Als kleiner Nachtrag zu meiner längeren Analyse direkt nach der Wahl: Vielleicht geht es nur mir so, aber ich empfinde, nachdem der erste Schock der acht Prozent überwunden ist, die politische Situation nach der Bundestagswahl als einen doppelten Moment der Befreiung. Diese Öffnung mag schnell wieder vorbeigeht, aber jetzt ist sie da.
Befreiung, weil mit dem jetzt doch ziemlich rasanten Rückzug der 1998er-Generation – Jürgen Trittin, Claudia Roth, Renate Künast – erst spürbar wird, wie eng die Bande waren, die sich meine Partei in letzter Zeit auferlegt hat. Natürlich verschwinden lange etablierte interne Machtstrukturen nicht, nur weil ein paar Köpfe ausgetauscht werden, weil sich ein paar Menschen mehr oder weniger zurückziehen. Bei all ihren überhaupt nicht in Frage zu stellenden Verdiensten war es doch diese Generation, die die Periode 1998 bis 2005 zum Maßstab der Dinge machte. Ja, wir haben einige Fehler in dieser Zeit aufgearbeitet – aber irgendwie schwamm doch immer das rot-grüne Projekt samt aller Regierungszeitfestlegungen im konzeptuellen Hintergrund, war der Maßstab der Dinge. Jetzt wird es für mich spürbar, dass wir tatsächliche die Chance haben, uns zu erneuern. Allenthalben wird nach Gemeinsamkeiten und nach dem zentralen Element grüner Identität gesucht. Wir erfinden uns neu. Das passiert regelmäßig, und das ist auch gut so. Und diesmal haben wir die Chance, eine Partei zu erfinden, die mehr Luft zulässt, die weniger eng ist, und die – nicht grundlegend anders, aber doch renoviert – neu keimen wird.
Befreiung aber auch, weil das nur im Kontext der Unsicherheit möglich ist, die seit dem 22.9. bundespolitisch herrscht. Weder Merkel noch Rot-Grün hat gewonnen. Plötzlich wird über Minderheitenregierungen und Allparteienkoalitionen diskutiert. Die Kategorie des staatstragenden „aber ihr müsst“ scheint nicht mehr zu gelten – weder SPD noch Grüne wollen sich auf eine Koalition mit Merkel einlassen. Das so fest gefugt erscheinende deutsche Regierungssystem zeigt erste kleine Risse. Ob die zugekittet werden, und wir in einigen Wochen von der 80%-Koalition erschlagen werden, oder ob diese Risse ausgeweitet werden, und auf Bundesebene bisher nicht da gewesene Modelle ausprobiert werden, werden wir dann sehen. Bis dahin weht der Wind der Geschichte ungehindert über die deutsche Prärie.