Wie angekündigt, hier nun noch der Blick auf die Bücher, die ich im November und Dezember gelesen habe.
„Science Fiction und Fantasy im November und Dezember 2024, Teil II“ weiterlesen
Das Blog von Till Westermayer * 2002
Wie angekündigt, hier nun noch der Blick auf die Bücher, die ich im November und Dezember gelesen habe.
„Science Fiction und Fantasy im November und Dezember 2024, Teil II“ weiterlesen
Bei mir sammeln sich ja vor allem Bücher an. Und Lego-Modelle. Und natürlich die inzwischen glücklicherweise weitgehend digitalen Fotografien. Ach ja, und Sachen meiner Eltern, die natürlich auch. Das eine oder andere Souvenir. Bilder an den Wänden. Volle Schubladen. Und Stapel auf den Tischen.
Was da eigentlich passiert, damit befasst sich der Kulturhistoriker Valentin Groebner in seinem Essayband Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit den schönen Dingen (Konstanz, 2023). Er zieht dabei Bögen von der kleinen Tasche für die eigenen Dinge, die römische Söldner mit sich trugen, über Reflektionen zu Magie (immer etwas, das andere tun könnten, so dass selbst vorgesorgt werden muss) und Schönheit bis hin zu den den vielfältigen globalen Verflechtungen, Exporte, Importe und Re-Importe der letzten tausend Jahre. Groebner macht das in einem freundlichen Erzählstil, mit gelehrtem Spott und einem Hauch Selbstironie über die distinguierte Welt der Sammler*innen und die Kulte des Minimalismus mit ihren weißen Wänden (schwer zu putzen) und den sich doch wieder ansammelnden Dingen in den Augenblicken, in denen Leben stattfindet.
Das ist auf jeden Fall schön zu lesen. Es finden sich hübsche Formulierungen wie die, dass wir Mollusken gleichen, die sich einen Panzer aus Dingen schaffen. Und viel zu oft das Gefühl eines Ertapptseins und der Wiedererkennung, auch wenn’s nie ganz genau so wie bei Groebner ist. Ob ich jetzt mehr über den Umgang mit den mit Erinnerung aufgeladenen Dingen weiß, da bin ich mir noch nicht sicher. Rat gibt Groebner nicht. Vielleicht den, dass Schönheit und Zufriedenheit in der Begrenzung liegt, und das Streben nach Vollständigkeit und Bewahrung eher eine Last ist. Die erst im Rückblick zu erkennen ist. We will see.
Irgendwie bin ich gar nicht dazu gekommen, mein SF- und Fantasy-Lesetagebuch für den November zu aktualisieren – Ende November/Anfang Dezember war einfach zu viel los. Dafür gibt es jetzt geballt meine Guck-Erlebnisse der letzten paar Wochen. Die Bücher folgen in Teil II.
Angeschaut habe ich mir die letzten Folgen von Star Trek: Lower Decks (Paramount+). Hier habe ich es sehr bedauert, dass die Serie jetzt zu Ende gegangen ist – auch wenn das Ende und die sehr gute letzte Folge die eine oder andere Hintertür für eine Fortsetzung aufstehen lassen hat.
Empfehlenswert auch Delicious in Dungeon (Netflix), eine japanische Anime-Serie, die wohl eine Manga-Reihe verfilmt. Warnung: die erste Staffel endet mit einem üblen Cliffhanger – und die zweite Staffel ist zwar wohl in Produktion, aber existiert noch nicht. Worum geht es: eine Gruppe von Abenteurern a la DnD versucht, in den tiefsten Stock eines Dungeons zu kommen, um eine der ihren aus den Klauen eines Drachens zu befreien. Dummerweise sind sie mittellos, und ihre verschiedenen Fähigkeiten sind noch nicht so besonders ausgeprägt. Was tun? Die Rettung naht in Form des Zwerges Senshi, der die Gruppe begleitet – und große Kunst darin entwickelt hat, aus den verschiedenen Tieren und Pflanzen, äh, Monstern des Dungeons schmackhafte Mahlzeiten zuzubereiten. Das alles mit einem gewissen Anspruch an Nachhaltigkeit und Verständnis für das Monster-Ökosystem. Es wird also gekocht, was durchaus ethische Fragen aufwirft, etwa wenn es um menschenähnliche Monster geht – und gleichzeitig erleben unsere Abenteurer eben … Abenteuer, wir lernen sie näher kennen, und stellen nach und nach fest, dass alles komplizierter ist, als es scheint. Ich warte gespannt auf die zweite Staffel!
Im Kino haben wir – als Weihnachtsfilm – Wicked angeschaut, quasi das Prequel zum „Zauberer von Oz“, und die Verfilmung eines erfolgreichen Musicals. Schon im Vorfeld wurde das große Staraufgebot beworben – Ariana Grande spielt die junge Galinda/Glinda, Jeff Goldblum den Zauberer von Oz als sich selbst, Michelle Yeoh eine Professorin für Hexerei. Aber so richtig überzeugend ist das Ergebnis trotzdem nicht. Das mag daran liegen, dass der Zauberer von Oz per se schon eher furchtbar ist, oder daran, dass hier die Origin Story von Glinda und Effi (der späteren „wicked witch of the west“) unglaublich langwierig und zäh ausgerollt wird. Und das ist nur der erste Teil, Teil zwei folgt nächstes Jahr zu Weihnachten. Noch am besten: dass die grünhäutige junge Hexe verfolgt und verbannt wird, weil sie sich für das Wohl der Tiere und ihrer Mitmenschen einsetzen will, statt alles der Macht unterzuordnen, mag in diesen Zeiten als politische Allegorie herhalten. Gesungen und getanzt wurde natürlich auch. Wir haben aus Gründen die deutsche Fassung mit englischsprachigen Liedern (mit Untertiteln) angeschaut. Das war dann teilweise surreal, weil die eingeblendete deutsche Übersetzung manchmal so gar nichts mit dem englischen Liedtext zu tun hatte. Nicht meines.
Um beim Gesang zu bleiben: im Theater Freiburg wurde A Handmaid’s Tale als Oper aufgeführt, mit deutschen und englischen Obertiteln. Margaret Atwoods Geschichte ist heute relevanter denn je, und das Theater hat das in seiner Inszenierung direkt mit der Gegenwart verbunden – am Anfang steht ein historischer Rückblick, der bei Trump und aktuellen Nachrichtenbildern beginnt und in der Zeit der religiös-faschistischen misogynen Diktatur Gilead endet. Auch das Stück selbst war gut inszeniert. Ich habe aber festgestellt, dass ich mit Operngesang nicht wirklich etwas anfangen kann, auch dann nicht, wenn die Oper eine SF-Dystopie als Grundlage hat.
Bleiben noch zwei Filme, die ich in den letzten Wochen gesehen habe. Zum einen das Beetlejuice-Original von 1988 mit seiner etwas verworrenen Geschichte und wunderbarer Late-80s-Ästhetik, und zum anderen Spaceman: Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt (Netflix, 2024). Für meinen Geschmack ein bisschen zu mystisch da, wo der Weltraum selbst eine Rolle spielt, ansonsten aber durchaus sehenswert: Jakub Procházka ist der Vorzeigekosmonaut Tschechiens und nähert sich dem Jupiter. Der öde Alltag im Einpersonenraumschiff ist spürbar, das product placement für die Sponsoren und die eine oder andere Improvisation fügen sich passend ein. Parallel entfremdet sich seine auf der Erde zurückgebliebene Frau Lenka von ihm, da hilft dann auch das Quantenkommunikationsgerät nicht. Diese Beziehung und die eigenen biografischen Verletzungen aufzuarbeiten, gelingt Jakub allerdings erst auf Intervention eines spinnenartigen, psychisch begabten Außerirdischen hin, der plötzlich in seinem Raumschiff auftaucht. Die schwierige Annäherung zwischen Alien und Kosmonaut wird in diesem Fast-schon-Kammerstück gut herausgearbeitet. Insgesamt: ein schöner Film.
Einer der wenigen Podcasts, die ich regelmäßig höre (und bei dem ich jetzt bei den Folgen aus dem Jahr 2011 angekommen bin) ist „The History of Rome“. Das ist tatsächlich genau das, was draufsteht: von der Gründung bis zum Ende wird das römische Reich vor allem anhand seiner Imperatoren und Cäsaren besprochen, streng chronologisch geordnet. Und nebenbei geht’s auch um Alltagskultur, Schlachten (deren Details ich dann sofort wieder vergesse) und geografische Besonderheiten, vor allem aber um Intrigen und ständige Machtwechsel. Spannend finde ich, dass einiges dann gar nicht so anders ist als heute; wahrscheinlich ließe sich mit etwas Abstand – sagen wir, in 10.000 Jahren – sogar argumentieren, dass auch in den heutigen Großmächten noch viel Rom steckt, und z.B. die heutige USA (oder das heutige Russland?) gar nicht so viel anderes als eine Fortsetzung des Römischen Reichs mit anderen Mitteln ist. Jedenfalls, warum ich das hier erwähne: in einer der letzten Folgen ging es um Kaiser Julian, der von 361 bis 363 herrschte (und eher zufällig an die Macht gekommen war).
Im Speculative-Fiction-Kontext interessant ist nun, dass Julian einen Plan hatte: er wollte die von seinen Vorgängern zugunsten des Christentums erlassenen Verbote der heidnischen Religionen rückgängig machen und wohl eine einheitliche platonisch-neoheidnische Staatsreligion nach christlichem Organisationsvorbild einführen. Das gelang ihm allerdings aufgrund seiner kurzen Regierungszeit nicht – und genau das ist natürlich ein hervorragender Ausgangspunkt für Alternativgeschichten.
Im Wikipedia-Artikel habe ich dazu John M. Fords Roman The Dragon Waiting (1983, neu aufgelegt 2020) gefunden und gelesen. Dieser Roman spielt im Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit in einer europäischen Welt, in der das Christentum eine randständige Religion ist, Byzanz die große Metropole und das byzantinische Reich die beherrschende Weltmacht ist, und in der nicht nur diverse Kulte und Religionen, sondern auch Magie und Vampirismus vorkommen. Allerdings: dafür, dass die Geschichte hier einen ganz anderen Verlauf genommen hat, ist dann doch einiges sehr ähnlich – die Medici in Florenz tauchen ebenso auf die die diversen französischen und britischen König*innen dieser Zeit. Der titelgebende Drache bezieht sich auf ein Medaillon, das einen roten und einen weißen Drachen im Kampf miteinander zeigt, und das Wales – mit Henry Tudor – Kampf gegen England – mit Richard III. – meint. Trotzdem: ein interessantes Buch. Dafür sorgen insbesondere die Biografien und Beziehungen in der für den Quest zusammengewürfelten Truppe aus dem Zauberer Hywel, der florentinischen Ärztin Cynthia, dem exilierter byzantinischer Thronwärter Dimi und dem bayrischen Vampir und Fachritter-Ingenieur Gregor, die vermutlich für Menschen mit tieferer Kenntnis der britischen Geschichte noch spannenderen Abweichungen dazu – und Fords großartige und dichte Erzählkunst. Ich habe eine Rezension von Jo Walton gefunden, die dem Buch deutlich besser gerecht wird als meine Kurzzusammenfassung. (Schöne Beschreibung daraus: die ersten drei Kapitel lesen sich wie drei ganz unterschiedliche Romananfänge – genau so ging’s mir beim Lesen).
Das Buch hat mich dann dazu gebracht, einmal zu schauen, was Ford sonst so geschrieben hat. Dadurch bin ich auf Aspects (2022) gestoßen. Und auf die Tatsache, dass John. M. Ford tragischerweise 2006 gestorben ist, mit nur 49 Jahren. Aspects ist unvollendet, und hinterlässt das melancholisch-nostalgische Gefühl, dass die Welt hier etwas verpasst hat, was sie unter anderen Umständen hätte haben können. Denn eigentlich ist Aspects – bzw. die ersten knapp 500 Seiten eines größeren Romans, dem der Schluss fehlt – nur der erste Roman einer größer angelegten Serie in einer hervorragend gebauten Parallelwelt, die in etwa dem späten 18. oder 19. Jahrhundert unserer Welt ähnelt. Auch dieses Buch ist hervorragend geschrieben, und Ford schafft es, diese sekundäre Welt lebendig werden zu lassen. Nicht, indem er Dinge erklärt, sondern weil immer wieder wie selbstverständlich Bezüge zu historischen Ereignissen dieser Welt eingestreut sind, lokale Dialekte und Soziolekte eine Rolle spielen oder Begriffsschöpfungen auftauchen, die erschließbar sind, aber auf subtile Unterschiede hindeuten (und nie aufgesetzt wirken, sondern Teil dieser Welt sind). Das Buch ist großartig und dicht geschrieben, der Autor guckt genau hin.
Aspects spielt in Lystourel, der florierenden Hauptstadt der Republik Lescoray – die ein bisschen an London erinnert – und beginnt im Monat der Schafhirten, kurz vor der Herbstequinoxe. Die Republik erstreckt sich von kargen Bergen im Norden bis hin zu sonnigen Gefilden im Süden. Und es ist eine Republik – mit einem zweigeteilten Parlament, einer Kammer aus Lords (und Ladys) und einer Kammer aus „commoners“. Neben den vererbten Sitzen der Coronage (was ich frei als „Kronlehen“ übersetzen würde, auch wenn der König schon lange abgeschafft ist), den Corons, sitzen religiöse und magische Lords und Ladys im Oberhaus. Die Religion Lescorays verehrt die Göttin in ihren verschiedenen Aspekten (daher der Titel des Buchs), und ja: auch hier gibt es Magie, mit einem interessanten System, das sicherstellt, das einiges dann doch besser dem Ingenieurwesen überlassen wird. Hauptpersonen des Buchs sind zwei Corons, Lord Varic (der lieber in der Stadt Lystourel lebt als in seinem Kronlehen im wüsten Norden), und Lady Longlight aus einem provinziellen Lehen ganz am Rand des Reichs. Entsprechend geht es viel um Politik und politische Intrigen. Das Buch beginnt mit einem Duel und endet – abrupt abbrechend – mit einem Kapitel, in dem Varic darüber sinniert, ob es hilft, das Duellieren per Gesetz zu verbieten, und warum das nicht so ist. Dazwischen finden wir parlamentarische Vorgänge, reich beschriebene Speisen und Kleidungsstile, eine ganz genau hinschauende Beobachtungsgabe, die auch auf kleinste Gesten achtet, das Haus Strange, das aus der mondänen Alltagswelt gefallen zu sein scheint, immer wieder die Eisenbahn und andere moderne Errungenschaften, komplizierte Liebesgeschichten, Exkurse in die Geschichte und Mythenwelt Lescorays, hingebungsvoll beschriebene Gesellschaftsspiele und einen Banditenüberfall. Und das alles in einer Welt, die ein bisschen wie unser 18. oder 19. Jahrhundert ist, in der es aber normal zu sein scheint, wenn ein Kind zwei Mütter hat, Menschen stumm sind oder im Rollstuhl sitzen, und in der etwa der Great Captain der Polizei selbstverständlich eine Frau ist. Und das alles, ohne anachronistisch zu wirken – in Lystourel ist es halt einfach so. Genauso, wie es dort Straßenkinder, Kleinkriminelle und Spionage gibt und eben überhaupt nicht alles gut ist. Ford macht hier einen Kosmos auf, in dem ich gerne länger verweilt wäre.
Im direkten Vergleich der beiden Bücher würde ich sagen, dass ihm hier gelingt, was er in The Dragon Waiting versucht hat – eine alternative Geschichte zu schreiben, in einer Welt, die in vielen Punkten unserer ähnelt, in anderen aber gravierend davon abweicht – und damit eine Folie zu schaffen, vor der die genaue Beobachtung menschlicher und politischer Beziehungen möglich ist.
Ebenfalls hervorragend fand ich Sourdough (2017) von Robin Sloan (zu dessen anderen Büchern ich im September etwas geschrieben hatte). Die Programmiererin Lois lebt in San Francisco und arbeitet für ein aufstrebendes und hippes Robotik-Unternehmen. Aus einer Laune heraus lässt sie sich darauf ein, bei einem Lieferservice, der mit handgeschriebenen Zetteln für seine Spezialitäten wirbt, scharfe Suppe und Sauerteigbrot zu bestellen. Sie freundet sich mit den Inhabern dieses Lieferservice an, und bekommt zum Abschied den namensgebenden Sauerteig geschenkt. Der ist ein bisschen besonders und verbindet San Francisco mit der imaginären Kultur der immer auf Wanderschaft befindlichen Mazg. Lois lernt notgedrungen Backen – und gerät in eine unwahrscheinliche, aber charmant erzählte Parabel über Start-ups, Hybris und die Welt der Hefen und Bakterien. Schnell gelesen, und genau das richtige für finstere Zeiten.
In gewisser Weise ebenfalls um Hefen und Bakterien geht es in Alien Clay (2024) von Adrian Tchaikovsky. Und auch an Greg Egans Morphotrophic fühlt ich mich erinnert, weil beide eine ähnliche Prämisse teilen: eine fremde Welt, in der die Grenzen zwischen Organismen fließend sind. Bei Egan sind es Zellkolonien, die zwischen Organismen wechseln, bei Tchaikovsky eher größere, symbiotische Einheiten. Er entwirft eine Biologie, in der alles mit allem vernetzt ist, und in der Spezialfunktionen (wie z.B. Sehen oder Verdauen) von darauf spezialisierten Lebewesen/Organellen durchgeführt werden, die munter zwischen Organismen wechseln. Und natürlich gibt es hier auch keine Grenze zwischen Tieren und Pflanzen. Die Welt, die so funktioniert, heißt Kiln und umkreist einen Stern, der nur wenige Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Es gibt hier eine Strafkolonie – wie das mit einem Versatz über Lichtjahre hinweg funktionieren soll, wird sogar halbwegs plausibel gemacht. Ziel: Suche nach der untergegangenen Zivilisation, von der nur noch Ruinen zu finden sind. Die Ideologie des irdischen Regimes setzt auf wissenschaftliche Orthodoxie – der Mensch ist die Krone der Schöpfung im Universum, das Endziel der Evolution. Die Strafkolonie kennt zwei Klassen – den Kommandanten und die Wissenschaftler*innen, und die in billigst gedruckten Raumschiffen hergeflogene Unterklasse aus Arbeiter*innen und in Ungnade gefallenen Wissenschaftler*innen, die es auf der Erde gewagt haben, gegen das Regime aufzubegehren. Einer davon ist der Erzähler des Buchs. Tchaikovsky bringt beides sehr packend zusammen: das gnadenlose Regime und die Rebellion dagegen, und die Suche nach einer biologischen Wahrheit, die es nicht geben darf.
Soweit die Bücher. Angeguckt habe ich Der Junge und der Reiher (Netflix, 2023) von Hayao Miyazaki, bin damit aber nicht so richtig warm geworden. Zeichenstil und Querverweise sind hervorragend, aber die (wohl teilweise autobiografische, magisch-realistisch gespiegelte, teilweise auf „How Do You Live“ anspielende) Geschichte war für mich nicht gut nachvollziehbar, das Handeln der Protagonist:innen wenig plausibel.
Dann habe ich Mars Express angeschaut, einen französischen SF-Noir-Animationsfilm (2023). Ein Verbrechen soll aufgeklärt werden, die Polizistin, die ermittelt, ist dem Alkohol verfallen, es gibt Roboter und böse Großkonzerne. Also alles sehr cyberpunk-typisch, das Ende philosophischer als zunächst vermutet. Der Zeichenstil erinnerte mich an Moebius‘ klare Linien. Bisher habe ich den Film nur als Kaufangebot gesehen.
Gesehen habe ich zudem einige Folgen der bei Apple-TV laufenden Serie Strange Planet. Das sind warme, humorvolle Zeichentrick-Episoden über menschliche Probleme in einem Setting, in dem alles ein bisschen anders ist, weil das ganze eben auf einem seltsamen Planeten spielt, auf dem blauhäutige Wesen Strümpfe tragen, Tauben drei Augen haben und Begriffe so heißen, wie sie auch heißen könnten. Oder, wie es die Wikipedia beschreibt: „It follows a planet of blue beings without gender or race who have human traditions and behaviors but discuss them in highly technical terminology.“
Aus Gründen gibt es gar nicht so viel zu berichten über den September. Ich habe (alleine, weil der Rest der Familie das Genre und überhaupt …) nicht mag, Rings of Power, Season 2 (Amazon Prime) weitergeschaut und mich über die Ambivalenzen gefreut, die ich so bei Tolkien nicht in Erinnerung hatte – wobei ich zugegebenermaßen das Silmarillion zwar (in der deutschen Übersetzung) besitze, aber nie wirklich mit Freude gelesen habe. Außerdem habe ich (mit den Teenagern) die Orpheus-und-Eurydike-Adoption KAOS (Jeff Goldblum, Netflix) angeguckt, die letzte Folge fehlt uns noch, trotzdem lässt sich jetzt schon sagen: sehr ideenreicher, gut umgesetzter Trash. Die griechischen Gött*innen, wie sie vermutlich noch nie dargestellt wurden. Zeus als durchgeknallter Neureicher, Poseidon auf seiner Jacht, Hera, die die Fäden im Hintergrund zieht, der bürokratische Hades (in schwarz-weiß) … und Kreta als Diktatur, die die olympischen Rituale halt so durchzieht. Es macht durchaus Spaß, da zuzugucken. Jetzt hoffe ich nur, dass die letzte Folge nicht enttäuscht.
Gelesen habe ich zum einen das gerade neu im September 2024 erschienene Space Oddity von Catherynne Valente. Das ist die Fortsetzung von Space Opera. Da ging es, kurz zusammengefasst, darum, dass die Menschheit nur dann Mitglied der galaktischen Zivilisation werden kann – und ansonsten ihrer Annihilation entgegensieht – wenn sie beim Galactic Song Contest nicht auf dem letzten Platz landet. Decibel Jones und seine Band haben die unverhoffte Ehre, hier auftreten zu dürfenmüssen. Dieser erste Band war ein sehr gelungener Mix aus einem Humor im Stil von Douglas Adams, der wohlwollenden Auseinandersetzung mit der Tradition des ESC und jedem SF-Space-Opera-Motiv, das nicht schnell genug um die Ecke verschwinden konnte. Space Oddity setzt das jetzt fort. Nach dem Song Contest ist vor der intergalaktischen Promotion-Tour, und das Weltall ist voll mit Wundern, die uns noch vor dem Frühstück begegnen. Zu diesen Wundern gehört dann unverhofft eine bisher unentdeckte Spezies. Ein Song Contest muss her, um zu beweisen, dass es sich hier um intelligentes Leben handelt. Nur: diese Spezies hat ihre Gefühle externalisiert. Das hört sich ziemlich depressiv an – jedenfalls nicht nach Musik. Und das allmächtige Board des Song Contest ist alles andere als amüsiert. Soweit mal, sonst wird zu viel verraten. — Wie auch der erste Band ist Space Oddity flott geschrieben und steckt voll mit Anspielungen. Valente ist da tatsächlich eine würdige Nachfolgerin der ganz speziellen Douglas-Adams-Schreibe. Gleichzeitig leidet der Roman selbst ein kleines bisschen am „Schwieriges-zweites-Album“-Syndrom (nicht umsonst heißt das Keshet-Zeitparadox-Schiff, in dem Decibel Jones unterwegs ist, Difficult Second Starship). Die Neuheit eines ESC-Space-Opera-Mixes ist verflogen, die wilden Zeitreisen der Keshet, die das Buch durchziehen, machen es teilweise schwierig, nachzuvollziehen, was hier gerade passiert, und es gibt Sätze, die Anspielung auf Anspielung anpacken und humorvoll bearbeiten, ohne jedoch am Schluss irgendwie dazu beigetragen zu haben, den Fortgang der Geschichte zu beschleunigen. Kurz: Space Oddity reicht nicht ganz an Space Opera heran. Trotzdem eine Leseempfehlung – insbesondere für alle, die zwischen Nerd- und Popkultur sitzen.
Paolo Bacigalupi war mir bisher vor allem als Autor von Near-Future-SF aufgefallen, die im globalen Süden spielt. Jetzt hat er mit Navola (2024) einen Roman geschrieben, der sich als Fantasy klassifizieren lässt, obwohl ein großer Teil der Handlung ohne Magie etc. auskommt. Navola ist eine Handelsrepublik, die an Florenz oder Venedig erinnert; das Buch spielt in einer Welt, die unserer Renaissance ähnelt, auch wenn die beschriebenen Orte und Länder andere Namen tragen, und sich eine andere Religion als dominant durchgesetzt hat. Die alten Göttern sind herabgesetzt, aber nicht ganz verschwunden. Was mir gut gefällt: wie Bacigalupi (pseudo-)lateinische/italienische Begriffe (er)findet und in die Sprache seiner Erzählung einfließen lässt. Auch das trägt dazu bei, in den Alltag einer der mächtigsten Bankiersfamilien Navolas einzutauchen und ihn ganz und gar für wahr zu nehmen. Navola erzählt die Lebensgeschichte Davicos di Regulai, der der Sprössling dieses Handelshauses ist und bald dessen Leitung übernehmen soll. Die Regulai haben sich durch geschickte Politik ein die ganze damalige Welt umspannendes Netz an Filialen aufgebaut. Und wo Politik nicht ausreicht, gibt es noch Schattenmänner, Attentäter und zur Not auch angeheuerte Armeen. Davico hat allerdings kein Talent für Intrigen. Wenn ihn etwas interessiert, dann ist das die Welt der Natur, das Netz des miteinander verbundenen Lebens. Statt der Ausbildung zum Handelsmann würde er lieber Naturgelehrter werden – aber dieser Weg ist ihm verschlossen. Und dann gibt es noch seine „Schwester“, Celia – die als Faustpfand aus einer Fehde Teil der Familie geworden ist. Ach ja, und das Auge eines Jahrtausende alten Drachens wird ebenfalls eine Rolle spielen. — In meinem Urteil über Navola bin ich zwiegespalten. Die Welt, die Bacigalupi meisterhaft aufbaut, ist interessant genug, um darin zu versinken. Ich würde gerne mehr darüber lesen und habe das Buch auch deswegen verschlungen. Das Buch hat allerdings einen Kipppunkt, ab dem der blutige und brutale Untergang der Familie di Regulai beschrieben wird. Ich verstehe, warum Bacigalupi diesen Weg einschlägt, und auch die Aussage, die er damit über die gerne versteckten Schattenseiten einer erfolgreichen und intriganten Handelsfamilie trifft – trotzdem dachte ich da: muss das sein? Wäre ein anderer Ausgang der Geschichte für Davico (und Celia) möglich gewesen? Oder ist genau dieser brutale zweite Teil schon in den ersten Seiten und ersten Entscheidungen angelegt?
Robin Sloan war mir – ich gebe es ungern zu – bisher kein Begriff. Über die Worldcon und das Thema Solarpunk bin ich auf seinen Roman Moonbound (2024) gestoßen. Eine viel bessere Rezension, als ich sie je schreiben könnte, findet sich dazu bei Cory Doctorow. Kurz gesagt: die Abenteuer des Jungen Ariels werden aus der Perspektive einer 1000 Jahre alten KI (ein „Chronicler“) beschrieben, die nach einem langen Sleep-Mode-Zustand wieder zum Leben (?) erweckt wird – und Ariel selbst lebt in einer Welt, die 11.000 Jahre nach unserer existiert, eine Welt, die den Niedergang unserer Zivilisation, den Aufstieg der postapokalyptischen Menschheit und deren Niedergang erlebt hat, und in der es jetzt – (wir befinden uns weiterhin im Feld der Science Fiction) – sprechende Tiere gibt, Zauberer, verteilte Roboter, KIs, Gentechnologie – und ein Solarpunk-Setting, in dem sowohl das maximale Recycling wie auch ein großflächiges Carbon Management (hier: durch sprechende Bieber) ebenso einen Platz finden wie die Spätfolgen von LLMs. Sagte ich schon, dass nebenbei auch Popkultur und Memes als Wunderwaffe auftauchen? Und die Arthur-Legende? Das klingt jetzt vielleicht chaotisch, aber das ist eine sehr schöne und sehr schön geschriebene Mischung. Alles ist genauso, wie es scheint, egal wie unerklärlich es erst einmal wirkt.
Moonbound war dann der Auslöser für mich, auch nach den früheren Werken von Sloan zu gucken. Sourdough habe ich noch vor mir, gelesen habe ich aber jetzt immerhin mal Mr. Penumbra’s 24-Hour Bookstore (2012) samt der Prequel-Kurzgeschichte Ajax Penumbra 1969. Und was soll ich sagen: ich bin begeistert. Zum einen, weil Penumbra eine sehr gut erzählte Geschichte über eine Quest ist, mit (magischen?) Artefakten, einem Geheimbund, alten Büchern und einer metatextuell immer wieder referenzierten Fantasy-Geschichte, also einem Buch im Buch – und zum anderen, weil es eine sehr gut gelungene Momentaufnahme der 2010er Jahre ist, also Google noch ein weitgehend benevolenter Konzern war, Nerds noch Nerds sein konnten und die politische Düsternis der kommenden Jahre sich noch nicht über diese kalifornische Szene gelegt hatte (auch wenn die eine oder andere weirde Idee hier bereits ihren Auftritt hat). Ach ja: und Typografie spielt eine tragende Rolle. Großartig!