Das neue Landtagswahlrecht materialisiert sich

Wer als Baden-Württemberger*in bun­des­weit par­tei­po­li­tisch unter­wegs ist, kennt die­sen Moment, in dem irgend­wer nach der Lan­des­lis­te fragt, und dann erst ein­mal erklärt wer­den muss, dass Wah­len im Länd­le anders funk­tio­nie­ren: nur Direktkandidat*innen in 70 Wahl­krei­sen, eine Zweit­aus­zäh­lung, um den Pro­porz her­zu­stel­len und die rest­li­chen nomi­nell 50 Plät­ze zu fül­len, gewis­se Ver­zer­run­gen durch Aus­gleich im Regie­rungs­prä­si­di­um. Die­ses Wahl­recht hat eini­ge Jahr­zehn­te lang gute Diens­te geleis­tet. Es hat­te Vor­tei­le: die Abge­ord­ne­ten hat­ten alle eine star­ke loka­le Bin­dung. Das Wahl­recht hat­te aber auch Nach­tei­le: ohne Lis­te kei­ne quo­tier­te Lis­te, und kei­ne Chan­ce für z.B. grü­ne Kandidat*innen in „schwa­chen“ Wahl­krei­se, über­haupt jemals in den Land­tag zu kommen. 

Ob Freu­de über das Ende über­wiegt oder dem Wahl­recht doch hin­ter­her­ge­weint wird: es ist seit eini­ger Zeit, mit der Novel­le der ent­spre­chen­den Geset­ze, Geschich­te. Jetzt hat Baden-Würt­tem­berg das für Deutsch­land typi­sche Zwei­stim­men­wahl­recht, mit einer Zweit­stim­me, die die Sitz­ver­tei­lung bestimmt, und einer Erst­stim­me, die über Direkt­man­da­te ent­schei­det. (Apro­pos: das eigent­lich sehr gute wahlrecht.de hat noch das alte Wahl­recht und die Ände­run­gen noch nicht nachvollzogen).

Die Kap­pun­gen auf Bun­des­ebe­ne wur­den nicht mit­ge­macht, so dass man­che jetzt über das Risi­ko eines Rie­sen­land­tags unken (Modell­rech­nun­gen wider­le­gen das, nur dann, wenn Erst- und Zweit­stim­men­er­geb­nis­se mas­siv aus­ein­an­der gehen wür­den, wäre ein sehr gro­ßer Land­tag mög­lich). Dafür gibt es ande­re Beson­der­hei­ten: wei­ter­hin Ersatzkandidat*innen in den Wahl­krei­sen, die zum Zug kom­men, wenn eine direkt gewähl­te Per­son aus dem Land­tag aus­schei­det. Und theo­re­tisch – mal schau­en, ob eine Par­tei das prak­tisch umsetzt – auch die Mög­lich­keit, Ersatzkandidat*innen auf einer Reser­ve­lis­te zu verankern.

Wäh­rend die Novel­le des Wahl­ge­set­zes schon eini­ge Zeit her ist, wird das Wahl­recht jetzt erst so rich­tig kon­kret: die Auf­stel­lun­gen in den Wahl­krei­sen sind – hier mit grü­ner Bril­le – durch­ge­führt, und seit dem Wochen­en­de steht auch die ers­te grü­ne Lan­des­lis­te mit 70 Plät­zen, gewählt auf der Lan­des­wahl­ver­samm­lung in Hei­den­heim. Neben­bei wur­de dort auch Cem Özd­emir ins Amt des Kan­di­da­ten für das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten geho­ben; ich hof­fe sehr, dass er an den Erfolg Win­fried Kret­sch­manns anschlie­ßen kann. Sei­ne Rede war über­zeu­gend – und die fast ein­stim­mi­ge Unter­stüt­zung der Par­tei hat er auch. Auf der Lan­des­lis­te ist Cem – Frau­en­sta­tut – „nur“ auf Platz 2. Auf­fäl­lig ist zudem eine gewis­se Bal­lung der Regi­on Stutt­gart bei den ers­ten Plät­zen der Lis­te. Hier kommt die gro­ße Fra­ge ins Spiel, die auf dem Par­tei­tag­wo­chen­en­de vie­le gestellt haben, aber die natur­ge­mäß nie­mand beant­wor­ten konn­te: Wie weit wird die Lis­te ziehen?

Nach dem alten Wahl­recht wur­den 58 grü­ne Abge­ord­ne­te gewählt, alle mit Direkt­man­dat. Lan­des­weit waren das 32,6 Pro­zent. Inzwi­schen sind es auf­grund eines Über­tritts noch 57 Abge­ord­ne­te. In den Umfra­gen lie­gen wir Grü­ne aktu­ell aller­dings mit nur 20 Pro­zent deut­lich hin­ter der CDU. Gleich­zei­tig ist Cem Özd­emir beliebt, ihm wird zuge­traut, das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten aus­zu­fül­len. Und in den Mona­ten bis zur Wahl kann noch eini­ges pas­sie­ren, auch weil die baden-würt­tem­ber­gi­sche CDU ganz nah an Merz und der Bun­des­re­gie­rung steht. Dann ist unklar, ob FDP und – was ein Novum für Baden-Würt­tem­berg wäre – LINKE es in den Land­tag schaf­fen. Je nach­dem, was hier ange­nom­men wird, schwankt auch die Zahl der Sit­ze, die auf uns Grü­ne ins­ge­samt ent­fal­len, massiv. 

Der zwei­te Fak­tor, den nie­mand wirk­lich gut ein­schät­zen kann, ist die Fra­ge der Direkt­man­da­te. Im alten Wahl­recht waren Direkt­man­da­te und Par­tei­en­stär­ke orga­nisch anein­an­der gekop­pelt. Wer Kret­sch­mann woll­te, muss­te grün wäh­len. Mit der Mög­lich­keit des Stim­men­split­tings könn­te es auch ganz anders aus­se­hen. In vie­len Wahl­krei­sen tre­ten grü­ne Direktmandatsinhaber*innen wie­der an – holen die­se, sofern die lan­des­wei­ten Wer­te noch etwas bes­ser wer­den, erneut das Direkt­man­dat? Oder greift der von Bür­ger­meis­ter, Kom­mu­nal- und Bun­des­tags­wah­len bekann­te Reflex, direkt dann doch lie­ber den CDU-Mann oder die CDU-Frau zu wäh­len – und mit der Zweit­stim­me dann Grün? Oder anders­her­um? Alle Umfra­gen sind mit Unsi­cher­heit behaf­tet, und die feh­len­de Erfah­rung mit Split­ting bei einer Land­tags­wahl mul­ti­pli­ziert die­se Unsi­cher­hei­ten noch ein­mal. Das geht bis hin zu der Fra­ge, ob ein „schlech­ter“ Lis­ten­platz lokal viel­leicht sogar ein Argu­ment sein kann, die­se Per­son direkt zu wäh­len, um so sicher­zu­stel­len, dass der Wahl­kreis grün ver­tre­ten sein wird.

Am Schluss kann es also sein, dass die Lis­te über­haupt nicht zum Zuge kommt, etwas durch­ein­an­der gewür­felt wird (etwa dadurch, dass Flo­ri­an Koll­mann in Hei­del­berg und Nady­ne Saint-Cast in Frei­burg II nicht auf der Lis­te abge­si­chert sind, son­dern allei­ne auf das Direkt­man­dat set­zen – ähn­lich in Mann­heim und Aalen) oder im Extrem­fall sogar nur ein­zieht, wer auf der Lis­te vor­ne steht. 

In der Kom­bi­na­ti­on aus Lis­ten­platz und plau­si­beln Annah­men über grü­ne Wahl­kreis­er­geb­nis­se lässt sich so maxi­mal eine ers­te Abschät­zung tref­fen, wel­che Wahl­krei­se und Per­so­nen bei einem halb­wegs guten Ergeb­nis im Land­tag ver­tre­ten sein wer­den, wer so gut wie kei­ne Chan­cen hat (hin­te­rer Lis­ten­platz und grü­ne Dia­spo­ra), und wo es auf den Wahl­aus­gang im Detail ankom­men wird. Es bleibt spannend.

Unsortierte Gedanken nach der Wahl 2025

Der Wahl­sonn­tag ist jetzt fast schon eine Woche her. Und nach Wahl­ana­ly­sen in den ver­schie­dens­ten Kon­tex­ten bin ich immer noch nicht so ganz sicher, wie ich die­ses Wahl­er­geb­nis bewer­ten und ein­ord­nen soll. 

Ich fan­ge mal mit mei­ner Pro­gno­se an. Die sah so aus:

Wenn ich das zusam­men­neh­me, kom­me ich zu einem aus mei­ner Sicht nach heu­ti­gem Stand mög­li­chen Wahl­aus­gang, bei dem BSW drau­ßen bleibt, die Lin­ke deut­lich ein­zieht (sagen wir: 8,5%), die FDP knapp rein­kommt (5,1%), wir Grü­ne eher am unte­ren Ende der Umfra­gen lan­den (12,5%), die SPD viel­leicht auf 16 Pro­zent kommt, die AfD eher bei 23 Pro­zent lan­det und CDU/CSU zusam­men nur 27,5 Pro­zent erreichen.

Gar nicht mal so weit weg vom tat­säch­li­chen Ergeb­nis. Wir Grü­ne haben die 12,5 auch noch­mal geris­sen, obwohl es zu Beginn des Wahl­abends so aus­sah, als ob wir irgend­wo zwi­schen 12 und 13 Pro­zent lan­den wür­den. Am Schluss reich­te es nur für 11,6 Pro­zent, das ist in etwa das Niveau der Euro­pa­wahl 2024. Die AfD ist bei „nur“ 20,8 Pro­zent gelan­det, die Uni­on war mit 28,6 Pro­zent mini­mal bes­ser als ich das ver­mu­tet hat­te, die SPD erreich­te 16,4 Pro­zent und BSW (knapp) und FDP (deut­lich) ver­pass­ten den Ein­zug. Und ja: die Lin­ke kam auf 8,8 Pro­zent. Auch das also nah an mei­nem Gefühl nach den letz­ten Umfra­gen vor der Wahl und der Stimmungslage.

Im Par­la­ment sit­zen damit fünf Frak­tio­nen: CDU/CSU mit 208 Sit­zen, die AfD mit 152 Sit­zen (!), die SPD mit 120 Sit­zen, Grü­ne mit 85 Sit­zen und die Lin­ke mit 64 Man­da­ten. Dazu kommt noch ein Sitz der SSW. In der Sum­me 630, zumin­dest in die­ser Hin­sicht hat das neue Wahl­recht gehal­ten, was es ver­spro­chen hat (und wird prompt von der Uni­on ange­grif­fen, weil eini­ge CDU- und CSU-Erst­stim­men­sie­ger dies­mal nicht einziehen). 

Neben der rech­ne­risch mög­li­chen Mehr­heit von CDU/CSU und AfD ist die ein­zi­ge poli­ti­sche rea­lis­ti­sche Koali­ti­on eine aus CDU und SPD.

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Scheinbar einbetoniert

Eine Viel­zahl von Umfra­ge­insti­tu­ten ver­öf­fent­li­chen gera­de wöchent­lich ihre Wahl­um­fra­gen. Deren Aus­sa­ge­kraft ist einer­seits begrenzt – bei den letz­ten Wah­len gab es teil­wei­se erheb­li­che Abwei­chun­gen – ande­rer­seits sagen sie in der Sum­me und im Ver­gleich inner­halb der jewei­li­gen Umfra­ge doch etwas aus. 

Wer sich selbst ein Bild davon machen möch­te, fin­det bei vie­len Medi­en ein­ge­bet­te­te Dia­gram­me. Die Roh­da­ten stam­men oft von wahlrecht.de, die eine weit zurück­grei­fen­des Archiv der Sonn­tags­fra­ge-Umfra­gen aller gro­ßen Insti­tu­te pfle­gen (und das nicht nur für die Bun­des­tags­wahl, son­dern auch für Land­tags­wah­len und Abfra­gen zur Bun­des­tags­wahl in ein­zel­nen Län­dern). Eine beson­ders gelun­ge­ne Visua­li­sie­rung ist aus mei­ner Sicht der Pol­ly­tix-Wahl­trend.

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Bundestag XXS

Wenn dann tat­säch­lich am 23. Febru­ar 2025 gewählt wird, wird dies die ers­te Bun­des­tags­wahl nach dem von der Ampel refor­mier­ten Bun­des­tags­wahl­recht sein. Eck­punk­te die­ses refor­mier­ten Wahl­rechts sind: die Sitz­zahl wird auf 630 fest­ge­legt. Es gibt eine 5%-Hürde (nur Par­tei­en, die bun­des­weit min­des­tens fünf Pro­zent der Zweit­stim­men errei­chen, wer­den berück­sich­tigt) und nach Inter­ven­ti­on des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts eine Grund­man­dats­klau­sel (die 5%-Hürde gilt nur dann, wenn eine Par­tei weni­ger als drei Direkt­man­da­te errun­gen hat). Es gibt 299 Direkt­wahl­krei­se. Die Ober­ver­tei­lung fin­det nach dem bun­des­wei­ten Zweit­stim­men­wahl­er­geb­nis nach Sain­te-Lague statt. Inner­halb einer Par­tei erfolgt eine Unter­ver­tei­lung wie­der­um nach Sain­te-Lague auf die Lan­des­lis­ten je nach Zahl der auf die­se ent­fal­len­den Zweitstimmen.

Neu ist nun das Ver­hält­nis von Direkt­man­da­ten und Zweit­stim­men­sit­zen. Galt bis­her, dass jedes über die Erst­stim­me errun­ge­ne Direkt­man­dat in den Bun­des­tag führt – was auf­grund des (par­ti­el­len) Aus­gleichs der so ent­ste­hen­den Über­hang­man­da­te zur deut­li­chen Ver­grö­ße­rung des Bun­des­tags in den letz­ten Legis­la­tur­pe­ri­oden geführt hat – gilt dies nun nur bis zu der laut Ober- und Unter­ver­tei­lung gege­be­nen Sitz­zahl der Par­tei im jewei­li­gen Bun­des­land. Dies erfolgt nach dem Anteil der Erst­stim­me im Wahl­kreis (die stärks­ten Wahl­krei­se einer Par­tei zie­hen also zuerst ein). Rest­li­che Sit­ze wer­den dann gemäß der Rei­hung auf der Lan­des­lis­te verteilt.

Zudem gibt es Son­der­re­geln: zie­hen Einzelbewerber*innen ein, ver­rin­gert sich die Zahl der nach die­sem Sys­tem zu ver­ge­ben­den Sit­ze ent­spre­chend. Und erringt eine Par­tei die abso­lu­te Mehr­heit der Zweit­stim­men, aber nicht die abso­lu­te Mehr­heit der Sit­ze, erhält die­se zusätz­li­che Sit­ze, bis die Mehr­heit auch der Sit­ze her­ge­stellt ist.

Hat eine Par­tei weni­ger Direktmandate/Listenplätze auf­ge­stellt als ihr nach dem Ergeb­nis zuste­hen, ver­klei­nert sich der Bun­des­tag. Mehr als 630 Sit­ze sind nur mög­lich, wenn der gera­de beschrie­be­ne Fall ein­tritt, dass eine Par­tei die abso­lu­te Mehr­heit der Stim­men erreicht. Damit soll­te die­ses Sys­tem also zu einer effek­ti­ven Kap­pung füh­ren. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat die aus­ge­setz­te Grund­man­dats­klau­sel wie­der ein­ge­setzt (als Zwi­schen­lö­sung bis zu einer Ände­rung der 5%-Hürde), abge­se­hen davon die Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit bestätigt. 

Was sind nun die kon­kre­ten Fol­gen des neu­en Wahl­rechts? Dazu las­sen sich ver­schie­de­ne Modell­rech­nun­gen durch­füh­ren. Zunächst ein­mal neh­me ich dazu das Ergeb­nis der Bun­des­tags­wahl 2021 (ohne Berück­sich­ti­gung der Ände­run­gen durch die Wie­der­ho­lungs­wahl in Ber­lin). „Bun­des­tag XXS“ weiterlesen

Die letzte Woche

Election 2021Ich fin­de Wah­len wich­tig, und ich ver­fol­ge nicht nur die baden-würt­tem­ber­gi­schen und die bun­des­wei­ten Wah­len, son­dern schaue gespannt auch auf die Wah­len in ande­ren Län­dern. Mal mit­fie­bernd und begeis­tert, mal eher ent­täuscht und ent­geis­tert ob der Ent­schei­dung der Wäh­len­den. Wahl­kampf ist dage­gen eher ein not­wen­di­ges Übel – klar, es ist wich­tig, die unter­schied­li­chen Per­so­nen und Posi­tio­nen bekannt zu machen, einen öffent­li­chen Dis­kurs dar­über zu ent­zün­den, zu mobi­li­sie­ren (oder, in Mer­kels Fall: auch mal zu demo­bi­li­sie­ren). Aber Begeis­te­rung lösen Wahl­kämp­fe bei mir nicht aus. 

Die­ser Wahl­kampf geht jetzt in sei­ne letz­te Woche. Am Sonn­tag hat­ten FDP und GRÜNE noch ein­mal Par­tei­ta­ge. Stär­ker als zu ande­ren Zei­ten sind die­se Par­tei­ta­ge Insze­nie­rung. Hier geht es nicht um inner­par­tei­li­che Mei­nungs­bil­dung und auch nicht um inter­ne Ver­net­zung – son­dern schlicht dar­um, noch ein­mal Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, um auf den letz­ten Metern Bot­schaf­ten in die Welt sen­den zu kön­nen. In die Welt drau­ßen, um die letz­ten noch unent­schlos­se­nen Wähler*innen zu errei­chen, und in die Welt drin­nen, um Geschlos­sen­heit her­zu­stel­len, den eige­nen Leu­ten zu dan­ken und die­se für den Schluss­sprint zu motivieren. 

Neben­bei: was ich an mei­ner Par­tei mag, ist die Tat­sa­che, dass wir auch im Gegen­wind und im Regen soli­da­risch blei­ben. Die Umfra­ge­wer­te sahen schon mal bes­ser aus, und die Angrif­fe auf die Per­son der Kanz­ler­kan­di­da­tin zu Beginn des Wahl­kampfs haben die Wahr­neh­mung von Anna­le­na Baer­bock in der Öffent­lich­keit nach­hal­tig beein­träch­tigt. Klar gab es eige­ne Feh­ler. Aber es fällt doch auf, mit was für unter­schied­li­chen Maß­stä­ben da teil­wei­se gemes­sen wird. Und wie immer wie­der die sel­ben Geschich­ten erzählt wur­den. Gegen die­se vor­her gefass­ten Urtei­le kom­men ihre extrem star­ken, kom­pe­ten­ten und empa­thi­schen Auf­trit­te in den Tri­el­len und auf den Markt­plät­zen nur schwer an. Das ist ein Wahl­kampf mit Gegen­wind und Regen­schau­ern. Und genau da fin­de ich es wich­tig, dass wir als Par­tei Hal­tung bewah­ren, dass wir wei­ter kämp­fen und alles dafür geben, zu über­zeu­gen. Nicht als Par­tei­sol­da­ten­tum, bei dem schön gere­det wird, aber eben auch nicht – da bli­cke ich auf die Uni­on – als Weg­rü­cken vom eige­nen Kan­di­da­ten. Und ich jeden­falls erle­be uns als eine Par­tei, in der Soli­da­ri­tät und Geschlos­sen­heit gelebt werden.

Ich mag Wahl­kämp­fe nicht, vor allem da nicht, wo sie – not­wen­di­ges Übel – in Rich­tung Show und Wer­bung abdrif­ten. In mei­ner nai­ven Ide­al­vor­stel­lung ent­schei­den Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler danach, wel­che poli­ti­schen Vor­ha­ben und wel­che Per­so­nen sie über­zeu­gen. Wahl­kampf erscheint mir all zu oft als ein Ver­such, das zu ver­ne­beln. Nicht umsonst erin­nern die Pla­kat­wän­de an die fal­schen Haus­fas­sa­den einer Wild­west­stadt, die nach Ende des Film­drehs zusam­men­ge­klappt und weg­ge­räumt wer­den. Natür­lich ver­mit­teln Pla­ka­te und Auf­trit­te ein Image. Natür­lich geht es dar­um, eine Geschich­te zu erzäh­len und zu hof­fen, dass ande­re mit­ma­chen und die­se Geschich­te eben­falls erzäh­len. Und die Instru­men­te, die ver­su­chen, Par­tei­pro­gram­me run­ter­zu­bre­chen, wie etwa der Wahl-o-mat, sind dann schnell unter­kom­plex. Ganz so ein­fach ist es mit dem Fokus auf die Inhal­te also auch nicht. Trotz­dem bin ich über­zeugt davon, dass ein kür­ze­rer und fokus­sier­te­rer Wahl­kampf die­ser Repu­blik gut tun würde.

Die Legis­la­tur­pe­ri­ode des Bun­des­tags dau­ert vier Jah­re, das sind 48 Mona­te. Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen und die Bil­dung einer Regie­rung neh­men inzwi­schen ger­ne ein hal­bes Jahr ein, blei­ben 42 Mona­te. Die Zeit, in der Poli­tik in Wahl­kampf kippt, ist je nach Par­tei unter­schied­lich. Das Par­tei­pro­gramm wur­de im Juni beschlos­sen – vier Mona­te vor der Wahl. Die Ent­schei­dung über die Kanz­ler­kan­di­da­tin fiel im April und der Pro­gramm­ent­wurf wur­de bereits im März vor­ge­stellt, damit sind wir schon sie­ben Mona­te vor der Wahl. Schon davor wur­de in den Par­tei­gre­mi­en dar­an gear­bei­tet, und mit den ers­ten Über­le­gun­gen für Lis­ten­kan­di­da­tu­ren sowie dann den ers­ten Lis­ten­wah­len in den Län­dern sind wir im Herbst und Win­ter 2020/2021. Net­to blei­ben viel­leicht 34, 35, 36 Mona­te, alle übri­gen Wah­len und Wahl­kämp­fe mal außen vor gelas­sen. So rich­tig viel Zeit ist das nicht.

Aber viel­leicht ist die­se Tren­nung ja auch eine künst­li­che. Viel­leicht wür­de ein kür­zer „ech­ter“ Wahl­kampf nur dazu füh­ren, dass die eigent­li­che par­la­men­ta­ri­sche Arbeit stär­ker als jetzt schon zu einem Wahl­kampf in Per­ma­nenz wird, immer dar­auf bedacht, viel zu versprechen.

Die­se Wahl ist eine ande­re als frü­he­re Wah­len. Es ist die ers­te Bun­des­tags­wahl, die auf­grund der Coro­na-Bedin­gun­gen und der Erfah­run­gen bei der Euro­pa­wahl und bei den Land­tags­wah­len eine hohe Zahl an Briefwähler*innen mit sich brin­gen wird. Und es ist, dar­über wur­de viel geschrie­ben, eine Wahl, in der die Kanz­le­rin nicht antritt. Und es ist die ers­te Wahl, in der die Kli­ma­kri­se rich­tig spür­bar ist. 

Dazu kom­men die kon­train­tui­ti­ven Ele­men­te des Wahl­rechts. Mög­li­cher­wei­se wird die­ser Bun­des­tag so groß wie nie zuvor, und mög­li­cher­wei­se führt das Zusam­men­spiel von Direkt­man­da­ten und Aus­gleich- und Über­hangs­man­da­ten gera­de bei einem schwä­che­ren grü­nen Ergeb­nis zu einer (in abso­lu­ten Zah­len) extrem gro­ßen grü­nen Frak­ti­on. Das dürf­te die Kandidat*innen auf den hin­te­ren Lis­ten­plät­zen freu­en – zur Arbeits­fä­hig­keit des Bun­des­tags trägt es nicht bei, und für eine star­ke grü­ne Regie­rungs­be­tei­li­gung ist eben­falls die rela­ti­ve Stär­ke wichtiger. 

Ob unter die­sen Bedin­gun­gen die alten Weis­hei­ten noch gel­ten – dass Wäh­len­de sich erst kurz vor dem Wahl­tag ent­schei­den; all das, was die Poli­tik­wis­sen­schaft über die Dyna­mik von Umfra­gen und Wahl­er­geb­nis­sen weiß – ist unklar. Ich jeden­falls bin extrem gespannt, was der nächs­te Sonn­tag für ein Ergeb­nis brin­gen wird, und was die Par­tei­en dann dar­aus machen wer­den. Allem Hadern mit „fal­schen“ Wahl­ent­schei­dun­gen und allen Unzu­läng­lich­kei­ten des Wahl­sys­tems zum Trotz bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem es eine ech­te Aus­wahl gibt, in dem Wah­len frei, gleich und geheim sind. Kämp­fen wir jetzt mit Über­zeu­gung und schau­en dem Sonn­tag mit Gelas­sen­heit entgegen.