Herzlichen Glückwunsch, Jungle World!

Das mit mir und Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten ist ja so eine Sache. Eigent­lich mag ich gedruck­te, regel­mä­ßig erschei­nen­de Publi­ka­tio­nen sehr ger­ne. Fak­tisch lan­de­te die taz irgend­wann unge­le­sen im Alt­pa­pier, wur­de mir die brand eins zu lang­wei­lig, weil sie sich wie­der­hol­te, und sta­pel­ten sich die Blät­ter, ohne dass ich den Reiz ver­spür­te, sie zu lesen. Tat­säch­lich habe ich – neben RSS-Feeds etwa des Guar­di­an und der FAZ, diver­sen Blogs und dem täg­li­chen Baden-Würt­tem­berg-Pres­se­spie­gel – heu­te nur noch zwei regel­mä­ßig erschei­nen­de Publi­ka­tio­nen im Abo. Die bei­den stel­len ein schö­nes Gegen­satz­paar dar. Auf der einen Sei­te ist es der MERKUR als bil­dungs­bür­ger­li­che Monats­zeit­schrift, auf der ande­ren die Jungle World, die heu­te mit einer sehr schön gemach­ten und span­nen­den Son­der­aus­ga­be zum 20-jäh­ri­gen Jubi­lä­um erschie­nen ist.

Und ja: ich lese die die Jungle World regel­mä­ßig und freue mich, dass es sie gibt. Ange­fan­gen damit habe ich ver­mut­lich aus Neu­gier­de (ich müss­te in mei­nen Kon­to­aus­zü­gen nach­schau­en, seit wann ich sie eigent­lich abon­niert habe). Also, aus Neu­gier­de, was das für eine unge­wöhn­lich undog­ma­ti­sche lin­ke Zei­tung ist. Und wegen des anfangs extrem unkon­ven­tio­nel­len Lay­outs. Letz­te­res hat sich inzwi­schen gebes­sert (und gefällt mir immer noch); das dies­be­züg­li­che Gespräch im dschun­gel (der Kul­tur­bei­la­ge der Jungle World) ist sehr aufschlussreich. 

Gemerkt habe ich dann, dass die Jungle World eine Zei­tung mit Hal­tung ist (ins­be­son­de­re beim The­ma Isra­el), aber eben kei­ne, die immer nur ihre Hal­tung ver­kau­fen will. Son­dern eine, die inter­es­san­te Din­ge macht. Dop­pel­sei­ti­ge aus­führ­li­che Repor­ta­gen mit vie­len Fotos über Absei­ti­ges aus der gan­zen Welt. Comic­k­olum­nen. Kaf­fee­fle­cken im Lay­out. Kom­men­ta­re, die bei aller Ernst­haf­tig­keit auch ger­ne mal in Rich­tung Selbst­iro­nie ten­die­ren. Auch: Ziem­lich viel Ver­ständ­nis für „Cyber“ und „Netz“, bevor es „Digi­ta­li­sie­rung“ hieß.

Die Jungle World ist defi­ni­tiv kei­ne Par­tei­zei­tung, auch kei­ne Split­ter­grup­pen­zei­tung. Sie hat eine Hal­tung, sie ist posi­tio­niert (aber kri­tisch auch der Cri­ti­cal Whiten­ess gegen­über), aber sie legt Wert auf unin­sze­nier­te Debat­ten. Und auf Ver­ständ­lich­keit jen­seits des Sze­ne­jar­gons. Und all das ist gut so.

Ent­stan­den ist die Zei­tung aus einem Streit über die Aus­rich­tung der FDJ-Zei­tung Jun­ge Welt. Statt sich auf Kurs brin­gen zu las­sen, wur­de die Grün­dungs­re­dak­ti­on der Jungle World raus gewor­fen. Sie macht seit­dem ihr eige­nes Ding. 

Heu­te lese ich die Jungle World vor allem als Gegen­gift gegen Betriebs­blind­heit. Es ist hilf­reich, zu sehen, dass es sowas wie begrün­de­te und gut argu­men­tier­te lin­ken Kri­tik (auch an, um nur ein Bei­spiel zu nen­nen, grü­ner Poli­tik) gibt, die nicht zynisch aus­fällt, nicht vom Klas­sen­stand­punkt argu­men­tiert, die aber erst recht nicht mehr Main­stream will, son­dern schlicht von ande­ren und durch­aus ratio­na­len Denk­vor­aus­set­zun­gen aus­geht, wie lin­ker Huma­nis­mus sein könn­te. (Und auch, weil es hilf­reich ist, ab und zu mal Din­ge zu lesen, die zwar links, aber nicht unbe­dingt an Öko­lo­gie oder Nach­hal­tig­keit ori­en­tiert sind …). 

Es gibt Arti­kel in der Jungle World, die ich nicht lese, weil sie ohne Ber­li­ner Insi­der­wis­sen zu zise­liert sind, um wirk­lich zu ver­ste­hen, um wel­che Sze­nestreits es da gera­de geht, oder weil sie schlich­te Zusam­men­fas­sun­gen der Tages­po­li­tik dar­stel­len, die nach ein paar Tagen ver­al­tet sind, oder weil mir der Nerv fehlt, mich mit ande­ren Welt­ge­gen­den zu befas­sen. Das ändert nichts an der Not­wen­dig­keit einer sol­chen Zeitung. 

Die Jungle World infor­miert jede Woche dar­über, dass Ras­sis­mus und Nazi­tum in Deutsch­land All­tag sind, in dem sie schlicht Vor­fäl­le im „Deut­schen Haus“ auf­lis­tet. Auch das ist lei­der eine wich­ti­ge Funk­ti­on der Jungle World.

Ich blei­be Abon­nent, ich lese euch wei­ter­hin – und wün­sche euch zum Geburts­tag die Fähig­keit, auch wei­ter­hin über­ra­schen zu kön­nen, ohne dabei belie­big zu werden.

P.S.: Wer selbst rein­schau­en will – unter jungle.world fin­det sich vie­les auch online.

Leseprotokoll Mai 2017

Im Mai bin ich gar nicht so zum Lesen gekom­men, wie ich das eigent­lich woll­te. Das lag unter ande­rem an den Wah­len (die ich dann lie­ber ver­folgt habe, statt ein Buch zu lesen), aber auch an diver­sen Fil­men, die ich allei­ne oder mit mei­nen Kin­dern ange­schaut habe. Neben diver­sen Aus­ga­ben des MERKUR (den ich im All­ge­mei­nen sehr mag, der aber oft unge­le­sen lie­gen­bleibt) und dem Kin­der­buch Das Augen-Ver­wirr-Buch von Sil­ke Vry (opti­sche Täu­schun­gen in Kunst­wer­ken; schön gemacht, aber mei­ne Kin­der fan­den es eher lang­wei­lig) waren das vor allem zwei Bücher:

Jor­ge Cham und Dani­el White­son haben We have no idea – A gui­de to the unknown uni­ver­se ver­öf­fent­licht. Ja, rich­tig, ein Sach­buch. Cham ist vor allem für die PhD-Comic­se­rie bekannt, White­son ist ein kali­for­ni­scher Expe­ri­men­tal­phy­si­ker. We have no idea ist flott geschrie­ben – und han­delt tat­säch­lich genau davon: Was wir alles nicht wis­sen über das Uni­ver­sum. Neben­bei wird dann erklärt, was wir alles wis­sen, wie weit weg ande­re Ster­ne tat­säch­lich sind, und wie das mit dem Urknall und dem gan­zen Zeugs so gelau­fen ist. Was wir nicht wis­sen? Wie groß das Uni­ver­sum ist, ob es in etwas ande­res ein­ge­bet­tet ist, wor­aus Quarks bestehen (und ob es eine Art Peri­oden­sys­tem der Bosonen/Leptonen gibt, das auf zugrun­de lie­gen­de Mus­ter schlie­ßen lässt), ob das Uni­ver­sum in sei­ner kleins­ten Abmes­sung „digi­tal“ (also dis­kret) oder „ana­log“ orga­ni­siert ist, wie Quan­ten­me­cha­nik und Gra­vi­ta­ti­on zusam­men­pas­sen, was Mas­se ist, naja, und noch so eini­ges mehr. Trotz eini­ger Wie­der­ho­lun­gen sehr inter­es­sant. Zumin­dest füh­le ich mich jetzt schlauer.

Das ande­re Buch, das ich im Mai gele­sen habe, ist Cory Doc­to­rows neu­er Roman Wal­ka­way. Doc­to­row ist ein sehr poli­ti­scher Sci­ence-Fic­tion-Autor, und man­che sei­ner frü­he­ren Bücher lesen sich eher wie in Bel­le­tris­tik gegos­se­ne poli­ti­sche Mani­fes­te. Bekannt gewor­den ist er vor allem für sein Ein­tre­ten für offe­ne Soft­ware und offe­ne Daten, gegen pro­prie­tä­re Sys­te­me und gegen Über­wa­chung. Wal­ka­way hat auch Stel­len, die eher Mani­fest­cha­rak­ter haben. Es ist aber doch mehr. In einen Tweet gepackt, hat­te ich dazu geschrieben:

Doc­to­row selbst nann­te das eine sehr gute Zusam­men­fas­sung. Aus­ein­an­der­ge­nom­men, geht es um fol­gen­des. Die Zukunft, die Doc­to­row skiz­ziert, ist eine, in der „deep tech“ all­ge­gen­wär­tig ist – also künst­li­che Intel­li­genz, 3D-Dru­cker, Inter­net of Things und auto­no­me Maschi­nen und all sowas. Im Main­stream-Teil der von ihm beschrie­be­nen Gesell­schaft ist aus dem Kapi­ta­lis­mus, wie wir ihn ken­nen, ein Über­wa­chungs­re­gime gewor­den, das auf „deep tech“ auf­baut – und in dem eini­ge weni­ge „Zot­tas“ das Sagen haben. Zot­tas sind die immens rei­che Eigen­tü­mer­fa­mi­li­en der Kon­zer­ne. Ich neh­me an, dass Doc­to­row dabei einen obsku­ren Prä­fix für sehr gro­ße Zah­len vor Augen hat­te (Zet­ta- ist der SI-Prä­fix für 10^21, Zot­ta- soll ein SI-Prä­fix für 10^255 sein). Jeden­falls: sehr, sehr rei­che Ult­ra­rei­che, die eigent­li­chen Herr­sche­rin­nen und Herr­scher über die Main­stream-Welt (die Doc­to­row als „Default“ bezeichnet).

Dass es eini­ge dort nicht aus­hal­ten, ver­wun­dert nicht. In der von Doc­to­row beschrie­be­nen Zukunft sind es die Wal­ka­ways, die qua­si-noma­disch in ver­wüs­te­te Gebie­te zie­hen, dort mit Hil­fe von Fab­bern, 3D-Dru­ckern und als Open Source zugäng­li­chen Bau­plä­nen (oder gecrack­ten pro­prie­tä­ren Plä­nen) etwa für Flücht­lings­un­ter­künf­te Häu­ser bau­en und als „eco-anar­chist inten­tio­nal com­mu­ni­ty“, also als anar­chis­ti­sche Kom­mu­ne dort leben. Ohne Geld, ohne Besitz – im Zwei­fel wird halt schnell mal der 3D-Dru­cker ange­wor­fen -, eher gewalt­frei, ger­ne poly­amo­rös und mit eige­nen Solar­zel­len und Wind­rä­dern auch ein biss­chen ökologisch. 

Der Span­nungs­bo­gen des umfang­rei­chen Buchs hängt nun unter ande­rem am Zusam­men­tref­fen die­ser bei­den Wel­ten. Die Haupt­fi­gur nennt sich Ice­wea­sel, ist Toch­ter eines Zot­ta-Clans und läuft mit eini­gen Freun­den davon in die Welt der Walkaways. 

Das geht lan­ge gut (und wird von Doc­to­row auch in schö­ner uto­pi­scher Aus­führ­lich­keit geschil­dert), aber irgend­wann schlägt „Default“ zurück – mit Droh­nen und schwe­rem Kriegs­ge­rät. Rand­be­din­gung : das auf­ge­ge­be­ne Land ist öko­lo­gisch ziem­lich kaputt. Rand­be­din­gung #2: die im frei­en Zusam­men­schluss vor sich hin wer­keln­den Wissenschaftler*innen der Wal­ka­way Uni­ver­si­ty ste­hen kurz davor, Gehir­ne zu Soft­ware zu machen. Ende der Uto­pie? Oder erst der Anfang? 

Mehr zu ver­ra­ten, scheint mir an die­ser Stel­le nicht ange­bracht zu sein. Wer aus einer der bei­den Sze­nen – alter­na­ti­ve Lebens­sti­le oder Hacker-Maker – kommt, wird sich jeden­falls in Wal­ka­way wie­der­fin­den, und viel­leicht auch ein biss­chen Selbst­er­kennt­nis mitnehmen.

Wal­ka­way ist am Schluss eine Uto­pie. Und als sol­che alles ande­re als eine Blau­pau­se für die bes­se­re Welt. Die eine oder ande­re Anre­gung dafür, was „deep tech“ in einem ande­ren Denk­kon­text noch könn­te, und wel­che Poten­zia­le Open Source Hard­ware haben könn­te – im Rah­men von Degrowth wird dar­über heu­te schon sehr ernst­haft dis­ku­tiert -, las­sen sich dort aller­dings doch fin­den. Nicht nur des­we­gen hat’s mir sehr gut gefallen.

Leseprotokoll April 2017

New York L (High Line)

Ich habe ja ange­fan­gen, regel­mä­ßig auf­zu­schrei­ben, was ich so gele­sen habe. Das hat auch was mit dem Kind­le zu tun, den es seit ein paar Mona­ten in mei­nem Leben gibt – und der den Sta­pel der gele­se­nen Bücher unsicht­bar gemacht hat. Dass ich jetzt mas­siv E‑Books lese, hät­te ich ers­tens frü­her nicht gedacht und scheint zwei­tens ziem­lich hin­ter dem Trend zu lie­gen. Zumin­dest für Groß­bri­tan­ni­en berich­tet der Guar­di­an dar­über, wie E‑Books ihren Glanz und ihre Ver­füh­rungs­kraft ver­lo­ren haben. Ein biss­chen was ist da schon dran: Bücher als phy­si­ka­li­sche Objek­te haben einen Charme, den der Kind­le nicht erset­zen kann. Aber prak­tisch ist er trotz­dem – nicht nur für das Lesen unter­wegs, son­dern auch des­we­gen, weil er dazu ver­lei­tet, Fort­set­zun­gen zu kau­fen. Oder sich mal im Werk eines Autors oder einer Autorin umzu­se­hen und die eige­ne Biblio­thek zu ergänzen.

Damit zu mei­nen im April gele­se­nen Büchern – acht Stück, davon zwei auf Papier, der Rest digital. 

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Im März gelesen

Trotz umfang­rei­cher Rei­se­tä­tig­keit bin ich im März gar nicht in dem Aus­maß zum Lesen gekom­men, wie ich das eigent­lich woll­te (was aber auch damit zu tun hat, dass ich an zwei län­ge­ren Büchern gele­sen habe, aber noch nicht fer­tig damit bin, wes­we­gen sie hier nicht auf­tau­chen). Jeden­falls gab es zwei­mal Neil Gai­man, ein­mal V.E. Schwab, und ein­mal Karl­heinz und Ange­la Steinmüller.

Von Gai­man habe ich zum einen den Comic Mar­vel 1602 gele­sen. Super­hel­den­co­mics sind eigent­lich nicht mei­nes, in dem Fall fand ich es aber inter­es­sant, mir anzu­schau­en, wie Gai­man diver­se Super­hel­den in ein alter­na­tiv­welt­li­ches Eng­land des 17. Jahr­hun­derts zurück­ver­setzt, inkl. einer eher im Stil der Zeit gehal­te­nen Gra­fik. Das zwei­te Gai­man-Buch, das ich im März gele­sen habe, ist Der lächen­de Odd und die Rei­se nach Asgard – genau­er gesagt, habe ich das vor­ge­le­sen (R. hat es zum Geburts­tag bekom­men). Ein schma­les Taschen­buch, das das The­ma der Nor­dic Mytho­lo­gy vor­weg­nimmt: hier geht es um den Wikin­ger­jun­gen Odd, der eines Tages weg­läuft und im Wald einem Fuchs, einem Bär und einem ein­äu­gi­gen Raben begeg­net. Schön geschrie­be­ne Nach­er­zäh­lung einer Geschich­te rund um Loki, Thor und Odin.

Karl­heinz und Ange­la Stein­mül­lers Klas­si­ker Pulas­ter (1986) anti­qua­risch zu kau­fen (und zu lesen), war das Ergeb­nis einer Twit­ter-Reak­tio­nen auf mein letz­tes Lese­pro­to­koll. Tipps die­ser Art neh­me ich ger­ne ent­ge­gen. Ein typi­scher Sci­ence-Fic­tion-Roman, inter­es­sant durch das ans römi­sche Reich erin­nern­de galak­ti­sche Impe­ri­um, das mit den ver­schie­de­nen Geschwin­dig­kei­ten von Kom­mu­ni­ka­ti­on und Raum­schif­fen zu kämp­fen hat, so dass Men­schen aus unter­schied­li­chen Zei­ten sich begeg­nen; natur­ver­bun­de­nen ein­hei­mi­schen; einem real­so­zia­lis­tisch wir­ken­den Pla­ne­ten­ver­wal­tungs­schlen­dri­an. Ich fand es durch­aus lesens­wert, auch wenn der eine oder ande­re Hand­lungs­fa­den am Schluss nicht auf­ge­löst wur­de, ver­schwun­den im raum­zeit­li­chen Kegel mög­li­cher Kom­mu­ni­ka­tio­nen, wahrscheinlich.

Bleibt noch Vic­to­ria „V.E.“ Schwabs A Con­ju­ring of Light – das ist der gera­de erst erschie­ne­ne, sehr umfang­reich gewor­de­ne Abschluss ihrer Wei­ß/­Schwar­z/Ro­t/­Grau­es-Lon­don-Tri­lo­gie (Shades of Magic) um Lila Bard. Magie hat Ver­wüs­tung über das König­reich Maresh und das rote Lon­don gebracht, und nur gemein­sam gelingt es den drei ein­an­der teils zuge­wand­ten, teils herz­lich abge­neig­ten Ant­a­ri, dem etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Aber das ist nur die Ober­flä­che der Geschich­te. Etwas ande­re Form von Fan­ta­sy – es emp­fiehlt sich aller­dings, beim ers­ten Band anzu­fan­gen.