Ein Dossier zum Ende der Freiburger Linie, und ein paar Fragen zur Forschungsfreiheit im Sicherheitsstaat (Update 6: offene Briefe zum Fall Andrej H.)

Ein­drü­cke, wonach eine ver­meint­li­che „Frei­bur­ger Linie“ nicht mehr ein­ge­hal­ten wer­de, poli­zei­li­che Ver­hal­tens­wei­sen sich geän­dert haben oder durch Wech­sel von Füh­rungs­per­so­nen nicht mehr Anwen­dung fin­den, sind sub­jek­ti­ve Eindrücke.

So steht’s in einer Pres­se­vor­la­ge der Frei­bur­ger Poli­zei. Ich glau­be der­zeit eher den sub­jek­ti­ven Ein­drü­cken, und bin da auch nicht der ein­zi­ge. Mit dem neu­en Poli­zei­chef Amann hat sich ganz klar etwas ver­än­dert. Was, lässt sich zum Bei­spiel einem umfang­rei­chen Dos­sier bei Indy­me­dia ent­neh­men. Da woll­te ich ein­fach mal drauf hinweisen.

War­um blog­ge ich das?

Eigent­lich hat­te ich nur „Andrej“ und „Stadt­so­zio­lo­gie“ in Goog­le ein­ge­ge­ben, um her­aus­zu­fin­den, wer denn der im Zusam­men­hang mit den Ermitt­lun­gen gegen die angeb­li­che mili­tan­te Grup­pe ver­haf­te­te Ber­li­ner Sozio­lo­ge ist, der in der Pres­se immer nur als „Andrej H.“ bezeich­net wird. Also aus Neu­gier­de. Die Such­ma­schi­nen­tref­fer erge­ben dann das Bild eines enga­gier­ten, poli­tisch sicher­lich links ste­hen­den Aka­de­mi­kers, der sich am Lehr­stuhl von Prof Häu­ßer­mann an der HU mit Gen­tri­fi­ca­ti­on, Pri­va­ti­sie­run­gen und Hartz IV aus­ein­an­der­setzt (wenn das inzwi­schen aus­reicht, um des Ter­ro­ris­mus ver­däch­tigt zu wer­den, soll­te die Deut­sche Gesell­schaft für Sozio­lo­gie mal lie­ber schnell ihre Mit­glie­der­lis­te vernichten). 

Da u.a. Spie­gel Online auch auf eine Debat­te bei Indy­me­dia ver­wie­sen, habe ich dann auch dort mal wie­der rein­ge­schaut – und zwar ein paar Soli­da­ri­täts­de­mo­an­kün­di­gun­gen und ‑berich­te gefun­den, aber nicht die gro­ße Debat­te. Dafür dann das oben ange­spro­che­ne Dos­sier zum Ende der Frei­bur­ger Linie, auf das ich hier­mit hin­wei­se. Was ich damit anfan­gen soll, dass die intel­lek­tu­el­le Fähig­keit zum Ver­fas­sen kapi­ta­lis­mus­kri­ti­scher Ana­ly­sen inzwi­schen aus­reicht, um als Mit­glied einer angeb­li­chen ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung iden­ti­fi­ziert zu wer­den, weiss ich dage­gen gra­de noch nicht so genau. Vol­ker Ratz­mann von den Ber­li­ner Grü­nen sagt dazu:

Das hie­ße, dass zukünf­tig jeder Wis­sen­schaft­ler und jede Wis­sen­schaft­le­rin, die sich im poli­ti­schen Bereich und mit gesell­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen aus­ein­an­der­setzt, auf­pas­sen muss, dass nie­mand gegen ihren Wil­len ihre Aus­füh­run­gen zur Begrün­dung sei­ner eige­nen und straf­recht­lich rele­van­ten Hand­lun­gen her­an­zieht. Wenn sie dann viel­leicht noch in Semi­na­ren Kon­takt hat­ten, wer­den sie gleich zum Bestand­teil einer kon­stru­ier­ten ter­ro­ris­ti­schen Vereinigung.

Das Zitat bringt es auf den Punkt. 

Zusam­men­ge­nom­men zeigt bei­des – die Erkennt­nis­se, wie sehr die badi­sche Dees­ka­la­ti­on an einer Per­son hing, und die Tat­sa­che, dass der Staat mal eben wie­der Metho­den aus den 1970er Jah­ren ins Spiel bringt – wie schwie­rig es ist, Frei­räu­me des Den­kens und Han­delns auf­recht zu erhal­ten. Sich dar­auf zu ver­las­sen, dass sicher geglaub­te Frei­hei­ten bestand haben, könn­te fatal sein.

Update: Inzwi­schen gibt es laut Word­Press-Sta­tis­tik iro­ni­scher­wei­se Leu­te, die nach „Andrej H.“ und „Sozio­lo­gie“ (u.ä.) suchen – und dann hier bei einem Bericht über eine sol­che Suche lan­den. Dass es tat­säch­lich mög­lich ist, über eine der­ar­ti­ge Suche umfang­rei­che Infos über Andrej H. zu fin­den, ist, neben­bei gesagt, ein Hin­weis dar­auf, dass bestimm­te media­le Anony­mi­sie­rungs­stra­te­gien (wir nen­nen den „Ver­däch­ti­gen“ nicht mit vol­lem Namen, son­dern nur mit Vor­na­men und Initi­al) nicht funk­tio­nie­ren, wenn 1. der Vor­na­me hin­rei­chend sel­ten ist, und 2. wei­te­re Infos („Ber­li­ner Stadt­so­zio­lo­ge“) vor­lie­gen, die die Men­ge mög­li­cher Per­so­nen deut­lich ein­schrän­ken. Anders gesagt: der Ver­such der Anony­mi­sie­rung funk­tio­niert in die­sem Fall über­haupt nicht …

Update 2: Bei Tele­po­lis gibt’s ein Inter­view mit Prof. Rai­ner Ril­ling (Uni Mar­burg und Rosa-Luxem­burg-Stif­tung) zum Fall Andrej H. und den Kon­se­quen­zen daraus.

Update 3: Ril­ling sitzt auch im wis­sen­schaft­li­chen Bei­rat von Attac, der sich eben­falls dazu äußert (via).

Update 4: (15.08.2007) Wie die ZEIT berich­tet, gibt es inzwi­schen einen offe­nen Brief einer gan­zen Rei­he Wis­sen­schaft­le­rIn­nen, in dem die Gene­ral­bun­des­an­wäl­tin auf­ge­for­dert wird, die Ermitt­lun­gen gegen Andrej H. ein­zu­stel­len und – mei­ne Para­phra­se – in Zukunft etwas genau­er hin­zu­se­hen, statt sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Arbeit als Ver­dachts­mo­ment zu neh­men. Unter­zeich­net haben den unter­stüt­zens­wer­ten Brief u.a. Hart­mut Häu­ßer­mann, Wil­helm Heit­mey­er, Claus Offe, Hel­muth Wie­sen­thal, Franz Schult­heis, Micha­el Schu­mann, Susan­ne Frank, Wolf­gang Kaschuba, Ralf Fücks (Böll-Stif­tung) und 52 wei­te­re Wis­sen­schaft­le­rIn­nen. Ich bin mir sicher, dass noch eine gan­ze Rei­he mehr die­sen Brief unter­schrei­ben wür­den, wenn dafür im wei­te­ren Kreis Unter­schrif­ten gesam­melt wür­den. Hof­fen wir, dass es was hilft.

Update 5: Der erwähn­te offe­ne Brief kann doch durch wei­te­re Men­schen unter­stützt wer­den [via] – ich habe gera­de unter­schrie­ben (und gleich mal dem Vor­stand der Deut­schen Gesell­schaft für Sozio­lo­gie eine Mail mit der Fra­ge geschickt, ob die Fach­ge­sell­schaft nicht ihre Mit­glie­der auf die­sen Brief auf­merk­sam machen möchte). 

Update 6: Der Fall Andrej H. zieht wei­te­re Krei­se – das Blog Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Tech­nik­for­schung berich­tet von der Tagung der Ame­ri­can Socio­lo­gi­cal Association

Auf der Jah­res­ta­gung der Ame­ri­can Socio­lo­gy Asso­cia­ti­on (Ver­ei­ni­gung der US-ame­ri­ka­ni­schen Sozio­lo­gen, vgl. http://www.asanet.org/), wo seit Sams­tag rund 4.000 Sozi­al­wis­sen­schaft­ler in New York tagen, wird der Fall in meh­re­ren Ver­an­stal­tun­gen dis­ku­tiert, kur­sie­ren Peti­tio­nen, ins­be­son­de­re Stadt­so­zio­lo­gen zei­gen sich sehr besorgt über die deut­sche Entwicklung.

Auch ein wei­te­rer offe­ner Brief mit Unter­stüt­zung nam­haf­ter aus­län­di­scher Wis­sen­schaft­le­rIn­nen wird erwähnt – u.a. sind da (neben Elmar Alt­va­ter, Die­ter Rucht und Roland Roth aus Deutsch­land) auch Mike Davis, Saskia Sas­sen, Richard Sen­nett und John Urry zu fin­den, um nur die bekann­tes­ten zu nennen. 

Mietsteigerung durch Rechenfehler?

Frei­burg gehört zu den teu­ers­ten Städ­ten, was Mie­ten anbe­langt. Wer – wie wir der­zeit – nach einer bezahl­ba­ren Woh­nung sucht, ist oft ziem­lich scho­ckiert: nicht nur über das Preis­ni­veau in der Zypres­se, son­dern auch über die Preis­vor­stel­lun­gen etwa der Stadt­bau. Mit Schuld dar­an, dass die Miet­prei­se – so jeden­falls mein sub­jek­ti­ves Emp­fin­den – eher wie­der am Stei­gen sind, dürf­te der Miet­spie­gel sein. Die­ser wird seit letz­tem Jahr nicht mehr von FIFAS – einem Frei­bur­ger Insti­tut mit engen Ver­bin­dun­gen zum hie­si­gen Insti­tut für Sozio­lo­gie – erstellt, son­dern vom Regens­bur­ger Insti­tut EMA. Zumin­dest deren Rekru­tie­rungs­an­zei­ge vor zwei Jah­ren im Amts­blatt erschien mir etwas selt­sam, jeden­falls nicht extrem professionell. 

Demolition IIIWie dem auch sei: Jetzt bin ich im Sonn­tag über eine klei­ne Notiz gestol­pert: Der Sozio­lo­ge Prof. Bal­do Blin­kert (FIFAS) wirft EMA Sta­tis­tik­feh­ler vor, die zu einer nicht der Rea­li­tät ent­spre­chen­den Durch­schnitts­miet­erhö­hung geführt haben sol­len. Die Stadt demen­tiert. Da ich Prof. Blin­kert wäh­rend mei­nes Stu­di­ums (und auch sonst) als einen enga­gier­ten, aber auch bedäch­ti­gen, sei­ne Äuße­run­gen genau abwä­gen­den Wis­sen­schaft­ler ken­nen­ge­lernt habe, hat mich die­se kur­ze Notiz ein biß­chen irri­tiert. Des­we­gen habe ich mal nach­ge­forscht, um was es geht, und bin auf die­se Stel­lung­nah­me Blin­kerts und die­se damit ver­bun­de­ne Anfra­ge der Frei­bur­ger SPD gesto­ßen. In der SPD-Anfra­ge heißt es u.a.:

„Die Kri­tik und die Dis­kus­si­on in den Medi­en und mit uns Gemein­de­rä­ten reißt nicht ab, oft wer­den vor allem die Aus­wir­kun­gen anhand der Lage der Woh­nun­gen, anhand ihres Bau­jahrs und den dar­aus nun mög­li­chen hohen Miet­stei­ge­run­gen, vor allem bei Neu­ver­mie­tun­gen, kritisiert“.

Auch wenn die Frei­bur­ger SPD ger­ne ein biß­chen popu­lis­tisch auf­tritt: da scheint mir etwas dran zu sein.

Was kri­ti­siert Blin­kert nun am Vor­ge­hen von EMA? Zum einen sind es eini­ge sta­tis­ti­sche Wer­te, die nicht ange­ge­ben wer­den, und die so eine Nach­prü­fung der Ergeb­nis­se erschwe­ren. Außer­dem weist er auf Ele­men­te im Berech­nungs­mo­dell hin, die sei­ner Mei­nung nach nicht in einen Miet­spie­gel gehö­ren. Schwer­wie­gen­der ist der Vor­wurf sta­tis­ti­scher Män­gel. Unter ande­rem geht es dar­um, dass bei der zen­tra­len Regres­si­ons­ana­ly­se unsau­ber gear­bei­tet wurde: 

„Von den 50 miet­preis­re­le­van­ten Merk­ma­len […] sind 10 in einem sta­tis­ti­schen Sin­ne nicht signi­fi­kant, wenn die übli­cher­wei­se akzep­tier­ten Signi­fi­kanz­ni­veaus berück­sich­tigt wer­den […] Nor­ma­ler­wei­se wür­de man die Regres­si­ons­ana­ly­se ohne die­se nicht­si­gni­fi­kan­ten Merk­ma­le wie­der­ho­len. Das wür­de aber erheb­li­che Aus­wir­kun­gen auf alle ande­ren Prä­dik­to­ren (Zu- und Abschlä­ge) haben.“

Auch wenn es ein gewis­ses „Geschmäck­le“ hat, wenn der vor­he­ri­ge Auf­trag­neh­mer den jet­zi­gen kri­ti­siert: wenn da was dran ist, und ich zumin­dest fin­de eine gan­ze Rei­he von Prof. Blin­kerts Argu­men­ten über­zeu­gend, dann soll­te die Stadt noch ein­mal ihre Aus­schrei­bungs­pra­xis überdenken. 

War­um blog­ge ich das? Die hier recht plas­tisch sicht­bar wer­den­de Vor­stel­lung, dass ein paar Ände­run­gen im sta­tis­ti­schen Modell eines mit einer gewis­sen recht­li­chen Wir­kung ver­se­he­nen Gut­ach­tens, wie dies der Miet­spie­gel ist, zu deut­li­chen Aus­wir­kun­gen auf den loka­len Woh­nungs­markt füh­ren kön­nen, fin­de ich erschre­ckend. Letzt­lich klingt das fast so, als müss­te in sol­chen Fäl­len auch das Erhe­bungs­ver­fah­ren recht­lich stan­dar­di­siert wer­den. Und wenn da was dran ist, dann ist das ein Pro­blem, das etwas mehr Auf­merk­sam­keit wert ist als vier Zei­len im Sonn­tag.

Soziologie in Münster erhalten!

War­um auch immer: Ein belieb­tes Ziel von Struk­tur­ver­än­de­run­gen an Hoch­schu­len sind Sozio­lo­gie-Insti­tu­te. Aktu­ell fürch­tet das Insti­tut für Sozio­lo­gie der Uni­ver­si­tät Müns­ter um sei­nen wei­te­ren Bestand – von der­zeit fünf Pro­fes­su­ren soll es auf zwei redu­ziert wer­den. Und das wäre dann doch arg wenig.

Inso­fern unter­stüt­ze ich den Auf­ruf, sich mit dem Insti­tut zu soli­da­ri­sie­ren, ger­ne, und bit­te alle Lese­rIn­nen mei­nes Blogs, eben­falls zu unter­schrei­ben.

War­um blog­ge ich das? Weil Struk­tur­re­for­men all­zu oft Syn­ony­me für Abbau sind.

Tote Klassiker und Papierpersonen

Wäh­rend des Stu­di­ums waren sie eher durch ihre Wer­ke prä­sent und stan­den in einer Rei­he mit den Emi­nen­zen des letz­ten Jahr­hun­derts. Und erst nach und nach wur­de einem bewusst, dass vie­le der „Klas­si­ker“ durch­aus noch am Leben waren – schmerz­haft dann, wenn erst die media­le Todes­nach­richt dar­über auf­klär­te, dass es noch eine Chan­ce gege­ben hät­te, sie „live“ zu erle­ben, die es jetzt nicht mehr gab: Luh­mann und Bour­dieu etwa, oder in neus­ter Zeit Bau­dril­lard oder, gera­de gele­sen, Watz­la­wick. Und bei ande­ren – etwa bei Popitz, bei dem ich noch ein Semi­nar zum The­ma Uto­pien besuch­te, als er längst eme­ri­tiert war – wur­de mir erst nach eini­ger Zeit klar, dass es sich eben durch­aus eben­falls um einen Klas­si­ker gehan­delt hat­te, des­sen Tex­te heu­te noch ihre Bedeu­tung haben. Irgend­wie schon eine selt­sa­me Wis­sen­schaft, bei der die tat­säch­li­chen Per­so­nen so hin­ter den papie­re­nern The­sen und Argu­men­ten verschwinden. 

War­um blog­ge ich das? Weil das die Gedan­ken waren, die mir beim Lesen der Mel­dung zum Tode Watz­la­wicks kamen.

Nachruf: Gerburg Treusch-Dieter

In der Tele­po­lis ist ein Nach­ruf von Rudolf Maresch zum Tod von Ger­burg Treusch-Die­ter zu fin­den, der lesens­wert ist. Ich selbst hat­te in mei­nem Sozio­lo­gie­stu­di­um dank einer gewis­sen Ber­lin-Frei­burg-Kon­nek­ti­on eini­ge weni­ge Male die Gele­gen­heit, Treusch-Die­ter zu erle­ben. Sie gehör­te zu den­je­ni­gen, die mit Vehe­menz und Sturr­heit dafür sorg­ten, in jeg­li­cher Hin­sicht selt­sa­me Posi­tio­nen immer wie­der in den sozio­lo­gi­schen Dis­kurs hin­ein­zu­ho­len. Ganz unab­hän­gig davon, ob die­se Posi­tio­nen inhalt­lich teil­bar waren oder nicht: was sie damit auf jeden Fall erreich­te, war das Aus­lö­sen von Denk­pro­zes­sen und Ver­un­si­che­run­gen. Zuviel Ver­un­si­che­rung mag einer wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­plin auf Dau­er scha­den – ein biß­chen davon ist über­le­bens­not­wen­dig. Für die­ses not­wen­di­ge Quent­chen hat nicht zuletzt Treusch-Die­ter gesorgt, und allei­ne schon des­we­gen ist es zu bedaue­r­en, dass sie nun nicht mehr aktiv in den Dis­kurs ein­grei­fen kann.

> Nach­ruf im Frei­tag (Oskar Negt)
> Nach­ruf in Tele­po­lis (Rudolf Maresch)