‘ kla­re Lini­en. Bis­her habe ich den Film nur als Kauf­an­ge­bot gesehen. 

Gese­hen habe ich zudem eini­ge Fol­gen der bei Apple-TV lau­fen­den Serie Stran­ge Pla­net. Das sind war­me, humor­vol­le Zei­chen­trick-Epi­so­den über mensch­li­che Pro­ble­me in einem Set­ting, in dem alles ein biss­chen anders ist, weil das gan­ze eben auf einem selt­sa­men Pla­ne­ten spielt, auf dem blau­häu­ti­ge Wesen Strümp­fe tra­gen, Tau­ben drei Augen haben und Begrif­fe so hei­ßen, wie sie auch hei­ßen könn­ten. Oder, wie es die Wiki­pe­dia beschreibt: „It fol­lows a pla­net of blue beings wit­hout gen­der or race who have human tra­di­ti­ons and beha­vi­ors but dis­cuss them in high­ly tech­ni­cal terminology.“

Science Fiction und Fantasy im Frühjahr 2022, Teil II

Miri im Regal

Nach­dem ich vor ein paar Tagen etwas zu den Fil­men und Seri­en geschrie­ben habe, die ich in die­sem Früh­jahr ange­schaut habe, nun zur (digi­tal) gedruck­ten Literatur.

Ich fan­ge „meta“ an – mit zwei Büchern, die sich auf unter­schied­li­chen Enden der Kom­ple­xi­täts­ska­la mit SF als Lite­ra­tur­gen­re aus­ein­an­der­set­zen. Das ist zum einen der im Ori­gi­nal fran­zö­si­sche Comic Die Geschich­te der Sci­ence-Fic­tion (2021) von Xavier Dol­lo und Dji­bril Moris­se­te-Phan. Nett, auch die Idee, Autor*innen und deren erfun­den­de Wel­ten als Teil der Lehr­ge­schich­te auf­tau­chen zu las­sen – aber irgend­wie wur­de mir nicht so ganz klar, an wen sich das rich­tet. Für eine tie­fer­ge­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Geschich­te der SF ist’s dann doch zu ober­fläch­lich, zudem sind sei­ten­lan­ge in Groß­buch­sta­ben ver­fass­te Info­bo­xen eher nicht so pri­ckelnd. Einer gan­zen Rei­he der Buch‑, Film- und Comic­emp­feh­lun­gen, die am Rand des Comics emp­foh­len wer­den, bezie­hen sich auf die fran­zö­si­sche Gen­re­ge­schich­te und sind hier nicht erhält­lich. Wer noch nichts über die Geschich­te der Sci­ence Fic­tion als Gen­re weiß, wird durch die­ses Buch eher ver­wirrt – wer sich schon damit aus­kennt, wird rela­tiv bald unge­dul­dig. Viel­leicht wäre das gan­ze als inter­ak­ti­ve Web­site inter­es­san­ter als als gedruck­tes Buch. 

Am ande­ren Ende der Kom­ple­xi­täts­ska­la liegt Diet­mar Daths Nie­ge­schich­te. Sci­ence Fic­tion als Kunst- und Denk­ma­schi­ne (2019). Auf fast tau­send Sei­ten ent­wi­ckelt Dath – der ja auch selbst Autor im Gen­re ist – eine an Bei­spie­len und bio­gra­fisch-poli­tisch Exkur­sen rei­che Ana­ly­se der Funk­ti­on von Sci­ence Fic­tion, die auch für Genrekenner*innen noch Ent­de­ckun­gen bereit hält. Das ist aller­dings ein Werk, das stu­diert wer­den muss. Ins­be­son­de­re die zugrun­de­lie­gen­de Theo­rie, die im Begriff des alge­bra­ischen „Auf­he­bungs­funk­tors“ und der „Neg­in­duk­ti­on“ mün­det, stellt Grau­brot oder schlim­me­res dar, und muss erst ein­mal durch­dacht wer­den, um die rest­li­chen 900 Sei­ten mit Genuss und Erkennt­nis­ge­winn zu lesen. Deut­lich wird jeden­falls die Ein­bet­tung der SF-Kunst­pro­duk­ti­on in ihre jewei­li­gen gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se – und deut­lich wird auch, dass das in Geschich­ten gepack­te Nach­den­ken dar­über, wie der Lauf der Din­ge wäre, eigent­lich nie unpo­li­tisch ist, und trotz­dem nicht ein­fach nur ein Werk­zeug ist, son­dern einen eige­nen lite­ra­ri­schen Anspruch entwickelt.

Soweit zum Lesen von Tex­ten über Sci­ence Fic­tion – jetzt zur SF selbst.

Von dem nige­ria­nisch-bri­ti­schen Autor Tade Thomp­son habe ich Rose­wa­ter (2016) gele­sen – ein gar nicht so ein­fach auf einen Punkt zu brin­gen­der Roman aus den 2050er/20260er Jah­ren. Er spielt weit­ge­hend in Nige­ria, an einem Ort namens Rose­wa­ter, der durch eine gigan­ti­sche, undurch­dring­li­che Kup­pel gekenn­zeich­net ist, die das Ali­en Worm­wood errich­tet hat. Die Haupt­per­son, Kaa­ro, ist/war Spe­zi­al­agent mit psy­chi­schen Fähig­kei­ten – und soll nun her­aus­fin­den, war­um „Sen­si­ti­ve“ wie er plötz­lich erkran­ken und ster­ben. Neben der durch­aus packen­den (und mei­nes Erach­tens gut ver­film­ba­ren) Hand­lung kann der Roman auch als Aus­ein­an­der­set­zung mit Hybri­di­sie­rung und lokaler/globaler Kul­tur in Nige­ria gele­sen werden.

Auf Up against it (2011) von Lau­ra Mixon bin ich gesto­ßen, weil Cory Doc­to­row über die jetzt erschie­ne­ne Neu­auf­la­ge get­wit­tert hat. Und hey – es ist extrem bedau­er­lich, Mixon und ihr Buch erst jetzt ent­deckt zu haben. Mich erin­ner­te das Set­ting etwas an The Expan­se (der ers­te Band davon ist eben­falls 2011 erschie­nen), ins­be­son­de­re mit Blick auf die Kon­flik­te zwi­schen Erde und Astro­iden-Sied­lung, letz­te­re der Ort der Hand­lung. Zugleich ist Mixon eine wür­di­ge Nach­fol­ge­rung der cyber­pun­ki­gen Spiel­art der Space Ope­ra (ich den­ke da an Bruce Ster­lings Schis­ma­trix [das Mixon die Idee eines Viri­di­an Move­ments von ihm über­nom­men hat, spricht für sich und für sie] oder die Welt­raum-Bücher von Micha­el Swan­wick), und auch der eine oder ande­re Bezug zu Snow Crash von Neal Ste­phen­son lie­ße sich her­stel­len. Die inein­an­der ver­schränk­ten Fokus­punk­te, die Mixon benutzt, sind zum einen der Blick von Geoff, einem Teen­ager, der lie­ber (Nano-)Dinge zusam­men­hackt, als etwas sinn­vol­les zu tun, und der der Admi­nis­tra­to­rin Jane, die das Wohl­erge­hen der gan­zen Kolo­nie vor Augen hat, und gleich­zei­tig in Macht­spie­len gefan­gen ist. Geoffs Bru­der kommt ums Leben – was erst wie ein Unfall aus­sieht, ist ein Mord – und nur der Beginn einer Ent­wick­lung, die ganz Pho­caea in Gefahr brin­gen kann. Mir hat’s sehr gut gefallen.

Eben­falls Space Ope­ra, aber ganz anders gear­tet, sind eini­ge der Kurz­ge­schich­ten und Novel­len von Ali­et­te de Bodard, die ich erst jetzt für mich ent­deckt habe. Wäh­rend ich mit der Urban Fan­ta­sy Of Dra­gons, Feasts and Mur­ders (2020) nicht viel anfan­gen konn­te, viel­leicht auch, weil ich mich in die S/M‑Beziehung zwi­schen den bei­den Haupt­per­so­nen nicht so rich­tig ein­füh­len konn­te, bin ich an ihren Xuya-Uni­ver­se-Geschich­ten hän­gen geblie­ben. Im ein­zel­nen sind das die Novel­len On a Red Sta­ti­on, Drif­ting [2012], The Cita­del of Wee­ping Pearls [2015], The Tea Mas­ter and the Detec­ti­ve [2018] und Seven of Infi­ni­ties [2020] sowie diver­se Kurz­ge­schich­ten. Die gemein­sa­me Welt (zum Teil tau­chen auch Per­so­nen aus der einen Novel­le im Hin­ter­grund der ande­ren auf) ist ein viet­na­me­sisch gepräg­tes Welt­raum­im­pe­ri­um. Wer­te wie die Ach­tung der Fami­lie und eine strik­te Hier­ar­chie zie­hen sich hier eben­so durch wie AIs, die auf Har­mo­nie­leh­ren auf­bau­en, über­licht­schnel­le Schif­fe steu­ern und Raum­sta­tio­nen kon­trol­lie­ren oder Memo­ry­chips, die den Rat der ver­stor­be­nen Älte­ren immer parat hal­ten – kom­bi­niert mit quee­ren Roman­zen, Kri­mi­nal­fäl­len und Sozi­al­stu­di­en. Eine lesens­wer­te und zu recht mehr­fach preis­ge­krön­te Mischung.

Adri­an Tchai­kovs­kys Elder Race (2021) wirkt erst ein­mal wie Fan­ta­sy – es gibt eine Köni­gin und mit­ein­an­der im Krieg lie­gen­de König­rei­che, es gibt Gerüch­te über Magie und dunk­le Dämo­nen, und auf dem Berg in einem Turm lebt ein Zau­be­rer. Rela­tiv bald ist klar, dass der ein Anthro­po­lo­ge ist (des­we­gen auch die Ver­glei­che mit Le Guin in den Buch­be­spre­chun­gen; ganz die­sen Sta­tus erreicht das Buch mei­ner Mei­nung nach aber nicht), dass es hier um eine ver­ges­se­ne Kolo­nie geht, und dass das, was wie Magie aus­sieht, eigent­lich Tech­no­lo­gie ist. Inter­es­sant wird das Buch durch die dop­pel­te Per­spek­ti­ve – mit Lynes­se sind wir in einem Aben­teu­er­ro­man, mit Nyr in einer Lost-Colo­ny-Geschich­te, und das wech­selt von Kapi­tel zu Kapi­tel, bis die Per­spek­ti­ven begin­nen, sich zu schneiden.

Defi­ni­tiv kei­ne Sci­ence Fic­tion ist dage­gen Fran­ce­s­ca Mays Wild and Wicked Things (2022) – Eng­land nach dem ers­ten Welt­krieg, es gibt Magie, die aller­dings nach dem Ein­satz im Krieg ver­bo­ten und ver­pönt ist. Annie Mason kommt nach Crow Island, um das Erbe ihres Vaters anzu­tre­ten und den Kon­takt zu ihrer Freun­din Bea­tri­ce wie­der her­zu­stel­len. Es gibt Gerüch­te dar­über, dass Magie auf Crow Island gelebt wird – ins­be­son­de­re die Par­tys im Delacroix-Haus sind berüch­tigt. Annie fühlt sich zu Emmel­ine Delacroix hin­ge­zo­gen – und gerät immer tie­fer in die Welt der Magie, die ihre Kos­ten hat. Das Buch ist fes­selnd geschrie­ben und bringt das Zeit­ge­fühl die­ser Zwi­schen­kriegs­zeit sehr gut rüber; in gewis­ser Wei­se muss­te ich daher beim Lesen an Vogts Anar­chie Déco den­ken – bei­den Büchern gemein­sam ist die unge­fäh­re Epo­che, eine que­e­re Lie­bes­ge­schich­te und eben eine Alter­na­tiv­welt­ge­schich­te, in der es Magie gibt – aber so rich­tig leben­dig wird all das für mich bei May und nicht bei den Vogts. 

Nicht wirk­lich emp­feh­len möch­te ich am Schluss Kame­ron Hur­leys Empire Ascen­dant (2015), den zwei­ten Teil ihrer World­brea­k­er-Geschich­te. Ich muss­te mich eher durch­ar­bei­ten, die Viel­zahl an Per­spek­ti­ven mit jeweils unter­schied­li­chen Kon­ven­tio­nen lässt den Über­blick schnell ver­mis­sen. Wer epi­sche Fan­ta­sy – hier ver­mischt mit Par­al­lel­wel­ten – mag, wird eini­ges an Empire Ascen­dant span­nend fin­den, mir war das zu voll­ge­packt, und teil­wei­se auch zu grau­sam. Band 2 gele­sen habe ich vor allem, weil ich am Schluss von Band 1 wis­sen woll­te, wie es wei­ter­geht.. Teil 3 wer­de ich aber erst mal nicht lesen.

Herbstlektüre 2021

Es folgt – wie immer in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den – ein Update dazu, was ich in den letz­ten Wochen/Monaten so gele­sen bzw. ange­schaut habe, also im Bereich Sci­ence Fic­tion und Fantasy. 

Wenn ich mit dem Audio­vi­su­el­len anfan­ge, dann hat mir die Ani­ma­ti­ons­se­rie Insi­de Job (Net­flix) recht gut gefal­len. Dys­funk­tio­na­les Team ver­sucht, in einer der für die Ver­de­ckung von Ver­schwö­run­gen aller Art zustän­di­gen gehei­men Fir­men genau das zu tun, und hat damit mehr oder weni­ger Erfolg. Der eine oder ande­re Scherz mag vor­her­seh­bar sein, ins­ge­samt scheint mir die­se Art von apo­ka­lyp­ti­schem Humor ganz gut ins Jahr 2021 zu passen.

Nur teil­wei­se begeis­tert bin ich dage­gen von Jona­than Stran­ge & Mr Nor­rell (Prime), der Seri­en­ver­fil­mung des Buchs von Susan­na Clar­ke. An und für sich ist die Serie gut gemacht – es geht um die Wie­der­kehr (oder auch nicht) der Magie im frü­hen 19. Jahr­hun­dert in Eng­land, mit peri­oden­ty­pi­schen Kos­tü­men, Aus­stat­tun­gen usw. Aber irgend­wie passt die Serie nicht zu mei­ner (atmo­sphä­ri­schen) Erin­ne­rung an das Buch. 

Ach ja. Dune. Die Neu­ver­fil­mung habe ich mir auch ange­schaut (im Stream, nicht auf der gro­ßen Lein­wand), und … hm. Die Ver­fil­mung ist sehr nah an dem Buch von Frank Her­bert, umfasst aber nur den ers­ten Teil des ers­ten Buchs der Serie. Und eigent­lich ist damit auch schon das größ­te Pro­blem ange­spro­chen: 2 1/2 Stun­den lang geht es um Expo­si­ti­on, die Vor­ge­schich­te wird ange­deu­tet, die ein­zel­nen Akteu­re wer­den vor­ge­stellt, und in der zwei­ten Hälf­te des Films in die bekann­te kri­sen­haf­te Aus­gangs­si­tua­ti­on in der Wüs­te gebracht, auf der der Rest von Dune auf­baut. Sehr schö­ne Bil­der, ins­be­son­de­re die Archi­tek­tur – auch die der bru­ta­lis­ti­schen Beton-Raum­schif­fe – hat mir gut gefal­len. Die Schauspieler:innen machen ihre Sache gut. In der Sum­me, abge­se­hen von ein paar Moder­ni­sie­run­gen, aber letzt­lich gar kei­ne so gro­ße Dif­fe­renz zwi­schen Lynch und Villeneuve. 

Zu den Büchern. 

„Herbst­lek­tü­re 2021“ weiterlesen

Leseempfehlungen für den Sommer

Dass ich in den letz­ten Tagen kaum dazu gekom­men bin, mich um die­ses Blog zu küm­mern, hat auch etwas damit zu tun, dass ich eini­ge SF-Neu­erschei­nun­gen ver­schlun­gen habe. Die Art Bücher, bei denen am Ende Trau­rig­keit ein­setzt, weil das Buch zu Ende ist, und die Geschich­te doch eigent­lich noch wei­ter gehen könn­te. Falls also noch jemand was zum Lesen für den Som­mer sucht, ist hier viel­leicht etwas dabei.

Beson­ders emp­feh­len möch­te ich Semio­sis von Sue Bur­ke. Auf den ers­ten Blick ist das eine die­ser Geschich­ten von einem Gene­ra­tio­nen­raum­schiff, das auf einem Pla­ne­ten lan­det, um eine neue Kolo­nie zu grün­den. (Dass es von die­ser Sor­te Geschich­ten in den letz­ten Jah­ren eini­ge gab, mag mir nur so vor­kom­men. Viel­leicht hat es aber auch was mit dem Wunsch, die­sem Pla­ne­ten zu ent­kom­men, zu tun). Inter­es­sant wird die­ses Buch des­we­gen, weil wir – über meh­re­re Gene­ra­tio­nen hin­weg – der idea­lis­tisch gepräg­ten Kolo­nie dabei zuschau­en, wie sie zum einen ihre ganz eige­nen Regeln ent­wi­ckelt, für jede Gene­ra­ti­on immer wie­der neu. Zum ande­ren wird nach und nach klar, dass intel­li­gen­tes Leben in Pflan­zen­form durch­aus aggres­siv sein kann. Aber eben auch lern­fä­hig. Und nach und nach wach­sen einem die ganz unter­schied­li­chen Per­sön­lich­kei­ten ans Herz. 

Ein biss­chen ähn­lich hin­sicht­lich des Ein­füh­lens in wirk­lich frem­de Intel­li­gen­zen ist Child­ren of Ruin von Adri­an Tchai­kovs­ky, eine Art Par­al­lel­quel zu sei­nen Child­ren of Time. Die damals noch sehr fremd­ar­ti­gen intel­li­gen­ten Spin­nen sind uns jetzt nah – aber was pas­siert, wenn Tin­ten­fi­sche ganz getrennt und ver­teilt begin­nen, zu den­ken, und unter­be­wusst Raum­fahrt zu betreiben?

Genug der Gene­ra­tio­nen­raum­schif­fe und frem­den Lebens­for­men. Ein ande­rer Trend sind Deep-Tech-Dys­to­pien, irgend­wie das Cyber­punk der 2020er Jah­re. Neben Cory Doc­to­rows Wal­ka­way (und sei­ner Novel­len-Samm­lung Radi­cal­i­zed) passt auch das gera­de erschie­ne­ne Ste­al­ing Worlds von Karl Schroe­der gut zu die­sem Trend. Nach Trump und Kli­ma­kri­se sind die USA ein ver­trau­ens­lo­ses Land am Abgrund. Dafür gibt es über­all Sen­so­ren und Über­wa­chungs­tech­nik. Das scheint gutes zu haben, wenn es etwa um eine glo­ba­le Block­chain zur Über­wa­chung von Umwelt­pro­ble­men geht, führt aber auch dazu, dass es gar nicht so ein­fach ist, unter­zu­tau­chen. Aug­men­ted Rea­li­ty a la Goog­le Glass ist weit ver­brei­tet, und letzt­lich ist es eben­so ein Spiel, den Über­wa­chungs­ka­me­ras aus­zu­wei­chen, wie es ein Spiel ist, zer­fal­le­ne Häu­ser wie­der auf­zu­bau­en. Oder steckt mehr dahinter?

(Etwas weni­ger Deep-Tech, aber auch near future in einer sehr glo­ba­len und diver­sen Welt: Eliza­beth Bears Novel­le In the House of Arya­man, a Lonely Signal Burns, eine Art Detektivgeschichte.)

Schon etwas älter und nicht so glaub­wür­dig, aber nichts­des­to­trotz span­nend zu lesen, ist ein ande­res Unter­gangs­sze­na­rio für die USA. In Robert Charles Wil­sons Juli­an Com­stock. A Sto­ry of the 22nd Cen­tu­ry lan­den wir in einem Land, das sich mehr nach 19. Jahr­hun­dert als nach Zukunft anfühlt, mit Feu­dal­her­ren und einer strik­ten Klas­sen­ge­sell­schaft, einer gera­de eben begin­nen­den Wie­der­ent­de­ckung der Indus­tria­li­sie­rung (im Post-Öl-Zeit­al­ter), einer alles domi­nie­ren­den Kir­che und radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len und Bohe­mi­ans … Wie gesagt, beson­ders glaub­wür­dig fin­de ich den völ­li­gen tech­no­lo­gi­schen Ver­fall nicht, aber inter­es­sant ist das allemal.

Ach ja, indus­tri­el­le Fan­ta­sy: Micha­el Swan­wick beschreibt in The Iron Dragon’s Mother Faery nach der Indus­tri­al Revo­lu­ti­on, aus der Sicht einer Dra­chen­pi­lo­tin, die nach ihrem ers­ten Flug uneh­ren­haft ent­las­sen wer­den soll – und auf der Flucht ganz unter­schied­li­chen Geschich­ten und Gestal­ten begegnet. 

Last but not least habe ich Kame­ron Hur­ley für mich ent­deckt. Ihre Light Bri­ga­de spinnt aus­ge­hend von Bea­men-als-Waf­fe eine Nicht-ganz-Mili­ta­ry-SF; viel­leicht ist’s auch ein Kom­men­tar zu Hein­leins Star­ship Tro­o­pers. Fas­zi­nie­ren­der fand ich The Stars Are Legi­on, eine sehr eige­ne Geschich­te über bio­tech­no­lo­gi­sche Raum­schiff­wel­ten, Gebär­fä­hig­keit und Machtspiele.