Der Wahlsonntag ist jetzt fast schon eine Woche her. Und nach Wahlanalysen in den verschiedensten Kontexten bin ich immer noch nicht so ganz sicher, wie ich dieses Wahlergebnis bewerten und einordnen soll.
Ich fange mal mit meiner Prognose an. Die sah so aus:
Wenn ich das zusammennehme, komme ich zu einem aus meiner Sicht nach heutigem Stand möglichen Wahlausgang, bei dem BSW draußen bleibt, die Linke deutlich einzieht (sagen wir: 8,5%), die FDP knapp reinkommt (5,1%), wir Grüne eher am unteren Ende der Umfragen landen (12,5%), die SPD vielleicht auf 16 Prozent kommt, die AfD eher bei 23 Prozent landet und CDU/CSU zusammen nur 27,5 Prozent erreichen.
Gar nicht mal so weit weg vom tatsächlichen Ergebnis. Wir Grüne haben die 12,5 auch nochmal gerissen, obwohl es zu Beginn des Wahlabends so aussah, als ob wir irgendwo zwischen 12 und 13 Prozent landen würden. Am Schluss reichte es nur für 11,6 Prozent, das ist in etwa das Niveau der Europawahl 2024. Die AfD ist bei „nur“ 20,8 Prozent gelandet, die Union war mit 28,6 Prozent minimal besser als ich das vermutet hatte, die SPD erreichte 16,4 Prozent und BSW (knapp) und FDP (deutlich) verpassten den Einzug. Und ja: die Linke kam auf 8,8 Prozent. Auch das also nah an meinem Gefühl nach den letzten Umfragen vor der Wahl und der Stimmungslage.
Im Parlament sitzen damit fünf Fraktionen: CDU/CSU mit 208 Sitzen, die AfD mit 152 Sitzen (!), die SPD mit 120 Sitzen, Grüne mit 85 Sitzen und die Linke mit 64 Mandaten. Dazu kommt noch ein Sitz der SSW. In der Summe 630, zumindest in dieser Hinsicht hat das neue Wahlrecht gehalten, was es versprochen hat (und wird prompt von der Union angegriffen, weil einige CDU- und CSU-Erststimmensieger diesmal nicht einziehen).
Neben der rechnerisch möglichen Mehrheit von CDU/CSU und AfD ist die einzige politische realistische Koalition eine aus CDU und SPD.
Im Lauf des Wahlabends sah es – je nachdem, ob FDP und/oder BSW über oder unter der Fünfprozenthürde lagen – zeitweise so aus, als wäre selbst für diese Koalition keine Mehrheit da. Ich bin ganz froh, dass es nicht auf „Kenia“ hinausläuft (Union + SPD + Grüne). Eine schwarz-grüne Koalition schien zu Beginn des Wahlabends denkbar, als wir Grüne noch höher bewertet wurden. Aber auch hier: wenn ich mir die Aktionen von Merz kurz vor der Wahl anschaue (seine Tassen-im-Schrank-Rede, aber auch die „Kleine“ Anfrage zu Omas gegen Rechts etc., die erst nach der Wahl publik wurde) kann ich mir eine Koalition Union + Grüne unter Merz nicht vorstellen und bin froh, dass diese Option nicht im Raum steht.
Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners im Angesicht der blauen Gefahr?
Jetzt ist es also an der SPD, mit Merz und der Union zu verhandeln. Ob da am Schluss etwas brauchbares oder nur der kleinste gemeinsame Nenner herauskommt, werden wir sehen. Ein bisschen mit Sorge gucke ich hier auf das österreichische Beispiel – dort brauchte es erst letztlich doch platzende Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP, um den Weg für eine ÖVP+SPÖ+Neos-Koalition frei zu machen. Die, wenn ich das richtig sehe, sich jetzt allerdings auf einen Koalitionsvertrag geeinigt hat, der in einigen Punkten durchaus kompatibel mit dem hart rechtspopulistischen Vorgehen der FPÖ wäre. Ich halte dieses Imitieren der Rechten nach wie vor für die falsche Strategie – und auch für Merz hat es sich letztlich nur halb ausgezahlt. Ja, er scheint jetzt Kanzler zu werden – aber die von ihm angepeilten 30 Prozent hat die Union klar nicht erreicht. Und halbiert hat er die AfD auch nicht, eher verdoppelt. Negativkampagnen zahlen sich am Schluss dann doch nicht aus.
Ein bemerkenswerter Umstand dieser Wahl ist die extrem hohe Wahlbeteiligung (trotz Briefwahlproblemen im Ausland). Diese liegt bei rund 85 Prozent. Und wenn die Wählerwanderungsmodelle stimmen, ist sie vor allem der AfD zu Gute gekommen.
Bis auf den Wahlkreis Potsdam (und Berlin) ist der Osten blau, egal, ob auf Erst- oder auf Zweitstimmen geschaut wird. Bei einem etwas differenzierten Blick ist die AfD allerdings nicht nur im Osten extrem stark, sondern konnte auch in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen extrem hohe Werte erreichen – im Landesschnitt zwischen urbanen Städten auf der einen Seite und Industriestädten/ländlichem Raum auf der anderen Seite mittelt sich das dann etwas. Es wird jedoch klar sichtbar: Zustimmung zu dieser rechtsextremen Partei ist kein Ostproblem, sondern betrifft inzwischen das ganze Land. Und als größte Oppositionsfraktion wird die AfD im Bundestag noch einmal stärker auf die Pauke hauen als bisher, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, die sich durch Abgeordnete und deren Mitarbeiterstab ergeben, um sich in der Fläche auszubreiten. Das betrifft auch Freiburg: bisher konnte die AfD hier nicht Fuß fassen, und das Wahlergebnis hat das noch einmal bestätigt. Trotzdem kam die AfD-Kandidatin über die Liste jetzt in den Bundestag – und wird das sicherlich dazu nutzen, zu versuchen, sich in der Stadt zu verankern. wie damit umgehen?
Sollbruchstellen im Wahlkampf
Interessant aus grüner Sicht ist an diesem Wahlabend – neben der Kuriosität, das Simone Fischer das Stuttgarter Direktmandat mit nur fünf Stimmen Vorsprung gewann (und damit unseren lokalen Kandidaten im WK Waldshut auf den ersten Nachrückerplatz verwies) – wohl vor allem die Analyse, was schief gelaufen ist. Denn trotz dem zweitbesten grünen Ergebnis nach 2021 überhaupt und den geringsten Verlusten der drei Ampelparteien gelang es nicht, über die inzwischen verbreitetere Stammwählerschaft hinaus zu punkten. Und das, obwohl es ähnlich hohe Sympathie- und Zustimmungswerte zu Habeck wie zu Scholz oder Merz gab – trotz voller Hallen, einem sehr engagierten und insgesamt gut gemanagten Wahlkampf und vielen Neueintritten.
Aus meiner Sicht gab es zwei Sollbruchstellen in diesem Wahlkampf. Eine davon hat Robert Habeck in den Statements am Wahlabend angesprochen, die andere nicht.
Die erste Sollbruchstelle war das Verhalten nach der Merz-AfD-Abstimmung im Bundestag. Hier waren wir als Partei nicht klar genug – gleichzeitig Merz angreifen und dann doch offen dafür zu sein, mit ihm zu regieren; seine Migrationspolitik falsch zu finden, mit auf Demos gegen rechts zu gehen – und gleichzeitig einen Zehn-Punkte-Plan zu lancieren, der in die ganz andere Richtung ging (und dann nach parteiinternen Protesten zurückgezogen und modifiziert wurde) – das hat nicht funktioniert. Ich persönlich hätte mir hier eine klare Abgrenzung zu Merz gewünscht, und ich bin überzeugt: wenn es ehemalige CDU-Wähler*innen gab, die bereit gewesen wären, dem Wirtschaftsminister der Ampel ihre Stimme zu geben, dann nicht für eine CDU-Kopie. Ich kann aber nachvollziehen, dass das auch anders gesehen werden kann. Dann aber bitte konsequent, mit klarer Kommunikation in die Partei hinein. So, im Hin und Her zwischen beiden Optionen, ohne klare Ansage, landeten wir am Schluss zwischen allen Stühlen (und haben 0,5 Mio. Stimmen an die Union verloren).
Ein Effekt dieses Zittern war eine Linkspartei, die eine neue Dynamik gewann. Plötzlich war sie in Umfragen damit nah an der Fünfprozenthürde. Das Image nach Abspaltung des BSW unverbraucht, aus der Opposition heraus nicht in Regierungsverantwortung eingebunden, als einzige Partei klar auf der Pro-Migrations-Seite – das und ein paar gute Takes bei TikTok reichten, um eine sich selbst verstärkende Dynamik in Gang zu setzen. Die führte dann nicht nur bei Jungwähler*innen (ein Viertel Linke, Grüne weit abgeschlagen!) sondern auch im bisherigen grünen Kernmilieu zu Abwanderungsbewegungen.
Das wurde wohl auch in der Bundespartei gesehen. Als Reaktion darauf gab es dann kurz vor dem Wahltag Versuche, potenziellen Wähler*innen zu erklären, dass die Linke keine Option sind. Hauptargument: „Die wollen nicht mitregieren!“. Das geschah allerdings so ungeschickt – zweite Sollbruchstelle – dass die Linke damit werben konnte. Letztlich habe ich den Eindruck, dass dieser harte Angriff eher zu Trotz und Reaktanz führte als dazu, unentschlossene Wähler*innen zu binden.
Beides hat auch innerparteilich zu einigem an Diskussion geführt, und war bei den verschiedenen Nachwahlbetrachtungen immer wieder Thema.
Nach vorne gerichtet ergibt sich daraus die Frage, wie der Umgang zwischen einer potenziell mitregierenden SPD auf der einen Seite und einer grünen Oppositionspartei zwischen Linke und AfD auf der anderen Seite aussehen wird. Wie viel Verantwortung für das Land steht einer Oppositionspartei gut zu Gesicht, wie viel harter Angriff gegen die Bundesregierung, die unter Druck von der blauen und weiß-blauen Seite steht?
Die Außenpolitik und die Sicherheitslage erlauben keine unbeschwerte Oppositionspolitik – Sichtbarkeit gibt es aber nur, wenn die Opposition sich von der Regierung absetzt. Was hier der beste Weg sein wird – da ist noch einiges ungeklärt.
Und, einen Schritt zurück: die Weltlage wird in den nächsten Monaten nicht einfacher werden. Union und SPD kommen auch mit Grünen und der einen Stimme des SSW nicht auf eine Zweidrittelmehrheit. Eine Grundgesetzänderung etwa zur Modifizierung der Schuldenbremse bräuchte damit nicht nur grüne, sondern auch linke Zustimmung (oder, das Szenario möchte ich mir nicht vorstellen, Stimmen aus der AfD). Auch das wird nicht einfach. Insofern würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen dafür, dass eine schwarz-rote Regierung wirklich vier Jahre durchhält und es nicht vorher zu Neuwahlen kommt. Allerdings: solange die AfD weiterhin nicht verboten ist, solange Trump, Musk, Zuckerberg und die chinesische Regierung weiter nach Belieben soziale Medien manipulieren können, wird jede vorgezogene Wahl vermutlich nur weiter auf die AfD einzahlen. Da liefen dann die Parallelen zum Aufstieg der Nazis irgendwann nicht mehr fern.
Das heißt für mich aber auch: die Zivilgesellschaft (die sich Druck durch die Union ausgesetzt sehen wird) ist mehr denn je gefragt, in Institutionen, in den Medien und auf den Straßen dafür einzustehen, dass es nicht zu Weimar 2.0 kommt. Ich würde mich freuen, wenn auch die großen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten diese Veranstaltung sehen und wahrnehmen würden – sicher bin ich mir da allerdings keineswegs.
Das Klimathema
Bleibt, last but not least, das Klimathema. Die 11,6 Prozent, die grün gewählt haben, haben das ganz überwiegend (70%) des Programms wegen getan (sagen sie jedenfalls in den Wahlbefragungen), und nur zu einem kleinen Teil wegen des Spitzenkandidaten. Gleichzeitig ist das Feld (neben der weitaus schlechter bewerteten Außenpolitik), in dem uns Grünen Kompetenz zugeschrieben wird, immer noch – und aus meiner Sicht: zu Recht – die Klima- und Umweltpolitik. Die Kompetenzwerte sind hier allerdings rückläufig. Zusammen heißt das: ein großer Teil derjenigen, die uns gewählt haben, hat das wegen der Klimafrage getan.
Die neue Regierung wird nicht drum herum kommen, sich um das Thema Klima zu kümmern, egal, wie hässlich Merz Windräder findet. Es gibt eine gewisse Eigendynamik der Energiewende, die ausgebremst werden kann, aber so viel Fahrt aufgenommen hat, dass sie vermutlich weiter Richtung Klimaneutralität laufen wird. Und bisher zumindest sind Abkommen wie Paris bindend und werden auch so wahrgenommen. Merz wird nicht auf die Balkone klettern, um Solarpanels abzureißen (und vermutlich wird die Wärmepumpe in einigen Monaten als christdemokratische Erfindung verkauft werden).
Trotzdem bleibt das ein Bereich, in dem eine grüne Opposition immer wieder Feuer machen kann, in dem eine klare Profilierung möglich ist, die – gerade wenn Klima und Wirtschaft, Klima und der soziale Ausgleich zusammengedacht werden – durchaus anschlussfähig ist. Und ohne zur Einthemenpartei zu werden, ist das auch ein Bereich, in dem eine klare Abgrenzung zu den Prioritäten der Linkspartei möglich ist. Insofern hoffe ich und setze darauf, dass die neue Bundestagsfraktion hier ein starkes Profil entwickeln wird.
2024 was Klima insgesamt kein wahlentscheidendes Thema. Es gab keine gesellschaftliche Dynamik. Der Klimastreik am Valentinstag fand zwar bundesweit statt, löste aber kaum Resonanz aus. Gerade dann, wenn die Merz-Regierung in diesem Feld unpopuläre und als falsch angesehene Entscheidungen trifft, sehe ich aber durchaus die Möglichkeit, dass die ökologisch motivierte Zivilgesellschaft sich aufwecken lässt und damit Klima wieder auf die öffentliche Agenda setzt. Nötig wär’s.
Ich stimme weitgehend mit Deiner Analyse überein. Was die zukünftige Regierung angeht, sehe ich ein weiteres Szenario – das mich um die Regierungsfähigkeit in Deutschland noch mehr zittern lässt: Eine CDU-Minderheitsregierung, weil SPD und CDU doch nicht zusammenkommen. Das würde Deutschland noch mehr paralysieren, als dies vermutlich sowieso in vielen Bereichen der Fall sein wird.