Endlich geht es weiter mit meiner SF-Fortsetzungsgeschichte „Brandung“. Zur Erinnerung: im vorerst letzten Kapitel stand Martha in Barcelona vor einer schwierigen Frage. Wer wissen will, wie sie diese Frage beantwortet, muss sich allerdings noch etwas gedulden. Heute geht es zunächst mit Kath weiter, die zuletzt auf der Ladeplattform eines Lastwagens gesehen wurde.
Brandung (17)
Eine Möwe, die sich in diesen Teil der Stadt am Meer verirrte, hätte ein paar Kreise hoch über den halb verlassenen Bürotürmen gedreht, über den Ruinen der eiligst errichteten Containerhallen und über den schlecht gepflegten Straßen, um dann gelangweilt wieder kehr zu machen. Keine Mülltonnen, keine Fischmärkte, keine Fleischereien. Aus Möwensicht ein Ort so interessant wie eine Facebookseite ohne Einträge oder ein Twitterstrom ohne Tweets.
Eine Polizeidrohne, die ihre Kreise über diesem Teil der Stadt am Meer drehte, würde dieses Urteil teilen. Uninteressant wäre der Ort auch aus Sicht einer Polizeidrohne. Registrieren würde sie reges Treiben auf den Fischmärkten, keine besonderen Vorkommnisse in den kleineren Gewerbebetrieben und gut gelaunte Menschengruppen, die mittags die Bürotürme verließen, um einen Imbiss einzunehmen. Selbst ein Mensch, der sich aus Langeweile in den Strom der Bilder einschaltete, würde nicht bemerken, dass in unregelmäßigen Abständen immer wieder die gleichen computergenerierten Szenarien auftauchten.
Ein langweiliger Ort. Jedenfalls ein gut versteckter Ort.
Unter der Plane des Lastwagens verborgen waren für Kath mal mehr, mal weniger Lärm, einmal der Geruch eines Misthaufens, polternde Straßen und dann, nach langer Zeit, das Gefühl, dass ihr Fahrzeug langsam eine steile Rampe hinunter fuhr, die einzigen Merkmale, aus denen sie sich eine Vorstellung davon bilden konnte, wo sie jetzt war. Aber eigentlich war sie viel zu erschöpft, um sich überhaupt groß über irgendetwas Gedanken zu machen.
Als der rote Lastwagen zum Stehen gekommen war, und die Plane zurückgefahren wurde, kam es ihr vor, als würde sie aus einem seltsamen Dämmerschlaf aufwachen. Aber nein, das konnte nicht sein. Sie schaute sich um und stellte fest, dass sie sich in einer unterirdischen, rot leuchtenden Höhle befand. An den Wänden und an der Decke befanden sich mit Rubinen geschmückte Lampen und Laternen. Das Traumgefühl erschwerte es Kath, sich zu orientieren. Sie sah jetzt, dass nicht nur „ihr“ Lastwagen, sondern eine ganze Reihe altmodischer Fahrzeuge in dieser Höhle parkten. Die Fahrzeuge bildeten einen losen Halbkreis um eine Bühne, der ein rotes Zottelfell gewachsen war. Darauf eine plüschige Sitzgruppe. Der Stil kam ihr bekannt vor. Genau: Im Medienunterricht in ihrer Schulzeit hatten sie einmal Filme aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts anschauen und auf ihre Ästhetik hin analysieren müssen. Und jetzt kam es ihr vor, als wäre sie in einem dieser Filmsets aufgewacht. Müde rieb sie sich die Augen.
Sie musste tatsächlich eingeschlafen sein, fiel ihr nun auf. Denn die Ladefläche des Lastwagens war eben so leer wie der Rest des Raumes, soweit sie ihn überblicken konnte. Erst als sie versuchte, sich von der Stelle zu bewegen, stellte sie fest, dass eine Metallkette mit einer Handschelle sie an den Lastwagen fesselte. Was war mit Berti passiert? Und wo war sie hier?
„Das andere Schäfchen ist jetzt auch aufgewacht! Herzlich willkommen!“, hörte sie eine sanfte Stimme hinter ihrem Rücken.
Erschreckt versuchte sie, sich umzudrehen, blieb an der Metallkette hängen und landete krachend auf dem Metallboden des Lastwagens. So auf den Boden gezwungen, musste sie ihren Kopf verdrehen, um den Sprecher sehen zu können.
„Entschuldigen Sie, meine Dame! Ich wollte Ihnen keinen Schrecken einjagen – und sehe ja jetzt erst, dass Ihnen Unrecht getan wurde! Haben Sie keine Angst, ich binde Sie los.“
Der ganz in rot gekleidete Mann war in wenigen Schritten bei Kath. Er beugte sich hinunter und schloss die Handschelle auf. Kath unterdrückte den Impuls, sich zu wehren, sich irgendwie zu verteidigen. Statt dessen studierte sie das mit goldenen Kordeln zusammengehaltene rote Samtjäckchen, den fein gezwirbelten Schnurrbart und die bis zum Abschluss der roten Kniebundhose hinaufreichenden Stiefel aus glattem Leder. Angegraute schwarze Haare, bis zu den Schultern. Ein Lächeln und eisgraue Augen.
Kath richtete sich auf. „Wo bin ich? Und wer sind Sie?“
„Ich bedaure es sehr, dass wir uns auf diesem Wege kennen lernen. Und ich muss mich sogleich entschuldigen – wie Sie in Kürze verstehen werden, ist es mir nicht möglich, Ihnen meinen Namen zu nennen, werte Katharina.“
Der Mann reichte Kath die Hand. „Wo wir sind? Kommen Sie einfach mit.“
Noch immer benommen und widerstandslos leiste Kath der Aufforderung des rot gekleideten Fürsten Folge. Dieser hob sie scheinbar mühelos und mit gespielter Höflichkeit von der Plattform des Lastwagens hinab und wies auf die Bühne. „Setzen wir uns!“
Kaum hatte Kath in einem Plüschsessel Platz genommen, der rote Fürst in dem anderen, fing die Bühne auf dessen Wink an, sich langsam zu heben. Nach kurzer Zeit waren sie in einem anderen Stockwerk angekommen. Hier fügte sich die Plattform mit ihren Teppichen nahtlos in einen weitläufigen Salon ein. Kerzenleuchter, vergoldete Spiegel und beleuchtete Glasflächen illuminierten einen rot tapezierten Raum, in dem neben der Sitzgruppe ein Buffet mit allerlei Früchten, Häppchen und einigen Gläsern und Flaschen zu sehen war. Ein zierlicher Sekretär und ein altmodischer und nicht zum Stil der Einrichtung passender Flachbildschirm rundeten das Ensemble ab.
„Bedienen Sie sich ruhig. Ich nehme an, Sie haben Hunger und Durst. Ein Schluck Saft gefällig? Alkohol darf ich Ihnen leider keinen anbieten.“
Kath hatte noch immer nicht so recht ihre Sprache wiedergefunden. Stattdessen schaute sie den rot gekleideten Fürsten, der mit diesen Worten zum Buffet gegangen war, fragend an.
„Sie müssen verstehen, so ein Eingriff geht auch heute nicht ganz ohne Medikamente. Und da, so sagen es zumindest die Medizinleute, ist Alkohol völlig fehl am Platz.“
Sich selbst schenkte er eine durchsichtige Flüssigkeit ein. Kath konnte nicht erkennen, ob es sich um Wasser oder Wodka handelte. Für sie brachte er ein Glas Apfelsaft mit.
Kath riss sich zusammen. Irgendwie musste sie das Beste aus dieser Situation machen. Dumm in die Gegend zu glotzen, war sicherlich nicht der richtige Weg dazu. Einen Eingriff? Was meinte der Mann in Rot damit? Sie trank einen Schluck und fühlte, wie die Wut in ihr aufstieg.
„Jetzt mal heraus mit der Sprache! Was habt ihr mit mir gemacht? Und wo ist Berti?“
„Alles wird sich zum Guten wenden – haben Sie nur Vertrauen! Gehen wir doch zunächst einmal Ihrer zuletzt genannten Frage nach.“
Mit einem Wink seiner Hand schaltete sich der altmodische Bildschirm an. Kath konnte ein Bild sehen, wohl von einer Überwachungskamera. Unschwer war Berti zu erkennen, in einem Krankenbett liegend, ein Bein dick verbunden und von einer Apparatur hochgehalten. Berti schien in einem Buch zu lesen und wirkte zufrieden.
„Ihrem Kollegen geht es gut, wie Sie sehen. Wir kümmern uns um ihn. Dann hatten Sie, wenn ich mich recht erinnere, auch danach gefragt, wie es mit Ihnen selbst steht.“
Die Gesichtszüge des rot gekleideten Mannes kamen Kath jetzt fast wie ein diabolisches Grinsen vor. Oder wollte er freundlich lächeln?
„Am besten zeige ich es Ihnen. Geben Sie mir Ihre Hand.“
Wütend und ungeduldig hielt Kath dem Mann die Hand hin. Dieser ergriff sie vorsichtig, und führte die Hand dann an Kaths Nacken, unter ihren Haaransatz. Er ließ sie los. „Hier. Spüren Sie etwas?“
Kath betastete den Rand einer Wunde in ihrem Nacken.
„Wenn jemand sich diese Stelle morgen anschaut, ist dort – wir fanden das Motiv passend, ich hoffe, es gefällt Ihnen – nur ein kleines und unauffälliges Tattoo eines Schmetterlings zu sehen. Darüber, was sich darunter verbirgt, kann ich Ihnen leider keine umfassende Auskunft geben.“
Dieser Verletzung ihres Körpers gewahr zu werden, war zu viel. Kath verlor die Kontrolle über ihre Wut. Sie schaute sich kurz nach etwas brauchbaren um. Dann sah sie das Saftglas. Sie griff danach. Jetzt würde sie es dem arroganten Typen zeigen.
Irgendwie hatte sie das Glas nicht packen können. Sie griff noch einmal danach. Erstaunt stellte sie fest, dass das Glas unversehrt auf dem kleinen Tischen stand und ihre Hand leer war. Dann eben mit bloßen Händen, dachte sie sich. Und setzte sich ruhig hin, die Hände brav in den Schoß gefaltet.
„Gemach, gemach. Wir brauchten da eine kleine Sicherheit. Und ich sehe, dass das gut funktioniert. Dann können wir jetzt ja zum Geschäftlichen kommen. Dazu möchte ich noch jemand dazu bitten – Sie kennen sich, nehme ich an?“
Die mit goldenen Ornamenten versehene Tür öffnete sich, und herein trat Guy, den sie zuletzt im Bauwagen im Park gesehen hatte. Kath musste ein zweites Mal hinschauen – nicht nur, weil sie ihn zuallerletzt hier erwartet hätte, sondern auch, weil der groß gewachsene ehemalige Pirat nun nicht mehr in einem rosa Anzug steckte, sondern ebenfalls ganz in rot gekleidet war.
„Wir kennen uns, ja.“
(Fortsetzung folgt)