Brandung (3)

Teil III mei­ner SF-Fort­set­zungs­ge­schich­te. Alle Tei­le sind unter dem Schlag­wort „Bran­dung“ zu finden.

Architecture II

Brandung (3)

Wie an fast jedem Tag leg­te Mar­tha die Stre­cke vom Water Tower zu ihrem klei­nen Häus­chen in der Apfel­sied­lung am Stadt­rand mit dem Fahr­rad zurück. Die heu­ti­ge Prä­sen­ta­ti­on ihrer obers­ten Che­fin ging ihr nicht aus dem Kopf, als sie rou­ti­niert auf die lin­ke Spur des Rad­ex­press­wegs wech­sel­te und die Stadt­rä­der der Tou­ris­ten­grup­pe über­hol­te. Dr. May­mo­th konn­te eine ech­te Inspi­ra­ti­on sein. Nach allem, was Mar­tha dar­über wuss­te, hat­te die For­sche­rin ihren Pos­ten bekom­men, weil sie die wich­tigs­te euro­päi­sche Exper­tin für effi­zi­en­te Was­ser­in­fra­struk­tu­ren war. Und wenn jemand ihre Mei­nung inter­es­siert hät­te, war­um Glo­bal Water in den Jah­ren nach der ame­ri­ka­ni­schen Kri­se so rasant gewach­sen war, dann hät­te sie auf Dr. May­mo­ths Visi­on als Inge­nieu­rin ver­wie­sen – und nicht auf das Mar­ke­ting, die Finanz­ab­tei­lung oder Fra­gen der Ver­trags­ge­stal­tung. Kurz gesagt: Dr. May­mo­th war ein Vor­bild für sie. Umso mehr war Mar­tha beun­ru­higt dar­über, was in den letz­ten Wochen in der For­schungs­ab­tei­lung kol­por­tiert wur­de, und was im heu­ti­gen Vor­trag dann kon­zern­öf­fent­lich gemacht wur­de: Glo­bal Water woll­te an das Was­ser selbst her­an. Nano, um kon­ti­nu­ier­lich die Qua­li­tät zu kon­trol­lie­ren – und jede ille­ga­le Ent­nah­me sofort auf­zu­klä­ren. Wis­sen­schaft­lich eine extrem span­nen­de Her­aus­for­de­rung, da konn­te sie Dr. May­mo­th nur zustim­men – aber ethisch höchst bedenklich. 

In ihrem Stu­di­um an der RWTH, das jetzt schon eini­ge Jah­re lang zurück­lag, waren die Pflicht­ver­an­stal­tun­gen zu „Tech­nik und Ethik“ von ihren zumeist männ­li­chen Kom­mi­li­to­nen immer eher belä­chelt wor­den. Jetzt wur­de Mar­tha stär­ker als je zuvor bewusst, dass ihre eige­ne Arbeit nicht l’art pour l’art war, dass es eben nicht nur um die inge­nieur­tech­nisch bes­te Lösung ging. Sie fühl­te sich verantwortlich. 

Wenn sie die Sze­ne im Bespre­chungs­raum noch ein­mal Revue pas­sie­ren ließ, war sie wohl fast die ein­zi­ge, die in Dr. May­mo­ths Plan nicht nur ein gran­dio­ses tech­ni­sches Pro­jekt sah. Natür­lich war da noch Katha­ri­na von den PR-Leu­ten. Die teil­te viel­leicht ihre mora­lisch Posi­ti­on, und war ja auch ganz nett – aber in der For­schungs­ab­tei­lung war die PR-Meu­te irrele­vant. Es blieb also doch an ihr hän­gen. Wie soll­te sie sich verhalten?

Die­se Fra­ge ließ Mar­tha den gan­zen Frei­tag­abend über nicht mehr los. Nicht, als sie das Fahr­rad in die Tief­ga­ra­ge schob. Das gemein­sa­me Kochen mit Mar­tin, ihr klei­nes Ritu­al, um in das Wochen­en­de ein­zu­stei­gen, nahm sie heu­te kaum wahr. Auch sei­nen Berich­te beim Abend­essen über die heu­ti­gen Unta­ten der Zwil­lin­ge – von die­sen laut­stark kom­men­tiert – folg­te sie nur mit einem hal­ben Ohr. Nach­dem sie flüch­ti­ge Gute­nacht­küs­se ver­teilt hat­te und Mar­tin die bei­den ins Bett gebracht hat­te, nahm er sie zur Seite.

„Irgend­was ist heu­te mit dir los. Ist dir bei der Arbeit was über die Leber gelaufen?“

Mar­tha zöger­te einen Moment. Sie hat­te es sich ja eigent­lich zum Prin­zip gemacht, ihre beruf­li­chen Pro­ble­me nicht in ihr Holz­häus­chen im Stil der Jahr­hun­dert­wen­de in der Apfel­sied­lung mit­zu­neh­men. So hat­te sie es bei der fir­men­ei­ge­nen Burn-out-Prä­ven­ti­on gelernt, und sie fand die Regel ein­sich­tig. Aber heu­te muss­te sie eine Aus­nah­me machen. Ihre Beden­ken konn­te sie nicht ein­fach bis Mon­tag wegsperren.

„Was wür­dest du tun, wenn du als ein­zi­ger Skru­pel hät­test, bei einem Pro­jekt mitzuarbeiten?“

Mar­tin arbei­te­te frei­be­ruf­lich als Land­schafts­pla­ner, seit die Zwil­lin­ge aus dem Gröbs­ten raus waren. 

„Kommt auf das Pro­jekt an. Als es drum ging, die alte Müll­de­po­nie zu rena­tu­rie­ren und dort eine Sied­lung hin­zu­stel­len, habe ich den Auf­trag abgelehnt.“

„Den hat dann aber der Schmid gekriegt, oder?“

„Ja, gemacht wor­den ist das trotz­dem. Aber mehr als ableh­nen konn­te ich ja nicht.“

„Sicher? Du hät­test ja mal mit dem Nach­barn drü­ber reden kön­nen. Dann wäre das gan­ze Pro­jekt viel­leicht gescheitert.“

Der Nach­bar saß für die Grü­nen im Bezirks­rat, sicher­lich schon seit zwan­zig Jah­ren. Mar­tha fand ihn manch­mal etwas wun­der­lich; wenn es um die Fra­ge ging, wann die Hof­be­leuch­tung aus­zu­schal­ten sei, auch regel­recht ärger­lich. Abge­se­hen davon war er ein ange­neh­mer Nachbar. 

„Na, das hät­te doch sofort jeder im Bezirk gewusst, dass der den Tipp von mir bekom­men hat. Dann hät­te ich mir jeden wei­te­ren städ­ti­schen Auf­trag abschmin­ken kön­nen. Und abbe­zahlt ist unse­re schmu­cke klei­ne Hüt­te hier ja noch lan­ge nicht!“

Mar­tha ärger­te sich. In letz­ter Zeit war es oft so, dass ihre Unter­hal­tun­gen mit Mar­tin in gegen­sei­ti­gen Vor­wür­fen ende­ten. Und in der Sache war sie jetzt auch nicht weiter. 

„Ach, lass uns nicht wei­ter dar­über reden. Du weißt schon …“

„… Arbeit im Water Tower, Pri­vat­le­ben in der Apfelsiedlung!“ 

Mar­tha muss­te lachen. Eines muss­te sie Mar­tin las­sen: Er kann­te sie wie kein zwei­ter. Sie gab ihm einen Kuss. Aber spä­ter, in der Nacht, kreis­ten ihre Gedan­ken dann doch wie­der um das Pro­jekt. Nach einer Wei­le gab sie es auf, zu ver­su­chen, wie­der ein­zu­schla­fen, und schlich sich in den Win­ter­gar­ten. Sie ließ das Licht aus, kuschel­te sich in ihren Lieb­lings­ses­sel und ver­such­te, im astro­phy­si­ka­li­schen Schau­spiel des Nacht­him­mels eine Ent­schei­dung zu finden.

(to be continued)

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