Science Fiction und Fantasy im April 2024

School at night, Gundelfingen

Neben Kurz­ge­schich­ten habe ich im April eine Rei­he wirk­lich ein­drucks­vol­ler Roma­ne gele­sen. Ich fan­ge mal mit den Kurz­ge­schich­ten an:

Das war zum einen der Sam­mel­band Glass and Gar­dens: Solar­punk Sum­mers (2018), her­aus­ge­ge­ben von Sare­na Uli­bar­ri. Größ­ten­teils schö­ne Geschich­ten, aber so ganz warm wer­de ich mit dem Gen­re nicht. Die Mischung zwi­schen hof­fungs­voll und gemüt­lich einer­seits und punk ande­rer­seits ist … nicht ganz ein­fach. Und die eine oder ande­re Geschich­te ist mir dann schlicht zu wenig ambi­va­lent, zu naiv. Aber viel­leicht braucht’s das ab und an doch.

Dann habe ich von Nao­mi Krit­zer die Geschich­te „The Year Wit­hout Suns­hi­ne“ (2023) gele­sen. Auch irgend­wie Solar­punk, oder: was pas­siert, wenn ganz nor­ma­le Leu­te in einem ganz nor­ma­len Wohn­block etwas, das sich stark nach Apo­ka­lyp­se anfühlt, über­ste­hen müs­sen. Mehr will ich nicht ver­ra­ten, aber sehr schön gemacht. Und anders als erwart­bar. (Dar­auf­hin habe ich dann auch Krit­zers Sam­mel­band Gift of the Win­ter King and Other Sto­ries (2011) gele­sen und wur­de nicht ent­täuscht: auch hier vie­le ent­täusch­te Erwar­tun­gen und Din­ge, die anders sind, als sie anfangs schei­nen. Wer Kurz­ge­schich­ten mag, und Krit­zer noch nicht kennt, ist da gut aufgehoben). 

Dann wie ange­kün­digt, die Bücher. Emi­ly Wilde’s Map of the Other­lands (2024) von Hea­ther Faw­cett ist eine gelun­ge­ne Fort­set­zung des ers­ten Bands, die größ­ten Teils in den Schwei­zer Alpen – und teil­wei­se in Feen­rei­chen – spielt. Wild und gefähr­lich, aber nicht zu düs­ter, mit einem ordent­li­chen Schuss Roman­tik – und einem etwas abrup­ten Ende. Aber der drit­te Band ist schon für 2025 vorbereitet. 

Beein­druckt hat mich Caho­kia Jazz (2023) von Fran­cis Spuf­ford. Das ist auf den ers­ten Blick pures noir aus den 1920er Jah­ren, mit zwei her­un­ter­ge­kom­me­nen Poli­zis­ten, blu­ti­gen Ver­bre­chen, Ver­stri­ckun­gen zwi­schen Halb­welt und Indus­trie­bos­sen und so wei­ter. Die Haupt­per­son, Joe Bar­row, ist nicht nur Poli­zist, son­dern auch begna­de­ter Jazz-Pia­nist (mit düs­te­rer Kind­heit). Ach so, und er wird für tako­u­ma gehal­ten, spricht aber nur weni­ge Wor­te Anopa. Denn die Metro­po­le Caho­kia exis­tiert in unse­rer Rea­li­tät nicht. Sie liegt unge­fähr da, wo St. Lou­is am Mis­sis­sip­pi zu fin­den ist, und wird von tako­u­ma – den Abkömm­lin­gen der Nati­ve Ame­ri­cans, tak­lou­sa – Men­schen mit afri­ka­ni­scher Her­kunft – und euro­päi­schen taka­ta bewohnt. Anopa ist die lin­gua fran­ca die­ses indi­ge­nen Staa­tes, der gera­de dabei ist, Teil der Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu wer­den. Die Mafia, der Klan und diver­se ande­re Akteu­re haben ein Inter­es­se dar­an, einen Vor­wand zu fin­den, die Macht in Caho­kia zu über­neh­men. Dass dort „Son­ne“ und „Mond“ fak­tisch wei­ter­hin die Macht haben, dass Land nicht ver­kauft, son­dern nur ver­pach­tet wird, dass hier Anopa gespro­chen wird und nicht Eng­lisch – all das ist die­sen Grup­pen ein Dorn im Auge. Und so wird aus dem Kri­mi ein Wett­lauf gegen die Zeit. Spuf­fords Alter­na­tiv­ge­schich­te ist trotz des 1920er-Noir-The­mas deut­lich les­ba­rer und stel­len­wei­se auch humor­vol­ler als Cha­b­ons The Yid­dish Policemen’s Uni­on. Das Set­ting ist nicht nur Set­ting, son­dern wird zum ori­gi­nä­ren Teil der Geschich­te, die nur hier mög­lich ist. 

Auch Rut­han­na Emrys Win­ter Tide (2017) spielt in einer alter­na­ti­ven Ver­si­on der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Wir befin­den uns in den 1940er Jah­ren, der zwei­te Welt­krieg ist vor­bei. Neben Bürger*innen japa­ni­scher Abstam­mung waren auch die amphi­bi­schen Bewohner*innen von Inns­mouth (New Eng­land) der Ver­fol­gung und Inter­nie­rung aus­ge­setzt; nur die in den Oze­an ent­flo­he­nen „Deep Ones“ haben über­lebt – und Aphra, die Haupt­per­son die­ses Romans, sowie ihr Bru­der Caleb. Emrys stellt Love­crafts Cthul­hu-Mythos hier vom Kopf auf die Füße. Magie ist real; neben den uns bekann­ten Men­schen „der Lüf­te“ leben auch Was­ser- und Erd­men­schen, und über­haupt ist die­ser Teil unse­rer Geschich­te nur ein Bruch­teil der kos­mi­schen Geschich­te. Für Aphra ist Cthul­hu Teil ihrer Reli­gi­on. Gemein­sam mit einer unwahr­schein­li­chen Grup­pe von Held*innen macht sie sich auf die Suche nach den Über­res­ten ihrer Zivi­li­sa­ti­on, nach den in Inns­mouth geraub­ten Büchern und Über­lie­fe­run­gen. Emrys erzählt das mit viel Empa­thie, so dass deut­lich wird: der eigent­li­che Hor­ror sind nicht die „Mons­ter“ Love­crafts. (Sie­he dazu auch die­se Nicht-Bespre­chung durch Ada Pal­mer und, wo wir bei Kurz­ge­schich­ten sind, die­se hier – ganz ande­res Set­ting, aber ähn­li­ches Thema). 

Zu Walk the Vanis­hed Earth von Erin Swan (2022) habe ich mir „ver­stö­rend, sur­re­al, aber irgend­was stimmt mit der Mars-Gra­vi­ta­ti­on nicht“ notiert. Das Buch erstreckt sich von 1873 bis 2073 a la David Mit­chells Cloud Atlas über meh­re­re Gene­ra­tio­nen einer Fami­lie, beginnt – nicht, dass chro­no­lo­gisch erzählt wür­de – bei der Bison­jagd in der ame­ri­ka­ni­schen Prä­rie und endet mit Spa­zier­gän­gen auf der Mars-Ober­flä­che. Die Welt endet mehr­fach, es geht um Über­le­ben und das Sich-Durch­kämp­fen ambi­va­len­ter Cha­rak­te­re in tra­gi­schen Situa­tio­nen, um Mord, aber auch um gefun­de­ne und gewoll­te Gemein­schaf­ten und Wahl­fa­mi­li­en. Sehr phan­ta­sie­voll, stre­cken­wei­se sehr düs­ter, und nicht so leicht zu ertra­gen, aber immer inter­es­sant. Man­che Hand­lung folgt eher einer Traum­lo­gik, egal, ob in den 1970ern oder 2027. Ins­ge­samt eines der Bücher, das mich im April beein­druckt hat. 

Und auch The Deep Sky von Yume Kitas­ei (2023) ist durch­aus emp­feh­lens­wert. Das Motiv des Gene­ra­tio­nen­schiffs und der damit ver­bun­de­nen Kon­flik­te wird hier mal anders durch­ge­spielt. Non­bi­nä­rer Femi­nis­mus, vir­tu­el­le Wel­ten, eine frag­wür­di­ge Eli­te­aus­bil­dung und schwie­ri­ge Müt­ter-Töch­ter-Bezie­hun­gen kom­men eben­so vor wie Sabo­ta­ge und ein auf­zu­klä­ren­der Mord. Die Haupt­fi­gur Asuka hat japa­nisch-ame­ri­ka­ni­sche Wur­zeln und fühlt sich zwi­schen bei­den Wel­ten. Nicht nur des­halb geht es auch um Außen­sei­ter­tum und Fremd­heit. Also: ziem­lich viel, was in den Phoe­nix, wie hier das Gene­ra­tio­nen­schiff heißt, gepackt wur­de – und ein lesens­wer­tes Buch, das bis zuletzt span­nend bleibt.

Ange­schaut habe ich mir vor allem Seri­en – die fünf­te Staf­fel von Star Trek: Dis­co­very macht sich gut, und auch die ers­ten paar Fol­gen von Three Body Pro­blem hal­ten, was ver­spro­chen wur­de (auch wenn vie­les anders ist als im Buch). In Fall­out habe ich – ohne das Video­spiel zu ken­nen – mal rein­ge­schaut, weiß aber noch nicht, ob das was für mich ist – inter­es­san­tes Set­ting, aber dann doch arg blu­tig und zu viel post-apo­ka­lyp­ti­sche Gewalt und zu wenig All­tag im Fall­out-Shel­ter. Gese­hen habe ich außer­dem Dam­sel, eine recht gut gemach­te Umdre­hung der Rettet-die-Prinzessin-Geschichte. 

Science Fiction und Fantasy im März 2024

Miniaturwunderland - XIX

Vor ein paar Tagen wur­den die Fina­lis­ten für den dies­jäh­ri­gen Hugo-Award von der World­con Glas­gow ver­öf­fent­licht. Vier der sechs für den bes­ten Roman nomi­nier­ten Wer­ke habe ich gele­sen (und fin­de sie dort sehr zu recht plat­ziert), in den ande­ren Kate­go­rien sind es jeweils nur ein oder zwei Ein­trä­ge, die ich ken­ne. Was mich zu der Fra­ge bringt: war jemand schon mal auf einer World­con? Bei Rie­sen­ver­an­stal­tun­gen bin ich immer so ein biss­chen skep­tisch, ist nicht wirk­lich mei­ne bevor­zug­te Umwelt – gleich­zei­tig liegt Glas­gow halt tat­säch­lich in einer – in den hie­si­gen Som­mer­fe­ri­en – erreich­ba­ren Ent­fer­nung. Will ich da hin?

Damit zu dem, was ich im März ange­guckt und gele­sen habe – im Rück­blick eini­ges, Pen­del­stre­cken zah­len sich aus … 

Ange­guckt habe ich mit mei­nen inzwi­schen schon sehr jugend­li­chen Kin­dern die Net­flix-Serie „The Last Air­ben­der“ (die Real­ver­fil­mung von 2024), die soli­de gemacht ist, auch wenn ich an der einen oder ande­ren Stel­le die Green­screens bzw. die digi­ta­le Trick­kis­te nicht ganz per­fekt ein­ge­setzt fin­de. Die Geschich­te selbst ist aus der Zei­chen­trick­se­rie bekannt, hier aber noch­mal ver­dich­tet. Im Hin­ter­grund ziem­lich viel Trau­ma, im Vor­der­grund hüb­sche Land­schaf­ten, fan­tas­ti­sche Orte, flie­gen­de Tie­re und nach­voll­zieh­ba­re Zauberkräfte.

Ange­schaut habe ich mir wei­ter „Cloud Atlas“ (2012) – zum zwei­ten Mal, das Buch von David Mit­chell habe ich eben­falls schon ein- oder zwei­mal gele­sen. Und es lohnt sich, die­sen sehr lan­gen Film zwei­mal zu sehen – die (mit der Rah­men­hand­lung) sie­ben Zeit­ebe­nen sind sonst doch etwas ver­wir­rend. Und das eine oder ande­re Detail in der Ver­knüp­fung zwi­schen den Zeit­ebe­nen wird auch erst beim zwei­ten Hin­se­hen sicht­bar. Was ich nicht wuss­te, und erst im Nach­hin­ein gelernt habe: die Schauspieler*innen in den Zeit­ebe­nen sind zu gro­ßen Tei­len iden­tisch, wech­seln aller­dings wild Alter, z.T. auch eth­ni­sche Her­kunft und Geschlecht. Das ist dann doch ziem­lich eindrucksvoll. 

Ähn­lich unver­film­bar und ähn­lich lang (und ver­mut­lich eben­falls bes­ser, wenn er ein zwei­tes Mal ange­schaut wird): der zwei­te Teil von „Dune“ (2024) von Denis Ville­neuve läuft jetzt im Kino. Das ers­te Dune-Buch ist in der Ver­fil­mung damit in Teil 1 und 2 rund fünf Stun­den lang, das ist eini­ges – und die Dune-Serie hät­te ja auch noch eini­ge Nach­fol­ge­bän­de zu bie­ten, dazu gleich. Wäh­rend Teil 1 viel Expo­si­ti­on bot, und mir vor allem in sei­ner Ästhe­tik (samt bru­ta­lis­ti­scher Raum­schif­fe) in Erin­ne­rung geblie­ben ist, ist Teil 2 sehr viel hand­lungs­rei­cher. Paul Atrei­des schließt sich den Fre­men an, wird als deren Mes­si­as aner­kannt, rei­tet auf Sand­wür­mern und greift schließ­lich das Impe­ri­um an. Das hat epi­schen Cha­rak­ter, und zeigt, was Kino kann. Eini­ge Details fand ich bemer­kens­wert, etwa die Ent­schei­dung, Pauls Schwes­ter Alia – auf­grund einer Zeit­raf­fung gegen­über dem Buch – größ­ten­teils nur als voll bewuss­ten Embryo zu zei­gen, oder auch die in Infra­rot­schwarz­weiß gefilm­ten Sze­nen auf Gie­di Prime, die eine ganz eige­ne Fremd­ar­tig­keit zum Aus­druck bringen. 

„Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy im März 2024“ weiterlesen

Drei Gedanken zu „Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt.“

Buchcover Friedemann Karig "Was ihr wollt"Frie­de­mann Karig, der mir bis­her vor allem über den einen oder ande­ren pro­non­cier­ten Tweet auf Mast­o­don auf­ge­fal­len war – ich bin nicht der gro­ße Pod­cast-Hörer, sonst wäre das sicher anders – hat vor ein paar Tagen das rund 180 Sei­ten umfas­sen­de Buch Was ihr wollt. Wie Pro­test wirk­lich wirkt ver­öf­fent­licht. Das Buch geht auf die Geschich­te von Pro­tes­ten ein, und legt einen beson­de­ren Fokus auf die Aktio­nen der Letz­ten Gene­ra­ti­on. Es lässt sich geschmei­dig weg­le­sen – im Nach­gang bin ich dann aber doch an drei Punk­ten hängengeblieben.

Ers­tens die Titel­fra­ge, wie Pro­tes­te wir­ken. Wenn ich das rich­tig zusam­men­fas­se, dann ist Karig eher skep­tisch bezüg­lich quan­ti­ta­ti­ven Ansät­zen. Nicht jeder Pro­test, an dem 3,5 Pro­zent der Bevöl­ke­rung teil­neh­men, war erfolg­reich. Über­haupt stellt sich natür­lich die Fra­ge, was die Wir­kung eines Pro­tes­tes ist. In auto­ri­tä­ren Regi­men ist der Sturz der Regie­rung noch ein rela­tiv klar umris­se­nes Erfolgs­kri­te­ri­um. In Demo­kra­tien geht es dar­um, die poli­ti­sche Agen­da zu ver­än­dern. Und das kann etwas sein, das sehr lan­gen Atem braucht. Karig führt hier in Anleh­nung an die „Öko­no­mie der Auf­merk­sam­keit“ die Idee einer „Öko­lo­gie der Auf­merk­sam­keit“ ein. Es geht nicht ein­fach um „mehr Auf­merk­sam­keit“, son­dern dar­um, dass sich das rich­ti­ge Nar­ra­tiv durchsetzt. 

Mit Nar­ra­tiv meint Karig eine erzäh­le­ri­sche Ein­heit, die poli­ti­sche Debat­ten struk­tu­rie­ren hilft, und die drei Ele­men­te auf­weist: „Wer ist Han­deln­der (Prot­ago­nist)? Wer ist Gegen­spie­ler (Ant­ago­nist)? Wel­che Wer­te ste­hen auf dem Spiel?“ (S. 99). Dar­aus lässt sich dann ablei­ten, dass die bei­den ent­schei­den­den Fra­gen einer Öko­lo­gie der Auf­merk­sam­keit von Pro­tes­ten fol­gen­de sind: „Wel­che Geschich­te erzählt Pro­test über sich und sei­nen Gegen­stand? Und: Wer sind in die­ser Geschich­te die Bösen?“ (S. 101). „Drei Gedan­ken zu „Was ihr wollt. Wie Pro­test wirk­lich wirkt.““ weiterlesen

Science Fiction und Fantasy im Februar 2024

Hamburg XXXIII

Vor­teil an Pen­del­stre­cken: viel gele­sen krie­gen. Zuerst aber ein Blick auf sons­ti­ge Medi­en. Die Gra­phic Novel Unfol­low (2020) von Lukas Jüli­ger fand ich dann doch eher verstörend/irritierend. Aber viel­leicht sind auch Gra­phic Novels nicht so ganz mein Format.

Auf dem Bild­schirm gese­hen habe ich einen der Net­flix-Wes-Ander­son-Kurz­fil­me (nach Roald Dahl), sowas wie Wes Ander­son als Essenz. Hat was. Dann haben wir Tomor­row­land (2015) ange­schaut – ein biss­chen Gib­sons Gerns­back-Kon­ti­nu­um, ein biss­chen Wer­bung für Dis­neys Ver­gnü­gungs­park. Ins­ge­samt nicht so rich­tig überzeugend.

Wow-Effekt dafür bei der zwei­ten Staf­fel The Wit­cher (Net­flix), naja vor allem Auf­grund des har­ten Über­ra­schungs­mo­ments ganz am Schluss. Ansons­ten soli­de gemach­te Fantasy.

Gele­sen habe ich Veno­mous Lump­su­cker (2022) von Ned Beau­man – eine düs­te­re und böse Sati­re auf Zer­ti­fi­kats­han­del, Kapi­ta­lis­mus und liber­tä­re Sei­fen­bla­sen­träu­me. Ober­fläch­lich geht es in die­sem Buch um die Welt in ein paar Jahr­zehn­ten. Das Arten­ster­ben hat sol­che Aus­ma­ße ange­nom­men, dass sich rund um den Erhalt der letz­ten Arten und Öko­sys­te­me ein Wirt­schafts­zweig ent­wi­ckelt hat – mit han­del­ba­ren Schutz­rech­ten, mul­ti­na­tio­na­len Kon­zer­nen und kor­rup­ten Regi­men. Der (wenn ich das rich­tig sehe, fik­ti­ve) titel­ge­ben­de Lump­fisch steht in der Ost­see kurz vor dem Aus­ster­ben. Ent­spre­chend ist die Haupt­per­son, eine Bio­lo­gin, nicht gewillt, einem mul­ti­na­tio­na­len Kon­zern den Per­sil­schein für deren Abbau­rech­te im letz­ten Habi­tat die­ses Fisches zu geben. Dem Kon­zern gefällt das nicht, auch des­we­gen, weil da schon abge­baut wur­de – und über­haupt: im Zwei­fel gibt es ja Gen­ban­ken. Bis dann ein unvor­her­ge­se­he­nes Ereig­nis dazu führt, dass eine wil­de Jagd auf die letz­ten Lump­su­cker beginnt. Eine Jagd, die Beau­man für eine exzel­lent zuge­spitz­te Sati­re diver­ser Aus­wüch­se unse­rer Gegen­warts­ge­sell­schaft nutzt.

Nach­dem mir die­ses Buch sehr gut gefal­len hat, habe ich dann Beau­mans älte­res The Tele­por­ta­ti­on Acci­dent (2012) gele­sen, damit bin ich aller­dings nicht so rich­tig warm gewor­den, bzw. konn­te erst gegen Schluss des Buches was damit anfan­gen. Set­ting hier sind die 1930er Jah­re, Ber­lin, Paris, Los Ange­les, es geht um poli­tik-des­in­ter­es­sier­te Kunst, Bohe­me und Möch­te­gern-Bohe­me – und immer wie­der um Lust und Ver­lan­gen der männ­li­chen Haupt­per­son. Das Ende dage­gen hat Poten­zi­al, bzw. spielt mit Potenzialitäten.

Ganz was ande­res: Rebec­ca Camp­bells Band Arbo­rea­li­ty (2022) – ich wür­de das als mit­ein­an­der ver­schlun­ge­ne Vignet­ten aus einer Zukunft nach der Kli­ma­kri­se bezeich­nen, ver­or­tet zwi­schen Van­cou­ver und Seat­tle, zusam­men­ge­hal­ten durch Bäu­me (und durch Per­so­nen, die bzw. deren Kin­der und Enkel immer wie­der auf­tau­chen). Nicht auf­re­gend, ohne gro­ße Action, immer aus der indi­vi­du­el­len Per­spek­ti­ve, aber gera­de des­we­gen ein­drück­lich und lesenswert.

Von Mal­ka Older ist der zwei­te Band ihrer auf einem zur neu­en Hei­mat der von der Erde geflo­he­nen Mensch­heit gewor­de­nen „Steampunk“-Jupiter („Giant“) spie­len­den Detek­tiv­se­rie („cozy space ope­ra detec­ti­ve mys­tery“) erschie­nen, und The Impo­si­ti­on of Unneces­sa­ry Obs­ta­cles (2024) hat mich – viel­leicht weil ich das Set­ting schon kann­te – dann doch mehr abge­holt als der ers­te Band. Uni­ver­si­tä­ten und deren inter­ne Poli­tik spie­len eine Rol­le, und natür­lich die nicht ganz ein­fa­che Bezie­hung zwi­schen Mos­sa und Plei­ti, den bei­den Haupt­fi­gu­ren. Und Io kommt auch vor.

R.F. Kuangs Roman Babel (2022) war in den Schlag­zei­len, weil er vom Hugo-Preis­ver­lei­hungs­ko­mi­tee kur­zer­hand von der Short­list gestri­chen wur­de, wohl aus vor­aus­ei­len­der Angst vor mög­li­chen chi­ne­si­schen Zen­sur­ver­su­chen. Der Roman spielt zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts in einem bri­ti­schen Impe­ri­um, das auf lin­gu­is­ti­sche Magie setzt statt auf Koh­le. Genau­er gesagt: in der Über­set­zung in ihren Bedeu­tun­gen aus­ein­an­der­ge­hen­de Wort­paa­re, die in Sil­ber ein­gra­viert wer­den, ver­ur­sa­chen hier magi­sche Wir­kun­gen. Der Roman ist auch ein Roman über Über­set­zun­gen, vor allem aber einer über Kolo­nia­lis­mus (aus der Per­spek­ti­ve von „Robin Swift“, in Kan­ton auf­ge­wach­sen, dann nach Lon­don und schließ­lich nach Oxford gebracht, um die magi­sche Über­set­zungs­kunst zu erler­nen) und – bevor es in der Oxford-Vari­an­te der Zau­ber­schu­le all­zu gemüt­lich wird – über Klas­sen­kampf, Revo­lu­ti­on und die Fra­ge, wann Gewalt ein­ge­setzt wer­den darf und wann nicht. Ein­drucks­voll und zurecht ein Anwär­ter auf den Hugo.

Und noch­mal eine Vari­an­te des Zau­be­rei­schul-Motivs – dies­mal in James Isling­tons The Will of the Many (2023). Der Roman spielt in einem Pseu­do-Rom, mit einer rigi­den sozia­len Schich­tung, die dar­auf beruht, einen Teil des eige­nen Wil­lens wei­ter­zu­ge­ben. Wer an der Spit­ze der­ar­ti­ger Pyra­mi­den – Reli­gi­on, Mili­tär, Ver­wal­tungs­ap­pa­rat haben je ihre eige­nen – steht, wird zum Super­held. Und wer ganz unten steht, wird halb­tot nur als Wil­lens­lie­fe­rant am Leben erhal­ten. In die­sem Set­ting ist der Wai­se Vis unser Fokus­punkt – er wird adop­tiert und kommt als 17-jäh­ri­ger Spi­on in die hie­si­ge Vari­an­te der Eli­te-Zau­be­rei-Aka­de­mie, die durch har­te Aus­wahl und auf­fäl­lig vie­le töd­li­che Unglü­cke von sich reden macht. Wem er dort trau­en kann und wem nicht, wer wel­che Intri­gen spinnt und was echt ist, und was insze­niert – das zeigt sich erst im Lauf des Geschich­te. Und auch hier spielt Impe­ria­lis­mus eine Rol­le – Vis leb­te vor der Inva­si­on durch das Pseu­do-Rom in einem bis dato selbst­stän­di­gen Insel­kö­nig­reich. Teil der Aka­de­mie ist ein mys­te­riö­ses Laby­rinth. Ohne das Ende vor­weg­zu­neh­men: da ist dann auch noch­mal man­ches ganz ande­res, als es scheint. Inso­fern bin ich schon sehr auf den zwei­ten Band gespannt.

Über Infrastruktur, und wie wir sie erhalten können

Ich gebe zu, dass ich bei dem The­ma etwas vor­ein­ge­nom­men bin. Eine von den Din­gen, die ich wirk­lich aus mei­nem Sozio­lo­gie­stu­di­um mit­ge­nom­men habe, ist Pra­xis­theo­rie: gesell­schaft­li­che Regeln, Erwar­tun­gen usw. ver­fes­ti­gen sich, indem sie immer wie­der wie­der­holt wer­den – und damit Bah­nen schla­gen für genau die­se Regeln und Erwar­tun­gen. Es ist so, weil es schon immer so war. Sozia­le Struk­tur­bil­dung ist flui­de. Jetzt kommt Tech­nik ins Spiel: in Infra­struk­tur und Arte­fak­te gegos­se­ne Erwar­tun­gen sind sehr viel fes­ter als blo­ße sozia­le Erwar­tungs­bün­del und tra­gen dazu bei, die­se über die Zeit fest­zu­schrei­ben. Bis hin zu kon­tin­gen­ten Ent­schei­dun­gen, die heu­te extre­men Ein­fluss dar­auf haben, was wir glau­ben zu tun zu kön­nen und was nicht. Egal, ob es das Lay­out von Tas­ta­tu­ren ist oder die Spur­wei­te der Eisen­bahn oder die Ori­en­tie­rung gan­zer Städ­te auf das Auto. Mit Eliza­beth Sho­ve gespro­chen: sozia­le Prak­ti­ken bestehen aus einer Tri­as aus Skills/Handeln, Bildern/Vorstellungen/Wissen und eben Arte­fak­ten. Was ich sagen will: das Wech­sel­spiel zwi­schen Infra­struk­tur und sozia­ler Struk­tur­bil­dung fas­zi­niert mich.

Genau da setzt Deb Chach­ras Buch How Infra­struc­tu­re Works. Insi­de the Sys­tems That Shape Our World (2023) an. Chach­ra – eine Pro­fes­so­rin für Mate­ri­al­wis­sen­schaft – beginnt (wie im gan­zen Buch mit einem sehr lako­ni­schen, anspie­lungs­rei­chen und auch vor Wort­spie­len nicht zurück­schre­cken­den Stil) mit einer Ein­füh­rung, was Infra­struk­tu­ren über­haupt sind, wie es dazu kommt, dass es sie gibt, und wie Infra­struk­tu­ren auf­ein­an­der auf­bau­en. Und schon ziem­lich früh in ihrem Buch macht sie klar, dass Infra­struk­tur eben auch etwas mit Macht zu tun hat, und ohne sozia­le Ein­bet­tung – und ohne sozia­le Wir­kung – über­haupt nicht denk­bar ist. Beson­ders an dem Buch ist zudem die viel­fäl­ti­ge Per­spek­ti­ve. Chach­ra ist die Toch­ter von nach Kana­da ein­ge­wan­der­ten Inder*innen, und sie lebt inzwi­schen in den USA, zwi­schen­zeit­lich in Groß­bri­tan­ni­en. Das sind die Kon­trast­fo­li­en, die immer wie­der auftauchen.

Was im ers­ten Teil eher wie eine gute geschrie­be­ne Ein­füh­rung in die Geschich­te von Was­ser, Gas, Elek­tri­zi­tät (und Ver­kehr) wirkt, wird dann schnell zu einem poli­ti­schen Buch. Die Infra­struk­tur, die wir als gege­ben hin­neh­men, und die ein Ergeb­nis (und eine Grund­la­ge) der Akku­mu­la­ti­on von Reich­tum in den west­li­chen Gesell­schaf­ten dar­stellt, ist ohne lan­ge Hand­lungs­ket­ten, ohne Aus­beu­tung des glo­ba­len Südens, nicht denk­bar. Infra­struk­tur ist in sozia­le und poli­ti­sche Sys­te­me ein­ge­bet­tet und per­p­etu­iert diese.

Oder, um es in zwei Zita­te zu packen: „Infra­struc­tu­ral net­works, by their natu­re, increase indi­vi­du­al free­dom coll­ec­tively.“ (S. 115) – „Infra­struc­tu­ral net­works could be fair­ly descri­bed as vast con­s­truc­tions who­se pur­po­se is to cen­tra­li­ze resour­ces and agen­cy to a small frac­tion of extre­me­ly pri­vi­led­ged humans and to dis­place the harms to many others.“ (S. 134)

Chach­ra geht nun dar­auf ein, wie Infra­struk­tur „fails“ (fehl­schlägt, kaputt geht – ich fin­de, das lässt sich nicht so rich­tig gut über­set­zen). Das sind näm­lich nicht nur Ter­ror­an­schlä­ge etc., son­dern ins­be­son­de­re auch lang­sam anwach­sen­de War­tungs­pro­ble­me, weil zum Bei­spiel kein Geld da ist, um Brü­cken zu sanie­ren. Die­se Art von Pro­ble­men nennt Chach­ra in Abgren­zung von „black swans“ und „gray swans“ dann „red ter­mi­tes“ – läs­tig, fast unsicht­bar, gut igno­rier­bar, und irgend­wann stürzt die Brü­cke dann ein. („Any suf­fi­ci­ent­ly advancded neg­lie­gence is indis­tin­gu­is­ha­ble from mali­ce.“ (S. 161))

Funk­tio­nie­ren­de Erhal­tung von Infra­struk­tur hat wie­der­um sehr viel damit zu tun, wie die­se poli­tisch ein­ge­bet­tet ist – geht es dar­um, einen Pro­fit zu erwirt­schaf­ten, oder steht das All­ge­mein­wohl im Vor­der­grund? Wie viel Geld wird zur Ver­fü­gung gestellt, und wie wird die schein­bar so lang­wei­li­ge Rou­ti­ne­ar­beit der Über­prü­fung und Instand­set­zung bewertet?

Neben Schwä­nen und Ter­mi­ten taucht dann auch ein „gray rhi­no“ auf – das graue Nas­horn, das längst im Raum steht, und ger­ne igno­riert wird, egal, wie es sich benimmt: der Kli­ma­wan­del. Das es die­sen gibt, hat viel mit Infra­struk­tur zu tun – im Bau und Betrieb von Infra­struk­tur steckt Ener­gie, und die ist für die letz­ten 200 Jah­re vor allem fos­si­le Ener­gie. Gleich­zei­tig führt der Kli­ma­wan­del dazu, dass Infra­struk­tur Pro­ble­men aus­ge­setzt ist, die bis­her unvor­her­ge­se­hen sind. Jahr­hun­dert­stür­me und ‑hoch­was­ser häu­fen sich, Tem­pe­ra­tu­ren schwan­ken über Berei­che hin­aus, für die Stra­ßen oder Strom­lei­tun­gen vor­ge­se­hen sind. Der Kli­ma­wan­del trägt also dazu bei, dass unse­re für selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­me­ne Infra­struk­tur schnel­ler und schnel­ler brö­ckelt und repa­riert und ange­passt wer­den muss.

Wie das gesche­hen kann – und damit schlägt Chach­ra dann den ganz gro­ßen Bogen – wird in den letz­ten Kapi­teln des Buchs aus­ge­führt, in dem sie eine Zukunfts­vi­si­on zeich­net. Die besteht nicht aus glit­zern­der High­tech, son­dern baut auf einer dezen­tra­li­sier­ten, fle­xi­blen und resi­li­en­ten Grund­la­ge auf. Das mag lang­wei­lig wir­ken, ist aber eine sehr viel kon­kre­te­re Uto­pie. Aus einer Ein­füh­rung in die Poli­tik der Infra­struk­tu­ren wird hier ein gut begrün­de­tes poli­ti­sches Mani­fest, das in sechs Hand­lungs­ma­xi­men mündet:

  1. Plan for Abun­dant Ener­gy and Fini­te Materials
  2. Design for Resilience
  3. Build for Flexibility
  4. Move Toward an Ethics of Care
  5. Reco­gni­ze, Prio­rit­ze, and Defend Non-mone­ta­ry Benefits
  6. Make It Public

Das schei­nen mir sehr gute Ori­en­tie­rungs­plan­ken zu sein – und zwar ganz egal, ob es um Ver­kehrs­sys­te­me, Städ­te­pla­nung, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­te­me, Elek­trik oder die Was­ser­ver- und ‑ent­sor­gung geht. Die Zusam­men­hän­ge, die Chach­ra zwi­schen Nach­hal­tig­keit im Sin­ne von Dau­er­haf­tig­keit, einer gewis­sen Nut­zungs­fle­xi­bi­li­tät und dem Fokus auf Resi­li­enz auf macht, erschei­nen sehr plau­si­bel. Dazu gehört auch der inhä­ren­te Wider­spruch zwi­schen Optimierung/Effizienz einer­seits und Resi­li­enz ande­rer­seits. Ein Sys­tem, das mit Ände­run­gen sei­ner Umwelt, mit Pro­ble­men und Stö­run­gen klar kom­men soll, braucht eine gewis­se Red­un­danz, braucht „slack“. Und genau die fällt weg, wenn das Sys­tem bis zum letz­ten Win­kel auf Effi­zi­enz getrimmt wird. 

Ganz neben­bei räumt Chach­ra hier in gelun­ge­ner Wei­se mit dem Mythos auf, dass der indi­vi­du­el­le Fuß­ab­druck, wie ihn BP erfun­den hat, ein hilf­rei­ches Maß ist. Ent­schei­dend sind die gro­ßen tech­ni­schen Sys­te­me, weil die­se nicht nur unser Han­deln ermög­li­chen und len­ken, son­dern in deren Bau und Betrieb auch der Löwen­an­teil unse­rer CO2-Emis­sio­nen steckt.

Ins­ge­samt also ein rund­um emp­feh­lens­wer­tes Buch, nicht nur für Nerds, son­dern für alle, die eine Hand­lungs­an­lei­tung für den Umbau der tech­ni­schen Welt, in der wir leben, brau­chen können.