Politikpuzzle

Vor ein paar Tagen bin ich auf eine Stu­die der Kon­rad-Ade­naur-Stif­tung mit dem schö­nen Titel „Poli­tik, Beruf, All­tag, Frei­zeit, Kaf­fee“ (Roo­se 2025) gesto­ßen. Neben eini­gen ande­ren Fra­gen geht es hier, ver­ein­facht gesagt dar­um, zu gucken, ob es einen Zusam­men­hang zwi­schen Lebens­stil­ty­pen und Wahl­ab­sich­ten gibt. Für die Stu­die wur­den sowohl reprä­sen­ta­ti­ve Befra­gun­gen mit rd. 4000 Inter­views als auch eini­ge Tie­fen­in­ter­views durch­ge­führt. Ob das Ergeb­nis wirk­lich aus­sa­ge­kräf­tig ist, fin­de ich schwer zu beur­tei­len – inter­es­sant ist es allemal.

Lebens­stil­ty­pen meint hier so etwas ähn­li­ches wie Milieus – Seg­men­te der Bevöl­ke­rung, die sich durch gewis­se Ähn­lich­kei­ten in ihrem Lebens­stil aus­zeich­nen. Recht bekannt ist hier die über die Jah­re aus­ge­feil­te Typo­lo­gie des Sinus-Insti­tuts („Kar­tof­fel­dia­gramm“), die ger­ne in der Markt­for­schung ver­wen­det wird. Roo­se greift nicht auf die Dienst­leis­tun­gen von Sinus zurück, son­dern setzt auf eine von Otte ent­wi­ckel­te Typo­lo­gie. Im Detail wird bei Otte (2019) beschrie­ben, wie die­se Typo­lo­gie zustan­de kommt und wie aus rund 40 Fra­gen zum Lebens­stil ein halb­wegs aus­sa­ge­kräf­ti­ges Set von nur noch 12 Fra­gen aus­ge­wählt wur­de (S. 10). Die­se zwölf Fra­gen las­sen sich auf zwei Ach­sen anord­nen – einer Ach­se, die das „Aus­stat­tungs­ni­veau“ beschreibt und sich je nach Aus­prä­gung dann den Wer­ten ein­fach / mit­tel / geho­ben zuord­nen lässt, und eine Ach­se, die Otte als „Zeit­lich­keit“ (S. 17) benennt, und der er die Wer­te tra­di­tio­nell (bio­gra­fi­sche Schlie­ßung) / teil­mo­dern (bio­gra­fi­sche Kon­so­li­die­rung) / modern (bio­gra­fi­sche Offen­heit) zuord­net. „Zeit­lich­keit“ fin­de ich hier etwas irre­füh­rend, die zugrun­de lie­gen­den Fra­gen han­deln davon, wie wich­tig Tra­di­ti­on ist, ob Selbst­ver­wirk­li­chung wich­tig ist, und ob nach neu­en Her­aus­for­de­run­gen gesucht wird. Bei Roo­se wird aus die­ser Ach­se eine Ach­se der „Ver­än­der­lich­keit“, bei Sinus (2021) wären die bei­den Ach­sen eine Schicht‑, Ein­kom­mens- oder Kapi­tal­ach­se („Sozia­le Lage“) und eine Ach­se der Grund­ori­en­tie­rung (Tradition/Modernisierung/Neuorientierung).

Wie dem auch sei: die Gesell­schaft anhand der­ar­ti­ger Kon­struk­te in sich all­tags­kul­tu­rell ähn­li­che Seg­men­te ein­zu­tei­len, ist kei­ne neue Erfin­dung, son­dern geht letzt­lich min­des­tens auf Bour­dieus Fei­ne Unter­schie­de (1982) zurück. Und es hat ja auch eine gewis­se Plau­si­bi­li­tät, dass es nicht aus­reicht, für eine Seg­men­tie­rung auf Schich­ten oder Klas­sen zurück­zu­grei­fen, son­dern dass eine zwei­te, kul­tu­rel­le Ach­se exis­tiert, die inner­halb die­ser Schich­ten zwi­schen unter­schied­li­chen all­tags­kul­tu­rel­len Ori­en­tie­run­gen unter­schei­den kann. Zugleich ist eine der­ar­ti­ge Unter­tei­lung einer­seits recht grob (die bei Roo­se 18 % der Befrag­ten, die der Mit­te-Mit­te-Kate­go­rie der vor­sich­tig Boden­stän­di­gen zuge­teilt wer­den, dürf­ten zwar man­ches gemein­sam haben, sich dann aber doch in Inter­es­sen, Spei­se­vor­lie­ben, Mode etc. wie­der­um in sich deut­lich unter­schei­den) und ande­rer­seits fast schon zu aus­dif­fe­ren­ziert, um damit sinn­voll etwas anfan­gen zu kön­nen (bei rund 4000 Befrag­ten macht einer der „klei­ne­ren“ Lebens­stil­ty­pen 200 bis 300 Per­so­nen aus; in die­sen dann wie­der­um nach Wahl­ab­sich­ten zu dif­fe­ren­zie­ren, wie es Roo­se tut, stößt schnell an Gren­zen). Wo genau die Gren­zen zwi­schen den Typen zu zie­hen sind, lie­ße sich durch­aus dis­ku­tie­ren, und ob es genau drei Unter­tei­lun­gen sein sol­len, auch. Ein Effekt ist jeden­falls, das die enste­hen­den Typen nicht gleich groß sind – das wie­der­um ist nach­voll­zieh­bar und plau­si­bel: expe­ri­men­tel­le Lebens­stil­ni­schen sind halt eher Nischen, und es gibt so etwas wie eine brei­te all­tags­kul­tu­rel­le Mit­te der Bevölkerung. 

Gleich­zei­tig: eigent­lich haben die­se Typen wei­che Rän­der und gehen inein­an­der über. Bei den Sinus-Dia­gram­men wird dies dadurch sym­bo­li­siert, dass die ein­zel­nen Fel­der sich über­lap­pen. Otte und Roo­se arbei­ten dage­gen mit strik­ten Abgren­zun­gen. Und wenn ich die­se für einen Moment ernst neh­me und Run­dungs­feh­ler igno­rie­re – eigent­lich dürf­ten es nur 98 Qua­dra­te sein, kei­ne 100 -, dann sieht Deutsch­land im Herbst 2023, zum Zeit­punkt, als die der Stu­die von Roo­se zugrun­de­lie­gen­den Umfra­gen durch­ge­führt wur­den, so aus:

Links ist hier tra­di­tio­nell, rechts postmodern/fortschrittlich, unten und oben ent­spre­chen dem Aus­stat­tungs­ni­veau und damit in gewis­ser Wei­se auch einer Ein­kom­mens- oder Schicht­ska­la. Die Namen für die ein­zel­nen Lebens­stil­ty­pen stam­men hier von Roo­se (2025), in der oben ver­link­ten Stu­die wer­den die damit ver­bun­de­nen Ästhe­ti­ken näher beschrieben. 

Inter­es­sant ist nun die Fra­ge, wie weit es eine Ver­bin­dung zwi­schen Milieu und Par­tei­nei­gung gibt. Dazu fragt Roo­se sowohl nach grund­sätz­li­chen Sym­pa­thien zu ein­zel­nen Par­tei­en als auch nach Wahl­ab­sich­ten. Ich habe ein­fach mal sei­ne Aus­sa­gen zu den Wahl­ab­sich­ten (als prä­fe­rier­te Par­tei) genom­men – auch die­se Stand Herbst 2023 – die er in der Stu­die für jede Par­tei nach den Lebens­stil­ty­pen auf­glie­dert. Bei­spiels­wei­se sagen 18 Pro­zent der „Hand­fest Genüg­sa­men“, die AfD wäh­len zu wol­len (S. 40), 35 Pro­zent der „Ehr­gei­zig Akti­ven“ geben an, Grün zu wäh­len (S. 36). Die bei Roo­se ver­wen­de­te Dar­stel­lung wirkt nun aller­dings so, als wäre jeder Lebens­stil­typ gleich stark. Wenn die Häu­fig­kei­ten berück­sich­tigt wer­den, ergibt sich fol­gen­des – zunächst ein­mal ver­wir­ren­des – Bild (eige­ne Darstellung):

Dar­ge­stellt sind hier die gerun­de­ten Antei­le der jewei­li­gen Parteianhänger*innen nach Lebens­stil­ty­pen; hell­grau sind die­je­ni­gen, die kei­ne der abge­frag­ten Par­tei­en als ers­te Prä­fe­renz nann­ten (oder mög­li­cher­wei­se gar nicht zur Wahl gehen wol­len). Die­ses „Puz­zle“ soll­te nicht all­zu ernst genom­men wer­den. Es zeigt jedoch schön – das war der Sinn der Übung – dass ers­tens kein Lebens­til­ty­pus / Milieu mit der Anhän­ger­schaft zu einer Par­tei gleich­zu­set­zen ist. In kei­nem ein­zi­gen Milieu kommt eine Par­tei auf eine abso­lu­te Mehr­heit. Eine bestimm­te all­tags­kul­tu­rel­le Ästhe­tik mit der Anhän­ger­schaft zu einer Par­tei gleich­zu­set­zen, lei­tet in die Irre. Auch wer Las­ten­rad fährt und Lat­te Mac­chia­to trinkt (und damit eher in einem der Milieus auf der rech­ten Sei­te des Dia­gramms zu fin­den ist), wählt nicht unbe­dingt Grü­ne oder Lin­ke – und umkehrt: wer Grün wählt, kann auch einem ganz ande­ren Milieu angehören. 

Das heißt im Umkehr­schluss, dass sich die Wäh­ler­schaft bei allen Par­tei­en auf ganz unter­schied­li­che Lebens­stil­ty­pen ver­teilt. In wel­chem Aus­maß wel­ches Milieu zum Wahl­er­folg einer Par­tei bei­trägt, ist dann aller­dings zwei­tens je nach Par­tei unter­schied­lich. Inso­fern las­sen sich schon gewis­se Ten­den­zen oder Wahr­schein­lich­kei­ten erken­nen, aus denen dann wie­der­um Schlüs­se für Wahl­kämp­fe und ähn­li­ches gezo­gen wer­den kann. 

Die Stu­die von Roo­se geht jetzt nicht nur auf die Wahl­prä­fe­ren­zen ein, son­dern auch auf Wert­hal­tun­gen, Kon­sum­wün­sche, Fra­gen wie eine Nähe zum Kli­ma­schutz oder zur Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit in bestimm­ten Milieus usw. und ist ins­ge­samt ganz lesenswert.

Die kon­kre­ten Zah­len mögen aktu­ell noch ein­mal anders aus­se­hen als im Herbst 2023. Trotz­dem bleibt die Bot­schaft: Milieu­par­tei­en, die ihre Wäh­ler­schaft nur aus einem eng abge­grenz­ten sozio­de­mo­gra­fi­schen Spek­trum rekru­tie­ren, gibt es in Deutsch­land nicht (mehr). Und bei allen Ten­den­zen, in den einen oder ande­ren Milieus stär­ker oder schwä­cher zu sein, gibt es auch kei­ne Par­tei, die ein ein­zel­nes Milieu „beherrscht“ bzw. in die­sem Seg­ment der Gesell­schaft eine abso­lu­te Mehr­heit hät­te. Das macht Poli­tik kom­pli­zier­ter, ist aber letzt­lich auch eine gute Nach­richt, weil das ja auch dar­auf hin­weist, dass wir ganz unter­schied­li­che all­tags­kul­tu­rel­le Prä­fe­ren­zen haben kön­nen, ohne dass sich dar­aus gleich poli­ti­sche Abgren­zung erge­ben muss. 

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