Photo of the week: Messe Leipzig

Messe Leipzig

 
Seit Frei­tag war ich auf der grü­nen Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz in Leip­zig. Ein rund­um gelun­ge­ner Par­tei­tag, der deut­lich gemacht hat, dass wir die Par­tei der Vie­len sind, bei der Euro­pa­lis­te einen erfolg­rei­chen Gene­ra­ti­ons­wech­sel voll­zie­hen wer­den, und dass wir die Par­tei sind, die um und für Euro­pa kämpft. Viel­leicht schrei­be ich noch­mal mehr dazu. Hier als Foto der Woche jeden­falls ein klei­ner Ein­druck von dem sehr, sehr weit­läu­fi­gen Leip­zi­ger Mes­se­ge­län­de. Ein­drucks­voll, aber irgend­wie auch erschreckend.

Lesenswert: Walter Mossmanns bewegte Autobiografie

Vor ein paar Wochen war ich – dienst­lich – im Archiv sozia­le Bewe­gun­gen in Frei­burg, immer­hin wird das jnzwi­schen auch aus Lan­des­mit­teln geför­dert. Zum Abschied hat uns Volk­mar Vogt, der Archi­var, ein Buch in die Hand gedrückt. Inzwi­schen hab ich’s gele­sen und bin beeindruckt.

Kon­kret: die 2009 erschie­ne­ne Auto­bio­gra­fie von Wal­ter Moss­mann. Natür­lich war mir Moss­mann ein Begriff, Bewe­gungs­pro­mi, habe ihn auf der einen oder ande­ren Demons­tra­ti­on oder Kund­ge­bung im Dreyeck­land sin­gen oder reden gehört. 2015 verstorben.

In rea­lis­tisch sein: das unmög­li­che ver­lan­gen, Unter­ti­tel Wahr­heits­ge­treu gefälsch­te Erin­ne­run­gen, plau­dert Moss­mann über die 1960er, 1970er, 1980er. Er erzählt, und gleich­zei­tig ist das eine sehr leben­di­ge Geschichts­stun­de. Über das soge­nann­te Nach­kriegs­deutsch­land. Musik, natür­lich. Das stu­den­tisch-inter­na­tio­na­lis­ti­sche Milieu Frei­burgs. Noch mehr Musik. Das „Tol­le Jahr“ 1968. Die Geburt der badisch-elsäs­si­schen Bür­ger­initia­ti­ven aus dem Geist des Wider­stands (Geburts­hel­fer W.M.) gegen AKW und Che­mie­in­dus­trie, gegen den tech­no­kra­ti­schen Plan zur Indus­tria­li­sie­rung des Rhein­tals. Als, wie es so schön heißt, multi­tu­de. Ein biss­chen geht’s in Moss­manns Lebens­ge­schich­te auch um Polit­sek­ten und um die RAF, aber die steht am Rand. Und Rudi Dutsch­ke träumt von der neu­en USPD, die er anfüh­ren könn­te, Petra Kel­ly nervt, wäh­rend die BIs zur ganz kon­kre­ten Tat schrei­ten, mit Flug­blatt­lie­dern und Erwar­tungs­bruch – erfolgreich.

Die grü­ne Par­tei­grün­dung kommt auch vor (das muss ich natür­lich erwäh­nen), kurz vor Schluss des Buches. Moss­mann schreibt, „Wir [die Bür­ger­initia­ti­ven] schick­ten doch schon seit Jah­ren unse­re Anwäl­te in die Gerichts­ver­hand­lun­gen, war­um soll­ten wir nicht auch unse­re Abge­ord­ne­ten ins Par­la­ment schi­cken?“ – kom­mu­nal fing das etwa 1975 an, in Lan­des­par­la­men­ten dann 1980, und was Moss­mann skep­tisch macht, ist nicht der Schritt ins Par­la­ment, son­dern die Suche nach der „Par­tei ganz neu­en Typs“. Nein, er „hät­te lie­ber eine stink­nor­ma­le Par­tei, die grü­nen Abge­ord­ne­ten soll­ten dann aber im Par­la­ment min­des­tens so gut und pro­fes­sio­nell sein wie unse­re bes­ten Anwäl­te vor Gericht.“ – 1980 geschrie­ben, und viel­leicht sind wir da heu­te, irgendwie.

Aber Moss­manns Auto­bio­gra­fie hat mich nicht des­we­gen beein­druckt, weil ganz am Schluss auch grün als poli­ti­sche Far­be vor­kommt. Nein, span­nend und leben­dig und unglaub­lich dicht und nah ist das, was – mit Aus­flü­gen nach Lar­zac und Chi­le, Däne­mark und Wal­deck – in den zwei Jahr­zehn­ren zuvor da pas­siert, wo Poli­tik zwi­schen WGs, Kol­le­gi­en­ge­bäu­den und Webers Wein­stu­be sich mate­ria­li­siert, und wo der Zug aus Karls­ru­he kom­mend die Vor­ber­ge pas­siert und dann über Denz­lin­gen, Gun­del­fin­gen und Zäh­rin­gen den Haupt­bahn­hof erreicht. Neben all dem Gro­ßen ist’s der Geist des Ortes, der hier prä­zi­se rekon­stru­iert wird, und so Moss­manns prä­gen­de Jah­re nahe bringt.

Kurz: Spezi-Koalition

Die Jungs von der CSU und von der CSU, äh, von den Frei­en Wäh­lern in Bay­ern haben sich schnell geei­nigt. Drei Minis­te­ri­en und zwei Staats­se­kre­tärs­pos­ten, und los kann’s gehen. Nur, wie soll das Kind hei­ßen? Weil das blau-wei­ße Schwarz und Oran­ge zusam­men einem Cola-Misch­ge­tränk ähnelt, nennt sich’s Spe­zi-Koali­ti­on. Habe ich jeden­falls schon mehr­fach gele­sen, unter ande­rem in der Süd­deut­schen.

Mög­li­cher­wei­se ist das mit dem oran­ge black aber nur eine höf­li­che Ver­le­gen­heits­er­klä­rung. Denn im Süd­deut­schen gibt’s nicht nur die Spe­zi, son­dern auch den Spe­zi:

Und was soll ich sagen? Passt scho!

Kurz: Merz statt Merkel?

Die Fra­ge, wie ein mög­li­cher Kanz­ler­kan­di­dat Merz zu bewer­ten sei, führ­te auf mei­nem Face­book-Account zu einer regen Debat­te. Ins Auge ste­chen, auch nach der Pres­se­kon­fe­renz heu­te, vor allem zwei Aspek­te. Par­tei­po­li­tisch wür­de Merz die CDU kla­rer auf der kon­ser­va­ti­ven Sei­te des poli­ti­schen Spek­trums posi­tio­nie­ren. Das könn­te dazu füh­ren, dass die CDU Wähler*innen von der AfD zurück­ge­winnt, es könn­te aber auch dazu füh­ren, dass Men­schen, die eine unter Mer­kel etwas libe­ra­ler und „mit­ti­ger“ gewor­de­ne CDU wähl­bar fan­den, sich dau­er­haft wie­der davon abkeh­ren. Das könn­te den in Bay­ern und Hes­sen zu beob­ach­ten­den Trend einer Wäh­ler­wan­de­rung von der CDU zu Bünd­nis 90/Die Grü­nen stär­ken. Auch im Sin­ne einer kla­ren Unter­scheid­bar­keit poli­ti­scher Ange­bo­te wäre eine Merz-CDU mög­li­cher­wei­se gar nicht so blöd. Ein Neben­ef­fekt könn­te dann der sein, dass Grün dau­er­haft zur zwei­ten Kraft in Deutsch­land wird.

Aber es gibt ja nicht nur eine par­tei­po­li­ti­sche Per­spek­ti­ve. Für das Land wäre ein mög­li­cher Kanz­ler Merz ein deut­li­cher Rück­schritt. Kaum jün­ger als Mer­kel, dafür deut­lich kon­ser­va­ti­ver und „schnit­ti­ger“, ein Mann, eng mit der „Groß­in­dus­trie“, wie das frü­her ein­mal hieß, ver­bun­den. Eher so 1998 als 2018. Und eine Koali­ti­on, womög­lich gar eine Jamai­ka-Koali­ti­on, mit einer rechts­kon­ser­va­ti­ven CDU und einer wirt­schaft­li­be­ra­len FDP – auch das ist schwie­ri­ger vor­stell­bar als in der aktu­el­len Konstellation.

Aber viel­leicht ist es ja die Syn­the­se bei­der Argu­men­te, die wei­ter­hilft: ein Kanz­ler­kan­di­dat Merz – mög­li­cher­wei­se wäre das die Pro­jek­ti­ons­flä­che, um in einer Bun­des­tags­wahl von der bür­ger­lich-libe­ra­len Mit­te bis nach links zu mobi­li­sie­ren und dann eine Mehr­heit jen­seits der CDU/CSU zu fin­den. Oder, wie es Bernd Ulrich von der ZEIT auf Twit­ter ges­tern auf den Punkt brachte: 

„Nur damit hin­ter­her nie­mand sagt, ich hät­te es vor­her sagen sol­len: Wenn #Merz Vor­sit­zen­der wird, wird #Habeck Kanz­ler. #Grü­ne “.

Letzt­lich muss die CDU ent­schei­den, wie sie nach Mer­kels vor­züg­lich in Sze­ne gesetz­tem Aus­stieg wei­ter­ma­chen möchte.

Über fliegende Teppiche und eine mögliche Zukunft als offene Bündnispartei

Many apples

Heu­te wird in Hes­sen gewählt. Ich ken­ne das Ergeb­nis noch nicht, gehe aber davon aus, dass die letz­ten Umfra­gen nicht völ­lig dane­ben lie­gen wer­den, und – ähn­lich wie in Bay­ern – Ver­lus­te bei der Uni­on und bei der SPD und grü­ne Gewin­ne zu erwar­ten sind. Ob es 20 Pro­zent wer­den, ob Grü­ne erst‑, zweit- oder dritt­stärks­te Par­tei in Hes­sen wer­den, und ob sich dar­aus Chan­cen für Tarek Al-Wazir ablei­ten las­sen, nicht nur stell­ver­tre­ten­der Minis­ter­prä­si­dent zu wer­den – all das wird in ein paar Stun­den klar sein.

Mir geht’s um etwas ande­res. Bay­ern und Hes­sen sind in gewis­ser Wei­se die ers­ten Test­fel­der einer neu­en grü­nen Auf­stel­lung für den Bund. Auch da sind wir wie­der mal Umfra­gen­sie­ge­rin in der Mit­te der Legis­la­tur­pe­ri­ode. Jeden­falls dann, wenn die Legis­la­tur­pe­ri­ode einen nor­ma­len Ver­lauf nimmt und die „Gro­ße“ Koali­ti­on im Bund wei­ter Bestand hat. Ange­sichts der der­zei­ti­gen Umfra­gen, ange­sichts der Unklar­heit über poten­zi­el­le Merkel-Nachfolger*innen in der CDU wie in der SPD hal­te ich es für sehr wahr­schein­lich, dass „Schre­cken ohne Ende“ für die alten Volks­par­tei­en die weni­ger ris­kant erschei­nen­de Stra­te­gie ist und die Koali­ti­on hält. Aber auch das wer­den wir in den nächs­ten Tagen wissen.

Peter Unfried schreibt heu­te in der taz von Grü­nen als Par­tei ver­nünf­ti­ger Leu­te. In der ZEIT wird über groß ange­leg­te Stra­te­gien spe­ku­liert, um die Mit­te der Gesell­schaft zu gewin­nen. Klar ist jeden­falls: Grün zu wäh­len ist heu­te kei­ne rand­stän­di­ge Ent­schei­dung mehr. Ein Fünf­tel, ein Vier­tel, ein Drit­tel – poten­zi­ell die Hälf­te aller Wähler*innen! – kann sich vor­stel­len, eine Stim­me für Bünd­nis 90/Die Grü­nen abzugeben. 

Das ist ein Erfolg einer unauf­ge­reg­ten Klar­heit. Auf der einen Sei­te ste­hen die gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen. Nicht nur der Kli­ma­wan­del und die anhal­ten­de öko­lo­gi­sche Kri­se, son­dern auch die sozia­le Pola­ri­sie­rung in Deutsch­land. Das welt­weit unter Druck gera­te­ne Modell der libe­ra­len Demo­kra­tie. Eine Welt­po­li­tik, die ihre Mit­te ver­lo­ren hat. (Ach ja: der digi­ta­le Wan­del ist auch noch da und war­tet nicht.)

Ange­sichts die­ser Her­aus­for­de­run­gen, ange­sichts der Dring­lich­keit wür­de es nahe lie­gen, nun in Alar­mis­mus zu ver­fal­len. Das Ende ist nahe. Manch­mal macht die­se Welt ja wirk­lich die­sen Ein­druck. Aber für Unter­gangs­pro­phe­zei­un­gen wird nie­mand gewählt. Ich neh­me heu­te eine grü­ne Linie war, die in etwa heißt: ja, es gibt da gigan­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen, und ja, es ist wich­tig, hier und jetzt zu han­deln (statt sich im Zwei­kampf zu ver­bei­ßen). Und ja: wir haben ein paar Ideen, wie die­se Pro­ble­me gelöst wer­den könn­ten, aber bei wei­tem noch nicht alle Ant­wor­ten. Wir wis­sen, in wel­che Rich­tung es gehen soll. Wir haben Über­zeu­gun­gen, für die wir bereit sind, aktiv zu wer­den, aber wir sind eben­so bereit, zuzu­hö­ren. Und die­se grü­ne Linie stößt durch­aus auf Inter­es­se bei Wäh­le­rin­nen und Wählern.

Wenn dann noch Per­so­nen dazu kom­men, die eine sol­che Hal­tung glaub­haft ver­mit­teln, weil sie dafür ste­hen: für fröh­li­che Gesprächs­be­reit­schaft und Klar­heit in der Posi­ti­on, für Unauf­ge­regt­heit ange­sichts von rich­tig gro­ßen Her­aus­for­de­run­gen und für Kom­pe­tenz und Lösungs­be­reit­schaft – dann fängt der grü­ne Tep­pich an zu flie­gen. Und das sehen wir gerade.

Bis­her klappt das ganz gut. Als Par­tei kön­nen wir ein biss­chen was dazu tun, dass die­ser Tep­pich in der Luft bleibt. Unse­re Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz am 9.–11. Novem­ber, bei der Euro­pa­lis­te und Euro­pa­wahl­pro­gramm beschlos­sen wer­den, ist in gewis­ser Wei­se der Lack­mus-Test dafür, ob die eben skiz­zier­te Hal­tung in die­ser Par­tei breit ange­kom­men ist. Es gibt aber auch Tur­bu­len­zen, die von außen kom­men – wenn BILD sich sen­sa­ti­ons­lüs­ter­ne Kam­pa­gnen star­tet, bei­spiels­wei­se. Da kommt es dann dar­auf an, zusam­men­zu­ste­hen und sich nicht intern zu zerlegen.

Mit­tel­fris­tig stellt sich bei Wahl­er­geb­nis­sen, die eher in Rich­tung 20, 30 Pro­zent gehen, schnell die Volks­par­tei­f­ra­ge. Selbst mit inzwi­schen 70.000 Mit­glie­dern sind wir weit von der gesell­schaft­li­chen Ver­wur­ze­lung ent­fernt, die die klas­si­schen Volks­par­tei­en, die ja immer noch meh­re­re hun­der­tau­send Mit­glie­der haben, aus­zeich­net. Ich hal­te es für unrea­lis­tisch, in den nächs­ten Jah­ren in die­se Grö­ßen­ord­nun­gen vor­zu­sto­ßen. Was wir statt des­sen anbie­ten kön­nen, als in der Mit­glied­schaft klei­ne­re Par­tei, ist etwas, was viel­leicht zeit­ge­mä­ßer ist als das Modell der Volks­par­tei. Wir kön­nen Bünd­nis­part­ner sein. 

Das Grund­satz­pro­gramm von 1980 und der grü­ne Grund­kon­sens von 1993 beto­nen die sozia­len Bewe­gun­gen als Wur­zel der grü­nen Par­tei­wer­dung. Bewe­gungs­par­tei im Sin­ne eines „par­la­men­ta­ri­schen Arms“ sind wir sicher nicht mehr. Aber wir kön­nen heu­te der Kris­tal­li­sa­ti­ons­keim sein, der brei­te Bünd­nis­se aus der (umfas­send zu ver­ste­hen­den) Zivil­ge­sell­schaft zusam­men­bringt. Bünd­nis­se, die sich von links bis in die libe­ra­le Mit­te erstre­cken. Die für eine ver­nünf­ti­ge Poli­tik ste­hen – egal, ob es um einen huma­nen Umgang mit Flücht­lin­gen, um die Wer­te des Grund­ge­set­zes oder um die gemein­sam not­wen­di­ge Anstren­gung geht, den CO2-Aus­stoß nicht nur in Deutsch­land mas­siv zu redu­zie­ren. Das sind die Fra­gen unse­rer Zeit, die vie­le Men­schen umtreibt (übri­gens auch Unter­neh­me­rin­nen und Unter­neh­mer). Ich glau­be, dass es unse­re Rol­le und Auf­ga­be sein könn­te, die­sen heu­te zen­tra­len The­men eine poli­ti­sche Stim­me zu geben. Das krie­gen wir hin – gemeinsam.

War­um blog­ge ich das? Als klei­ne Reak­ti­on auf die Wah­len in Bay­ern und Hes­sen und auf die Debat­te ange­sichts der bun­des­wei­ten Umfragewerte.