Weltuntergangsstimmung

Viel­leicht gehört zum pro­fes­sio­nel­len Poli­tik­ma­chen ein gewis­ser Zweck­op­ti­mis­mus. Zugleich ver­ste­he ich, dass die in den letz­ten Jah­ren neu auf­flam­men­den Krie­ge, die demo­kra­tie­feind­li­che Situa­ti­on in Russ­land, den USA und Chi­na, und nicht zuletzt die sich wei­ter zuspit­zen­de Kli­ma­kri­se (von Arten­ster­ben und Pan­de­mien gar nicht zu reden) den Ein­druck her­vor­ru­fen kön­nen, dass das Ende der Mensch­heit, zumin­dest das Ende einer Geschich­te von Fort­schritt, Befrei­ung und der pro­gres­si­ven Aus­wei­tung demo­kra­ti­scher Rech­te nun nahe sei. Hier­zu­lan­de trägt der rechts­las­ti­ge Zeit­geist genau­so wie der tief durch­ge­drück­te Rück­wärts­gang der Merz-CDU zu die­sem Ein­druck bei.

Trotz­dem hat es mich erschreckt, wie vie­le Men­schen – in mei­ner in die­ser Hin­sicht ver­mut­lich über­haupt nicht aus­sa­ge­kräf­ti­gen Mast­o­don-Bla­se – davon über­zeugt sind, dass wir kurz vor einem glo­ba­len Zusam­men­bruch ste­hen. Ent­we­der, weil die genann­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Ent­wick­lun­gen, kom­bi­niert mit Fol­gen der Kli­ma­kri­se wie Dür­re, unbe­wohn­bar wer­den­den Land­stri­chen usw. zu bür­ger­kriegs­ar­ti­gen Zustän­den füh­ren wer­den. Oder, auch die­se Hal­tung fand ich in mei­nem Feed, weil als ein­zi­ger Weg, die Kli­ma­kri­se (und den rech­ten Back­lash usw.) noch zu stop­pen gese­hen wird, auf einen Umsturz zu hof­fen. Der dann mög­li­cher­wei­se zu bür­ger­kriegs­ar­ti­gen Zustän­den führt.

Das nicht ganz neue Argu­ment, dass es erst die Revo­lu­ti­on geben müs­se, bevor die Welt geret­tet wer­den kön­ne (bzw.: dass es erst die Revo­lu­ti­on geben müs­se, um die Welt zu ret­ten), erschließt sich mir wei­ter­hin nicht. Auch nicht im Kli­ma-Män­tel­chen, bzw. erst recht nicht in die­sem. Etwas zynisch gesagt: bis ein sol­ches Vor­ha­ben erfolg­reich ist, ist es zu spät. Vom CO2-Aus­stoss bren­nen­der Bar­ri­ka­den nicht zu reden.

Die Hoff­nung, dass es anders geht, dass es mög­lich sein kann, im Rah­men des­sen, was das poli­ti­sche Sys­tem dafür bereit­hält, die Wei­chen für eine bes­se­re Zukunft zu stel­len, ist eine zar­te Pflan­ze. Reicht es, dar­auf zu set­zen, das über kurz oder (bit­te nicht all­zu) lang doch Ver­nunft sich durch­setzt? Reicht es, dem Markt zuzu­trau­en, dass er nicht so ideo­lo­gie­ge­tränkt sein kann, die kla­ren öko­no­mi­schen Vor­tei­le erneu­er­ba­rer Ener­gien und elek­tri­scher Antrie­be außen vor zu las­sen? Ist Ver­trau­en in Kli­maur­tei­le der Höchst­ge­rich­te gerecht­fer­tigt (und wenn ja, wie lan­ge noch)? 

Das sind in einer Lage, die sich sehr nach Abwehr­kampf gegen das Zurück anfühlt, schwie­ri­ge Fra­gen, zuge­ge­ben. Und aus zum Bei­spiel dem Wachs­tum der erneu­er­ba­ren Strom­erzeu­gung nicht nur hier, son­dern auch in Dik­ta­tu­ren mit einem nüch­ter­nen Eigen­in­ter­es­se Hoff­nung zu sau­gen, mag zu wenig sein. 

Mehr­hei­ten kön­nen sich ändern, der Zeit­geist schwingt, über die letz­ten Jahr­zehn­te gese­hen, wild im Wind. No future gab es 1980 schon ein­mal, gesell­schaft­li­che Auf­brü­che 1968 und 1986 genau­so wie in den 2000er Jah­ren und zuletzt 2018. Und an gesell­schaft­li­chen Mehr­hei­ten lässt sich arbei­ten, Bünd­nis­se las­sen sich schmie­den, das Mei­nungs­kli­ma lässt sich ver­schie­ben. Das und der müh­se­li­ge poli­ti­sche All­tag mit sei­nem Streit um Stell­platz­schlüs­sel, Netz­um­la­gen und Neben­sät­ze in Kli­ma­schutz­ge­set­zen bewirkt etwas. Lang­sa­mer, manch­mal ver­geb­lich. Aber eben doch.

Was wäre die Alter­na­ti­ve? Die, die von einer Kli­mare­vo­lu­ti­on träu­men, konn­ten mir bis­her nicht sagen, wie der Weg dazu aus­se­hen soll. Wo sind die Poli­zei­trupps, die sich auf die Sei­te der Letz­ten Gene­ra­ti­on schla­gen? Wo sind die wüten­den Bürger*innen, die vor Bör­sen und Kon­zern­zen­tra­len auf­tau­chen? Und ja, auch die öffent­li­chen Gali­ons­fi­gu­ren, auf die sich Auf­merk­sam­keit fokus­siert, sehe ich aktu­ell kaum.

Oder geht es uns zu gut? Aber in den Kri­sen­ge­bie­ten sieht es nicht anders aus – wenn da jemand Mas­sen hin­ter sich ver­sam­melt, dann sind es grosso modo rech­te Populist*innen.

Was also tun? Ich bin über­zeugt davon, dass der ein­zi­ge erfolgs­ver­spre­chen­de Weg der ist, wei­ter in Gemein­de­rä­ten und Par­la­men­ten zu arbei­ten, wei­ter auf Stra­ßen und im Netz zu ver­su­chen, guten Argu­men­ten Nach­druck zu ver­lei­hen, wei­ter das Rich­ti­ge im eige­nen All­tag zu tun – und zu ver­su­chen, die Hoff­nung nicht auf­zu­ge­ben, dass das Mög­lich­keits­fens­ter, das sich beim nächs­ten Schwin­gen des Zeit­geist­pen­dels ergibt, dann auch tat­säch­lich genutzt wird.

Lesarten von Science Fiction: Die dunkle Seite der Macht

Vor­be­mer­kung: ich habe die­sen Text größ­ten­teils bereits im April geschrie­ben – inzwi­schen hat sich das Ver­hält­nis zwi­schen Musk und Trump deut­lich ver­än­dert. Die Aus­sa­gen unten schei­nen mir aber wei­ter­hin Gül­tig­keit zu behalten …

Wie poli­tisch sind Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy? Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­ler haben die­se Fra­ge ganz unter­schied­lich beant­wor­tet. Es gibt Wer­ke, die mit einer poli­ti­schen Agen­da geschrie­ben wur­den. Manch­mal ist das sehr sicht­bar, etwa wenn Dys­to­pien als War­nung geschrie­ben wer­den (Mar­gret Atwoods Handmaid’s Tale, um ein sehr aktu­el­les Bei­spiel zu nen­nen). Oder wenn Uto­pien zei­gen, dass es auch anders gehen kann – eini­ge der Roma­ne von Ursu­la K. Le Guin oder Kim Stan­ley Robin­son etwa; wer möch­te kann hier auch Star Trek ein­rei­hen.1 Dane­ben gibt es Autorin­nen und Autoren, die eine poli­ti­sche Agen­da haben, die aber weni­ger klar zu benen­nen ist – ein huma­nis­ti­scher Grund­ton bei John Scal­zi, eine liber­tä­re Fär­bung bei Robert Hein­lein, kon­ser­va­ti­ve Ein­spreng­sel bei Isaac Asi­mov. Und schließ­lich gibt es Wer­ke, die eigent­lich Mani­fes­te sind – Atlas Shrug­ged von Ayn Rand auf der rech­ten Sei­te, das eine oder ande­re Solar­punk-Buch und vie­le der Wer­ke von Cory Doc­to­row im pro­gres­si­ve­ren Spek­trum fal­len mir hier ein.

Wechselwirkungen zwischen Science Fiction und Gesellschaft

Hin­ter die­ser Fra­ge steckt die Idee, dass es eine Wech­sel­wir­kung zwi­schen SF und unse­rer Gesell­schaft gibt. Dass die Aus­ein­an­der­set­zun­gen und gro­ßen Fra­gen des jewei­li­gen Zeit­geists sich in SF- (und Fantasy-)Werken wie­der­fin­den, ver­wun­dert nicht. Stär­ker als ande­ren Gen­res ist Sci­ence Fic­tion mit der Erwar­tung ver­bun­den, dass umge­kehrt auch das Gen­re Ein­fluss auf die Gesell­schaft nimmt.2

Am offen­sicht­lichs­ten ist das beim Blick auf Tech­no­lo­gien. Arthur C. Clar­ke hat den Satel­li­ten erfun­den, Wil­liam Gib­son den Cyber­space, und John Brun­ner Inter­net­vi­ren – so jeden­falls die popu­lä­re Sicht der Din­ge. Und natür­lich lesen Inge­nieu­rin­nen und Inge­nieu­re Sci­ence Fic­tion und las­sen sich davon beein­flus­sen. Im Detail ist es etwas kom­pli­zier­ter. Dass es hier eine Wech­sel­wir­kung gibt, erscheint jedoch min­des­tens plau­si­bel.3

Wie sieht es nun mit poli­ti­schen Ideen aus? Nimmt Sci­ence Fic­tion einen Ein­fluss auf die Poli­tik, auf das gesell­schaft­li­che Zusammenleben?

Stär­ker noch als beim Blick auf Tech­no­lo­gien rückt nun der Leser oder die Lese­rin ins Blick­feld. Denn wie ein Werk gele­sen wird, was wahr­ge­nom­men und was gefil­tert wird – das hat nicht nur mit der Inten­ti­on des Autors oder der Autorin zu tun, son­dern eben auch damit, wer es aus was für einer Vor­prä­gung her­aus wie liest.

So dürf­te der baye­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Mar­kus Söder der bekann­tes­te Star-Trek-Fan in der deut­schen Poli­tik sein. Sieht er Star Trek als Uto­pie einer post­ka­pi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft, oder sind es eher die Aben­teu­er im Welt­raum, tak­ti­sche Über­le­gun­gen und Pha­ser-Hand­ge­men­ge, die ihn begeis­tern? Auch wenn er sich mei­nes Wis­sen nicht dazu geäu­ßert hat, scheint er eher Cap­tain Kirk als Cap­tain Picard zum Vor­bild zu haben.4 Gleich­zei­tig lässt sich Söders Poli­tik eine gewis­se Tech­nik­be­geis­te­rung nicht abspre­chen – von der baye­ri­schen Raum­fahrt-Initia­ti­ve „Bava­ria One“ bis zur etwas groß­spu­ri­gen For­de­rung, der ers­te Fusi­ons­re­ak­tor welt­weit müs­se in Deutsch­land – lies: in Bay­ern – ent­ste­hen, fin­det sich da eini­ges. Viel­leicht ist das Star Trek zu verdanken.

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Das Spahn-Disaster

Jens Spahn ist Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der der CDU/CSU im Bun­des­tag. So unschön das auch aus demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Per­spek­ti­ve (frei­es Man­dat usw.) ist: eine der zen­tra­len Auf­ga­ben eines Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den besteht dar­in, Mehr­hei­ten zu orga­ni­sie­ren. Nach den Ereig­nis­sen vom Frei­tag bin ich mir nicht sicher, ob Spahn dazu in der Lage ist. 

Für den Frei­tag waren im Bun­des­tag die Wah­len von drei Verfassungsrichter*innen ange­setzt. Für einen die­ser Pos­ten hat­te die CDU/CSU das Vor­schlags­recht (und hat dazu den Vor­schlag der Richter*innen auf­ge­grif­fen), für zwei lag das Vor­schlags­recht bei der SPD. Die ent­spre­chen­den Vor­schlä­ge wur­den dem­nach bereits vor eini­gen Wochen in der Koali­ti­on geeint, dann gab es – so berich­tet es jeden­falls die grü­ne Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de Brit­ta Has­sel­mann – Gespräch mit Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Aus Grün­den wei­ger­te sich die Uni­on, mit der Lin­ken zu spre­chen – inso­fern sah es so aus, als wäre die span­nen­de Fra­ge für den Frei­tag, ob durch Abwe­sen­hei­ten etc. eine 2/3‑Mehrheit der Anwe­sen­den durch Uni­on, SPD und Grü­ne (und ggf. ein­zel­ne Stim­men aus der Lin­ken) erreicht wer­den wür­de oder nicht.

In den Tagen vor der Abstim­mung kur­sier­ten dann plötz­lich Anschul­di­gun­gen gegen die von der SPD vor­ge­schla­ge­ne Frau­ke Bro­si­us-Gers­dorf, bis hin zu Don­ners­tag­nacht noch kurz­fris­tig aus­ge­pack­ten angeb­li­chen – wohl nicht halt­ba­ren – Pla­gi­ats­vor­wür­fen. Am Frei­tag­mor­gen stell­te die Uni­on – das heißt hier: stell­te ihr Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der Jens Spahn – fest, dass die sei­tens der Uni­on zuge­sag­te Zustim­mung nicht gege­ben ist. Vor­schlag der Uni­on war dann wohl, nur ihren Kan­di­da­ten zu wäh­len (na pri­ma!), wor­auf­hin nach einer Sit­zungs­un­ter­bre­chung und hek­ti­schen Bera­tun­gen die Richter*innen-Wahlen alle­samt abge­setzt wur­den. Die Reden zu die­ser Abset­zung waren deut­lich, ins­be­son­de­re auch aus der SPD war sehr deut­li­cher Unmut über die­se Ver­trags­brü­chig­keit und die trumpes­ken Manö­ver im Vor­feld zu hören.

Die Wah­len müs­sen jetzt ent­we­der zu einem spä­te­ren Zeit­punkt im Bun­des­tag statt­fin­den (Grü­ne habe vor­ge­schla­gen, dazu eine Son­der­sit­zung durch­zu­füh­ren; eigent­lich ist der Bun­des­tag ab sofot in der Som­mer­pau­se), oder im Bun­des­rat. Aber wie soll es weitergehen?

Die CDU ver­sucht, die Schuld Rich­tung SPD zu len­ken – hät­ten die halt eine ande­re Kan­di­da­tin auf­ge­stellt oder sie zurück­ge­zo­gen, dann wäre alles glatt gelau­fen. Aber das ist Quatsch, gab es eben doch eine Eini­gung. Und ent­we­der hält so eine Eini­gung – dann kann eine Koali­ti­on zusam­men­ar­bei­ten – oder sie wird, weil ein Frak­ti­ons­chef nicht in der Lage ist, sei­ne Frak­ti­on zusam­men­zu­hal­ten, wie­der in Fra­ge gestellt. Dann kommt eine Koali­ti­on in einen Dauerstreitmodus. 

Jetzt gibt es Men­schen, die behaup­ten, dass Spahn genau das woll­te, dass er heim­lich auf ein Schei­tern von Schwarz-Rot hin­ar­bei­te, um eine Koali­ti­on mit der AfD zu ermög­li­chen. Das hal­te ich nicht für zutref­fend, auch wenn es ein­zel­ne Abge­ord­ne­te in der Uni­ons­frak­ti­on geben mag, die so drauf sind. Inter­es­sant zu sehen übri­gens die Schlag­zei­len am Frei­tag – von Welt und Bild bis ins links­li­be­ra­le Spek­trum über­wog die lau­te Kri­tik an Spahn. Nach­dem er sich bis­her aus dem Mas­ken­skan­dal halb­wegs her­aus­win­den konn­te, auch weil der demo­kra­ti­schen Oppo­si­ti­on die Mehr­heit für einen Unter­su­chungs­aus­schuss fehlt, und ande­res längst ver­ges­sen ist, scheint die­ses Miss­ma­nage­ment an der CDU/C­SU-Frak­ti­ons­spit­ze doch eini­gen auf­ge­fal­len zu sein.

Wie geht es jetzt wei­ter? Die SPD kann es sich eigent­lich nicht leis­ten, Bro­si­us-Gers­dorf fal­len zu las­sen – war­um auch, denn an den lan­cier­ten Vor­wür­fen ist nichts dran. Im staats­po­li­tisch bes­ten Fall gibt es ein Gespräch zwi­schen der Kan­di­da­tin und der Uni­ons-Frak­ti­on, das letz­te­re zum Anlass neh­men kann, sie dann doch zu wäh­len (blie­be noch die Fra­ge der 2/3‑Mehrheit und der feh­len­den Gesprä­che mit der Lin­ken, um die­se abzusichern).

Wahr­schein­lich scheint mir aller­dings eine der ande­ren bei­den Optio­nen zu sein. Ent­we­der knickt die SPD ein und stellt eine ande­re Kandidat*in auf, aus Ver­ant­wor­tung für das Gemein­wohl und den Schutz des Ver­fas­sungs­ge­richts. Das wür­de die CDU/CSU ermu­ti­gen wei­ter mit der SPD so umzu­ge­hen wie in den letz­ten Wochen: von die­ser Zustim­mung auch in eigent­lich untrag­ba­ren Fra­gen (Stich­wort: Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs) ver­lan­gen, und gleich­zei­tig selbst Ver­ein­ba­run­gen nicht ein­hal­ten. Auch hier sind aller­dings nicht nur CDU/CSU und SPD gefragt, son­dern, um die Mehr­heit zu errei­chen auch Grü­ne und Lin­ke. Die müss­ten hier auch mit­ma­chen – oder könn­ten sehr glaub­haft damit dro­hen, dass nicht zu tun.

Oder: es gibt kei­ne Eini­gung, das gan­ze zieht sich hin, die Nach­wah­len fin­den nicht statt, viel­leicht greift der Bun­des­rat ein, der unter bestimm­ten Umstän­den eine Ersatz­wahl vor­neh­men kann. Ins­ge­samt wäre das ein kla­res Sym­bol dafür, dass die­se Koali­ti­on schon nach weni­gen Mona­ten am Abgrund steht und nicht hand­lungs­fä­hig ist.

Wel­ches die­ser Ergeb­nis­se Jens Spahn prä­fe­riert, weiß ich nicht. Was ich weiß: er hat die schwarz-rote Koali­ti­on in eine ziem­li­che Zwick­müh­le hin­ein­ma­nö­vriert. Klug ist das nicht. Und ja: anstän­di­ge Politiker*innen wür­den in so einem Moment an Rück­tritt denken. 

Politikpuzzle

Vor ein paar Tagen bin ich auf eine Stu­die der Kon­rad-Ade­naur-Stif­tung mit dem schö­nen Titel „Poli­tik, Beruf, All­tag, Frei­zeit, Kaf­fee“ (Roo­se 2025) gesto­ßen. Neben eini­gen ande­ren Fra­gen geht es hier, ver­ein­facht gesagt dar­um, zu gucken, ob es einen Zusam­men­hang zwi­schen Lebens­stil­ty­pen und Wahl­ab­sich­ten gibt. Für die Stu­die wur­den sowohl reprä­sen­ta­ti­ve Befra­gun­gen mit rd. 4000 Inter­views als auch eini­ge Tie­fen­in­ter­views durch­ge­führt. Ob das Ergeb­nis wirk­lich aus­sa­ge­kräf­tig ist, fin­de ich schwer zu beur­tei­len – inter­es­sant ist es allemal.

Lebens­stil­ty­pen meint hier so etwas ähn­li­ches wie Milieus – Seg­men­te der Bevöl­ke­rung, die sich durch gewis­se Ähn­lich­kei­ten in ihrem Lebens­stil aus­zeich­nen. Recht bekannt ist hier die über die Jah­re aus­ge­feil­te Typo­lo­gie des Sinus-Insti­tuts („Kar­tof­fel­dia­gramm“), die ger­ne in der Markt­for­schung ver­wen­det wird. Roo­se greift nicht auf die Dienst­leis­tun­gen von Sinus zurück, son­dern setzt auf eine von Otte ent­wi­ckel­te Typo­lo­gie. Im Detail wird bei Otte (2019) beschrie­ben, wie die­se Typo­lo­gie zustan­de kommt und wie aus rund 40 Fra­gen zum Lebens­stil ein halb­wegs aus­sa­ge­kräf­ti­ges Set von nur noch 12 Fra­gen aus­ge­wählt wur­de (S. 10). Die­se zwölf Fra­gen las­sen sich auf zwei Ach­sen anord­nen – einer Ach­se, die das „Aus­stat­tungs­ni­veau“ beschreibt und sich je nach Aus­prä­gung dann den Wer­ten ein­fach / mit­tel / geho­ben zuord­nen lässt, und eine Ach­se, die Otte als „Zeit­lich­keit“ (S. 17) benennt, und der er die Wer­te tra­di­tio­nell (bio­gra­fi­sche Schlie­ßung) / teil­mo­dern (bio­gra­fi­sche Kon­so­li­die­rung) / modern (bio­gra­fi­sche Offen­heit) zuord­net. „Zeit­lich­keit“ fin­de ich hier etwas irre­füh­rend, die zugrun­de lie­gen­den Fra­gen han­deln davon, wie wich­tig Tra­di­ti­on ist, ob Selbst­ver­wirk­li­chung wich­tig ist, und ob nach neu­en Her­aus­for­de­run­gen gesucht wird. Bei Roo­se wird aus die­ser Ach­se eine Ach­se der „Ver­än­der­lich­keit“, bei Sinus (2021) wären die bei­den Ach­sen eine Schicht‑, Ein­kom­mens- oder Kapi­tal­ach­se („Sozia­le Lage“) und eine Ach­se der Grund­ori­en­tie­rung (Tradition/Modernisierung/Neuorientierung).

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Das neue Landtagswahlrecht materialisiert sich

Wer als Baden-Württemberger*in bun­des­weit par­tei­po­li­tisch unter­wegs ist, kennt die­sen Moment, in dem irgend­wer nach der Lan­des­lis­te fragt, und dann erst ein­mal erklärt wer­den muss, dass Wah­len im Länd­le anders funk­tio­nie­ren: nur Direktkandidat*innen in 70 Wahl­krei­sen, eine Zweit­aus­zäh­lung, um den Pro­porz her­zu­stel­len und die rest­li­chen nomi­nell 50 Plät­ze zu fül­len, gewis­se Ver­zer­run­gen durch Aus­gleich im Regie­rungs­prä­si­di­um. Die­ses Wahl­recht hat eini­ge Jahr­zehn­te lang gute Diens­te geleis­tet. Es hat­te Vor­tei­le: die Abge­ord­ne­ten hat­ten alle eine star­ke loka­le Bin­dung. Das Wahl­recht hat­te aber auch Nach­tei­le: ohne Lis­te kei­ne quo­tier­te Lis­te, und kei­ne Chan­ce für z.B. grü­ne Kandidat*innen in „schwa­chen“ Wahl­krei­se, über­haupt jemals in den Land­tag zu kommen. 

Ob Freu­de über das Ende über­wiegt oder dem Wahl­recht doch hin­ter­her­ge­weint wird: es ist seit eini­ger Zeit, mit der Novel­le der ent­spre­chen­den Geset­ze, Geschich­te. Jetzt hat Baden-Würt­tem­berg das für Deutsch­land typi­sche Zwei­stim­men­wahl­recht, mit einer Zweit­stim­me, die die Sitz­ver­tei­lung bestimmt, und einer Erst­stim­me, die über Direkt­man­da­te ent­schei­det. (Apro­pos: das eigent­lich sehr gute wahlrecht.de hat noch das alte Wahl­recht und die Ände­run­gen noch nicht nachvollzogen).

Die Kap­pun­gen auf Bun­des­ebe­ne wur­den nicht mit­ge­macht, so dass man­che jetzt über das Risi­ko eines Rie­sen­land­tags unken (Modell­rech­nun­gen wider­le­gen das, nur dann, wenn Erst- und Zweit­stim­men­er­geb­nis­se mas­siv aus­ein­an­der gehen wür­den, wäre ein sehr gro­ßer Land­tag mög­lich). Dafür gibt es ande­re Beson­der­hei­ten: wei­ter­hin Ersatzkandidat*innen in den Wahl­krei­sen, die zum Zug kom­men, wenn eine direkt gewähl­te Per­son aus dem Land­tag aus­schei­det. Und theo­re­tisch – mal schau­en, ob eine Par­tei das prak­tisch umsetzt – auch die Mög­lich­keit, Ersatzkandidat*innen auf einer Reser­ve­lis­te zu verankern.

Wäh­rend die Novel­le des Wahl­ge­set­zes schon eini­ge Zeit her ist, wird das Wahl­recht jetzt erst so rich­tig kon­kret: die Auf­stel­lun­gen in den Wahl­krei­sen sind – hier mit grü­ner Bril­le – durch­ge­führt, und seit dem Wochen­en­de steht auch die ers­te grü­ne Lan­des­lis­te mit 70 Plät­zen, gewählt auf der Lan­des­wahl­ver­samm­lung in Hei­den­heim. Neben­bei wur­de dort auch Cem Özd­emir ins Amt des Kan­di­da­ten für das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten geho­ben; ich hof­fe sehr, dass er an den Erfolg Win­fried Kret­sch­manns anschlie­ßen kann. Sei­ne Rede war über­zeu­gend – und die fast ein­stim­mi­ge Unter­stüt­zung der Par­tei hat er auch. Auf der Lan­des­lis­te ist Cem – Frau­en­sta­tut – „nur“ auf Platz 2. Auf­fäl­lig ist zudem eine gewis­se Bal­lung der Regi­on Stutt­gart bei den ers­ten Plät­zen der Lis­te. Hier kommt die gro­ße Fra­ge ins Spiel, die auf dem Par­tei­tag­wo­chen­en­de vie­le gestellt haben, aber die natur­ge­mäß nie­mand beant­wor­ten konn­te: Wie weit wird die Lis­te ziehen?

Nach dem alten Wahl­recht wur­den 58 grü­ne Abge­ord­ne­te gewählt, alle mit Direkt­man­dat. Lan­des­weit waren das 32,6 Pro­zent. Inzwi­schen sind es auf­grund eines Über­tritts noch 57 Abge­ord­ne­te. In den Umfra­gen lie­gen wir Grü­ne aktu­ell aller­dings mit nur 20 Pro­zent deut­lich hin­ter der CDU. Gleich­zei­tig ist Cem Özd­emir beliebt, ihm wird zuge­traut, das Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten aus­zu­fül­len. Und in den Mona­ten bis zur Wahl kann noch eini­ges pas­sie­ren, auch weil die baden-würt­tem­ber­gi­sche CDU ganz nah an Merz und der Bun­des­re­gie­rung steht. Dann ist unklar, ob FDP und – was ein Novum für Baden-Würt­tem­berg wäre – LINKE es in den Land­tag schaf­fen. Je nach­dem, was hier ange­nom­men wird, schwankt auch die Zahl der Sit­ze, die auf uns Grü­ne ins­ge­samt ent­fal­len, massiv. 

Der zwei­te Fak­tor, den nie­mand wirk­lich gut ein­schät­zen kann, ist die Fra­ge der Direkt­man­da­te. Im alten Wahl­recht waren Direkt­man­da­te und Par­tei­en­stär­ke orga­nisch anein­an­der gekop­pelt. Wer Kret­sch­mann woll­te, muss­te grün wäh­len. Mit der Mög­lich­keit des Stim­men­split­tings könn­te es auch ganz anders aus­se­hen. In vie­len Wahl­krei­sen tre­ten grü­ne Direktmandatsinhaber*innen wie­der an – holen die­se, sofern die lan­des­wei­ten Wer­te noch etwas bes­ser wer­den, erneut das Direkt­man­dat? Oder greift der von Bür­ger­meis­ter, Kom­mu­nal- und Bun­des­tags­wah­len bekann­te Reflex, direkt dann doch lie­ber den CDU-Mann oder die CDU-Frau zu wäh­len – und mit der Zweit­stim­me dann Grün? Oder anders­her­um? Alle Umfra­gen sind mit Unsi­cher­heit behaf­tet, und die feh­len­de Erfah­rung mit Split­ting bei einer Land­tags­wahl mul­ti­pli­ziert die­se Unsi­cher­hei­ten noch ein­mal. Das geht bis hin zu der Fra­ge, ob ein „schlech­ter“ Lis­ten­platz lokal viel­leicht sogar ein Argu­ment sein kann, die­se Per­son direkt zu wäh­len, um so sicher­zu­stel­len, dass der Wahl­kreis grün ver­tre­ten sein wird.

Am Schluss kann es also sein, dass die Lis­te über­haupt nicht zum Zuge kommt, etwas durch­ein­an­der gewür­felt wird (etwa dadurch, dass Flo­ri­an Koll­mann in Hei­del­berg und Nady­ne Saint-Cast in Frei­burg II nicht auf der Lis­te abge­si­chert sind, son­dern allei­ne auf das Direkt­man­dat set­zen – ähn­lich in Mann­heim und Aalen) oder im Extrem­fall sogar nur ein­zieht, wer auf der Lis­te vor­ne steht. 

In der Kom­bi­na­ti­on aus Lis­ten­platz und plau­si­beln Annah­men über grü­ne Wahl­kreis­er­geb­nis­se lässt sich so maxi­mal eine ers­te Abschät­zung tref­fen, wel­che Wahl­krei­se und Per­so­nen bei einem halb­wegs guten Ergeb­nis im Land­tag ver­tre­ten sein wer­den, wer so gut wie kei­ne Chan­cen hat (hin­te­rer Lis­ten­platz und grü­ne Dia­spo­ra), und wo es auf den Wahl­aus­gang im Detail ankom­men wird. Es bleibt spannend.