Zombie-Debatten und formative Schnippsel

Ich bin schon seit gerau­mer Zeit dabei, die Ord­ner, die ich von Umzug zu Umzug mit­ge­schleppt habe, zu digi­ta­li­sie­ren. Ande­re Men­schen wür­den ver­mut­lich eher zu „kann doch weg“ ten­die­ren, ich habe, und wenn ich mir unse­ren Kel­ler anschaue: durch­aus fami­li­är beein­flusst – eher eine Ten­denz zum Auf­he­ben. Also: Ord­ner digi­ta­li­sie­ren, alles mög­li­che kommt in den Dop­pel­sei­ten­ein­zugs­scan­ner (lang lebe DIN A4), und viel Volu­men hat natür­lich die Stu­di­en­zeit eingenommen. 

In den letz­ten Wochen bin ich nun im Gang rück­wärts in der Zeit um 1993 ange­kom­men. 1994 habe ich Abi gemacht, danach Zivil­dienst und dann im Herbst 1995 ange­fan­gen zu stu­die­ren. Par­al­lel war ich zu die­ser Zeit auf Lan­des­ebe­ne in der dama­li­gen Grün-Alter­na­ti­ven Jugend (GAJ) aktiv, es gab auch eine Frei­bur­ger Orts­grup­pe (zusam­men mit den letz­ten Res­ten von JungdemokratInnen/Junge Lin­ke), und Schü­ler­zei­tung, SMV – mit lokal­po­li­ti­schen Bezü­gen, eine Mei­nungs­um­fra­ge zum Bür­ger­ent­scheid „Litz­fürst“ schaff­te es sogar in die Schul­kon­fe­renz – und 1994 grün­de­te sich das Grün-Alter­na­ti­ve Jugend­bünd­nis GAJB, der Vor­läu­fer der heu­ti­gen Grü­nen Jugend. Viel los in die­ser Zeit also. Und vie­les, was ich ver­ges­sen hatte …

1993 habe ich ange­fan­gen, sys­te­ma­tisch Zei­tungs­aus­schnit­te zu sam­meln (und das bis Ende 1995 fort­ge­führt, danach wur­de es dann in Bezug auf die Zei­tungs­aus­schnit­te unsys­te­ma­ti­scher und in Bezug auf alles, was sozio­lo­gisch oder digi­tal­po­li­tisch inter­es­sant war, sys­te­ma­ti­scher – schließ­lich fing dann mein Stu­di­um an, und ich kam mit Biblio­gra­fien und der Idee von Lite­ra­tur­ver­wal­tungs­soft­ware in Kon­takt). Und die­ser Ord­ner Pres­se von 1993 bis 1995 ist in mehr­fa­cher Hin­sicht interessant.

Bio­gra­fisch, weil er einen ganz guten Über­blick gibt, was mich damals, in einer sicher­lich sehr prä­gen­den Zeit, inter­es­siert hat. Und zum ande­ren auch mit Blick auf die Wie­der­gän­ger. Vie­le Debat­ten tau­chen heu­te, drei­ßig Jah­re spä­ter, wie­der auf. Ich will das an ein paar Bei­spie­len verdeutlichen:

1993, gleich der ers­te auf­ge­ho­be­ne Arti­kel, ist aus der Badi­schen Zei­tung und berich­tet über eine „Schü­ler-Demo gegen Frem­den­haß“ mit gut 1000 Teil­neh­men­den („Ent­täu­schung über die gerin­ge Teil­neh­mer­zahl“). Inter­es­sant in dem Zusam­men­hang auch ein Flug­blatt des Frei­bur­ger Kreis­ver­bands der Grü­nen, das ich als Kon­zept­pa­pier zum Auf­kle­ben der Pres­se­schnipp­sel ver­wen­det hat­te. Das dürf­te eben­falls aus dem Jahr 1993 oder 1994 stam­men und trägt den Titel: „Der Feind steht rechts!“ (ein Zitat des Reichs­kanz­lers Wirth, 1922). Sam­mel­un­ter­künf­te für Asyl­su­chen­de eben­so wie die poli­ti­sche Annä­he­rung der CDU an die dama­li­gen „Repu­bli­ka­ner“ wer­den the­ma­ti­siert. Klingt lei­der alles brandaktuell.

Dann beschäf­ti­gen sich 1993 eini­ge Arti­kel mit dem Jugend­um­welt­fes­ti­val Auf­takt in Mag­de­burg, an dem ich auch teil­ge­nom­men hat­te. Umwelt­the­men neh­men in der Samm­lung einen gro­ßen Raum ein – Pres­se­be­rich­te zu diver­sen Pro­tes­ten (Cas­tor­trans­por­te!) eben­so wie zum 1995 in Frei­burg statt­fin­den­den Jugend­um­welt­kon­gress Jukß mit 1200 Jugend­li­chen aus ganz Deutsch­land. Für eine auto­freie Rem­part­stra­ße wur­de eben­falls demons­triert … auch das ein The­ma, das sich trotz Ver­bes­se­run­gen in der Ver­kehrs­füh­rung noch nicht erle­digt hat. Oder wie hier zu sehen im Sep­tem­ber 1995 eine Demo zu den dama­li­gen Atom­tests Frank­reichs auf dem Muru­roa-Atoll. (Und ja, der jun­ge Mann mit den lan­gen Haa­ren links bin ich … da hat sich in den 30 Jah­ren seit­dem auch ein biss­chen was geändert …). 

Atom­tests ist so ein Wie­der­gän­ger-The­ma, denn gera­de jetzt hat Trump ankün­digt, die ame­ri­ka­ni­schen Atom­bom­ben-Tests wie­der auf­neh­men zu wol­len. Nicht nur in die­ser Hin­sicht gibt es gewis­se Par­al­le­len. Und auch wenn „Kli­ma“ Mit­te der 1990er Jah­re noch nicht das beherr­schen­de The­ma war, so kommt die Kli­ma­kri­se doch vor; 1997 wird es dann zum Kyo­to-Pro­to­koll kom­men, als ers­ter Schritt auf dem Weg hin zu glo­ba­len Redu­zie­rung der Treibhausgasemissionen. 

Dabei deu­tet sich in der Samm­lung der Pres­se­aus­schnit­te auch schon eine Hin­wen­dung zur Wis­sen­schaft an: sind es anfangs eher die akti­vis­ti­schen The­men, kommt – auch durch den Zivil­dienst im Öko-Insti­tut – nach und nach auch der eine oder ande­re Bericht zu Umwelt­bi­lan­zen, Öko­la­bels und ähn­li­chen Fra­gen in den Pressespiegel.

Jugend­po­li­ti­sche Akti­vi­tä­ten im enge­ren Sin­ne spie­len natür­lich eine gro­ße Rol­le. So geht es um die damals anste­hen­de Abschaf­fung des 13. Schul­jahrs (Baden-Würt­tem­berg führt es die­ses Jahr wie­der ein) – die „Regio­na­le Schü­le­rIn­nen-Ver­samm­lung“ mit Alex­an­der Bonde (dann Vor­sit­zen­der des Lan­des­schü­ler­bei­rats, spä­ter MdB und dann Land­wirt­schafts­mi­nis­ter in Baden-Würt­tem­berg, heu­te Gene­ral­se­kre­tär der Deut­schen Bun­des­stif­tung Umwelt) orga­ni­siert dazu eini­ge Aktio­nen. Und Fran­zis­ka Brant­ner (heu­te MdB und grü­ne Bun­des­vor­sit­zen­de) gibt ein ers­tes Inter­view als 15-jäh­ri­ge, in der sie erklärt, was die Jugend­kon­fe­renz der Stadt Frei­burg brin­gen soll, und war­um es wich­tig ist, Jugend­li­chen selbst Gehör zu schen­ken. Die Grün­dung des Grün-Alter­na­ti­ven Jugend­bünd­nis­ses nimmt Raum ein (die FAZ guckt genau, ob es eine Abgren­zung zur dama­li­gen „PDS“ gibt, oder ob hier links­ra­di­ka­le Umtrie­be zu befürch­ten sind), und eben­so fin­den sich Aus­ris­se zu Que­re­len bei den Jusos, einem Emp­fang der Lan­des­re­gie­rung unter Minis­ter­prä­si­dent Teu­fel für Jugend­or­ga­ni­sa­tio­nen und der­glei­chen mehr. 

Aber nicht alles ist Poli­tik. Zwi­schen Fotos von Demos und Rand­no­ti­zen zu Ver­bän­den kom­men zuneh­mend mehr Arti­kel, die sich mit Digi­ta­li­sie­rung beschäf­ti­gen (auch hier half der Zivil­dienst und der Zugang zu diver­sen Zeit­schrif­ten, der damit ver­bun­den war). Erör­te­run­gen über Unzu­läng­lich­keit der Meta­pher der Daten­au­to­bahn, Hacker-Por­träts und ein Inter­view mit Joseph Wei­zen­baum sind nur eini­ge der Fund­stü­cke. Und pas­send zur vor weni­gen Tagen erschie­ne­nen letz­ten Papier­aus­ga­be der wochen­täg­li­chen taz habe ich auch die dama­li­ge Ankün­di­gung der ers­ten „digi­Taz“ auf­ge­ho­ben – samt Erläu­te­rung, was die­ses Inter­net eigent­lich ist, und der ein­gän­gi­gen Adres­se http://www.prz.tu-berlin.de/taz zum Auf­ruf der digi­ta­len Zei­tung. Par­al­lel dazu wird in ande­ren Zei­tungs­aus­ris­sen dar­über spe­ku­liert, ob mit dem bal­di­gen Ende der Zei­tung auf Papier und dem papier­lo­sen Büro zu rech­nen sei. Hat etwas län­ger gedauert …

Ein oder zwei Arti­kel zum The­ma Sci­ence Fic­tion waren auch in der Gemenge­la­ge vor­han­den. Dass mir vie­le der Din­ge, die ich damals inter­es­sant fand, wei­ter­hin inter­es­sant erschei­nen, wür­de ich ja durch­aus posi­tiv wer­ten – dass vie­le der poli­ti­schen Pro­ble­me, die damals rele­vant waren, heu­te immer noch oder wie­der rele­vant sind, erscheint dann schon besorg­nis­er­re­gen­der. Hier habe ich zuneh­mend das Gefühl, dass der Fort­schritt, wenn es ihn den gibt, sich in Wel­len bewegt. Und allein für die­se Erkennt­nis lohnt es sich doch, das eine oder ande­re auf­zu­he­ben, und sei es platz­spa­rend digital.

Weltuntergangsstimmung

Viel­leicht gehört zum pro­fes­sio­nel­len Poli­tik­ma­chen ein gewis­ser Zweck­op­ti­mis­mus. Zugleich ver­ste­he ich, dass die in den letz­ten Jah­ren neu auf­flam­men­den Krie­ge, die demo­kra­tie­feind­li­che Situa­ti­on in Russ­land, den USA und Chi­na, und nicht zuletzt die sich wei­ter zuspit­zen­de Kli­ma­kri­se (von Arten­ster­ben und Pan­de­mien gar nicht zu reden) den Ein­druck her­vor­ru­fen kön­nen, dass das Ende der Mensch­heit, zumin­dest das Ende einer Geschich­te von Fort­schritt, Befrei­ung und der pro­gres­si­ven Aus­wei­tung demo­kra­ti­scher Rech­te nun nahe sei. Hier­zu­lan­de trägt der rechts­las­ti­ge Zeit­geist genau­so wie der tief durch­ge­drück­te Rück­wärts­gang der Merz-CDU zu die­sem Ein­druck bei.

Trotz­dem hat es mich erschreckt, wie vie­le Men­schen – in mei­ner in die­ser Hin­sicht ver­mut­lich über­haupt nicht aus­sa­ge­kräf­ti­gen Mast­o­don-Bla­se – davon über­zeugt sind, dass wir kurz vor einem glo­ba­len Zusam­men­bruch ste­hen. Ent­we­der, weil die genann­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Ent­wick­lun­gen, kom­bi­niert mit Fol­gen der Kli­ma­kri­se wie Dür­re, unbe­wohn­bar wer­den­den Land­stri­chen usw. zu bür­ger­kriegs­ar­ti­gen Zustän­den füh­ren wer­den. Oder, auch die­se Hal­tung fand ich in mei­nem Feed, weil als ein­zi­ger Weg, die Kli­ma­kri­se (und den rech­ten Back­lash usw.) noch zu stop­pen gese­hen wird, auf einen Umsturz zu hof­fen. Der dann mög­li­cher­wei­se zu bür­ger­kriegs­ar­ti­gen Zustän­den führt.

Das nicht ganz neue Argu­ment, dass es erst die Revo­lu­ti­on geben müs­se, bevor die Welt geret­tet wer­den kön­ne (bzw.: dass es erst die Revo­lu­ti­on geben müs­se, um die Welt zu ret­ten), erschließt sich mir wei­ter­hin nicht. Auch nicht im Kli­ma-Män­tel­chen, bzw. erst recht nicht in die­sem. Etwas zynisch gesagt: bis ein sol­ches Vor­ha­ben erfolg­reich ist, ist es zu spät. Vom CO2-Aus­stoss bren­nen­der Bar­ri­ka­den nicht zu reden.

Die Hoff­nung, dass es anders geht, dass es mög­lich sein kann, im Rah­men des­sen, was das poli­ti­sche Sys­tem dafür bereit­hält, die Wei­chen für eine bes­se­re Zukunft zu stel­len, ist eine zar­te Pflan­ze. Reicht es, dar­auf zu set­zen, das über kurz oder (bit­te nicht all­zu) lang doch Ver­nunft sich durch­setzt? Reicht es, dem Markt zuzu­trau­en, dass er nicht so ideo­lo­gie­ge­tränkt sein kann, die kla­ren öko­no­mi­schen Vor­tei­le erneu­er­ba­rer Ener­gien und elek­tri­scher Antrie­be außen vor zu las­sen? Ist Ver­trau­en in Kli­maur­tei­le der Höchst­ge­rich­te gerecht­fer­tigt (und wenn ja, wie lan­ge noch)? 

Das sind in einer Lage, die sich sehr nach Abwehr­kampf gegen das Zurück anfühlt, schwie­ri­ge Fra­gen, zuge­ge­ben. Und aus zum Bei­spiel dem Wachs­tum der erneu­er­ba­ren Strom­erzeu­gung nicht nur hier, son­dern auch in Dik­ta­tu­ren mit einem nüch­ter­nen Eigen­in­ter­es­se Hoff­nung zu sau­gen, mag zu wenig sein. 

Mehr­hei­ten kön­nen sich ändern, der Zeit­geist schwingt, über die letz­ten Jahr­zehn­te gese­hen, wild im Wind. No future gab es 1980 schon ein­mal, gesell­schaft­li­che Auf­brü­che 1968 und 1986 genau­so wie in den 2000er Jah­ren und zuletzt 2018. Und an gesell­schaft­li­chen Mehr­hei­ten lässt sich arbei­ten, Bünd­nis­se las­sen sich schmie­den, das Mei­nungs­kli­ma lässt sich ver­schie­ben. Das und der müh­se­li­ge poli­ti­sche All­tag mit sei­nem Streit um Stell­platz­schlüs­sel, Netz­um­la­gen und Neben­sät­ze in Kli­ma­schutz­ge­set­zen bewirkt etwas. Lang­sa­mer, manch­mal ver­geb­lich. Aber eben doch.

Was wäre die Alter­na­ti­ve? Die, die von einer Kli­mare­vo­lu­ti­on träu­men, konn­ten mir bis­her nicht sagen, wie der Weg dazu aus­se­hen soll. Wo sind die Poli­zei­trupps, die sich auf die Sei­te der Letz­ten Gene­ra­ti­on schla­gen? Wo sind die wüten­den Bürger*innen, die vor Bör­sen und Kon­zern­zen­tra­len auf­tau­chen? Und ja, auch die öffent­li­chen Gali­ons­fi­gu­ren, auf die sich Auf­merk­sam­keit fokus­siert, sehe ich aktu­ell kaum.

Oder geht es uns zu gut? Aber in den Kri­sen­ge­bie­ten sieht es nicht anders aus – wenn da jemand Mas­sen hin­ter sich ver­sam­melt, dann sind es grosso modo rech­te Populist*innen.

Was also tun? Ich bin über­zeugt davon, dass der ein­zi­ge erfolgs­ver­spre­chen­de Weg der ist, wei­ter in Gemein­de­rä­ten und Par­la­men­ten zu arbei­ten, wei­ter auf Stra­ßen und im Netz zu ver­su­chen, guten Argu­men­ten Nach­druck zu ver­lei­hen, wei­ter das Rich­ti­ge im eige­nen All­tag zu tun – und zu ver­su­chen, die Hoff­nung nicht auf­zu­ge­ben, dass das Mög­lich­keits­fens­ter, das sich beim nächs­ten Schwin­gen des Zeit­geist­pen­dels ergibt, dann auch tat­säch­lich genutzt wird.

AfD zerlegt sich – trotzdem wird die EU nach rechts rutschen

Auch wenn sie in den Umfra­gen immer noch viel zu hoch liegt – aktu­ell so um die 15 Pro­zent­punk­te – sind die letz­ten Tage mit Blick auf die AfD doch eher erfreu­lich. Der „Herbst­bu­ckel“ als tem­po­rä­res Umfra­gen­hoch scheint über­wun­den zu sein. Remi­gra­ti­ons­kon­fe­renz und Demo­kra­tie-ver­tei­di­gen-Demos im Febru­ar haben dazu bei­getra­gen – und jetzt die AfD selbst. Platz 1 der Euro­pa­lis­te, Maxi­mi­li­an Krah, beschäf­tig­te einen chi­ne­si­schen Spi­on und pro­vo­zier­te so lan­ge, bis Tik­Tok ihm die Reich­wei­te kürz­te und die AfD ihm Wahl­kampf­auf­trit­te unter­sag­te. Platz 2, Petr Bystron, ist mit einer Haus­durch­su­chung und auf­ge­ho­be­ner Immu­ni­tät als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter in den Schlag­zei­len. Ihm wird unter­stellt, Geld aus rus­si­schem Umfeld erhal­ten zu haben.

Die AfD hat recht­lich kei­ne Mög­lich­keit, ihre Lis­te zu ver­än­dern. Und bis­her sieht es nicht so aus, als ob Krah und Bystron auf ihr Man­dat ver­zich­ten wollen. 

Die fran­zö­si­schen Rechts­extre­men unter Mari­ne Le Pen haben sich vor­sorg­lich schon mal von Krah distan­ziert („SS-Sprü­che“, passt nicht zum „Nor­ma­li­sie­rungs­kurs“). Und aus der ID-Frak­ti­on ist die AfD heu­te auch geflo­gen. Distan­zie­run­gen, Raus­wurf, Auf­tritts­ver­bo­te etc. hei­ßen nun nicht, dass da jemand sein Gewis­sen ent­deckt hät­te. Aber die mit gro­ßer Mehr­heit an die Spit­ze der AfD-Euro­pa­lis­te gewähl­ten Poli­ti­ker sind wohl selbst der AfD zu pein­lich. Und zei­gen zu deut­lich, dass jede Stim­me für die AfD nicht nur eine für rechts­extre­me Paro­len und Hal­tun­gen ist, son­dern auch eine für Cha­os, Russ­land und Chi­na. Und das scheint die Wähler*innen der AfD dann doch ziem­lich rasant zu demotivieren.

Inso­fern habe ich die begrün­de­te Hoff­nung, dass die AfD bei der Euro­pa­wahl am 9. Juni weit unter­halb der Höchst­pro­gno­sen lan­den wird – und dann erst ein­mal mit sich selbst beschäf­tigt sein wird. Und auch kom­mu­nal kriegt sie – zumin­dest in Baden-Würt­tem­berg – kein Bein auf den Boden, tritt nicht oder nur mit Mini­lis­ten an. 

Trotz­dem bli­cke ich mit Sor­ge auf die Wahl zum Euro­päi­schen Par­la­ment. Denn der euro­pa­wei­te Rechts­ruck wird sich ins­ge­samt betrach­tet auch in den Abstim­mungs­er­geb­nis­sen nie­der­schla­gen. Und nach­dem die ers­ten EPP-Politiker*innen schon mög­li­che Koali­tio­nen mit ganz rechts als Mög­lich­keit genannt haben, schwant mir da nichts Gutes. Aktu­ell ist die EU doch eher ein Motor des öko­lo­gi­schen und gesell­schaft­li­chen Fort­schritts. Es ist nicht gesagt, dass das nach die­ser Wahl so bleibt. Umso wich­ti­ger ist es, am 9. Juni zur Wahl zu gehen und für eine ver­nünf­ti­ge Par­tei zu stimmen. 

Proteste und Proteste

Die Pro­tes­te für Demo­kra­tie und gegen Rechts gehen wei­ter – ges­tern gin­gen bei­spiels­wei­se in mei­nem Hei­mat­ort Gun­del­fin­gen rund 2000 Leu­te auf die Stra­ße, um gemein­sam für Viel­falt, für die Men­schen­rech­te und die Men­schen­wür­de und gegen Rechts­extre­mis­mus zu demons­trie­ren. Es hat mich gefreut, dass das in unse­rer manch­mal doch beschau­li­chen Gemein­de Kon­sens ist. Und auch wenn die Demo und Kund­ge­bung bür­ger­li­cher geprägt war als die gro­ßen Demons­tra­tio­nen in Frei­burg, und der eine oder ande­re es nicht las­sen konn­te, auch ein Abgren­zung von „Stra­ßen­blo­ckie­rern“ mit unter zu brin­gen: unterm Strich stimmt die Botschaft.

Auch ganz ande­re Pro­tes­te fan­den in den letz­ten Tagen statt. Egal, wo Grü­ne eine Ver­an­stal­tung machen – Trak­to­ren sind auch schon da. War­um das so ist, ist mir nicht ganz klar, vor allem: war­um das nur bei uns so ist, und ande­re Par­tei­en „ver­schont“ wer­den, etwa die Uni­on, die über Jahr­zehn­te die Land­wirt­schafts­po­li­tik gestal­tet hat, oder SPD und FDP, die ja maß­geb­lich die Haus­halts­kür­zun­gen mit zu ver­ant­wor­ten haben, Stich­wort „kei­ne Abkehr von der Schul­den­brem­se“. Mir ist ehr­lich gesagt auch nicht so ganz klar, was die Landwirt*innen eigent­lich errei­chen wol­len. Die schwie­ri­ge Lage der Bran­che ist bekannt. Um den Agrar­die­sel scheint es längst nicht mehr zu gehen. Wenn kon­kre­tes genannt wer­den soll, kommt dann oft ein Pot­pour­ri von „Ampel muss weg“ bis „Bür­ger­geld abschaf­fen“. Und da wird dann auch deut­lich, wie groß der Ein­fluss rech­ter bis ver­schwö­rungs­theo­re­ti­scher Kanä­le auf die Bau­ern­pro­tes­te inzwi­schen ist. 

Am Ascher­mitt­woch wur­de das dann noch ein­mal deut­li­cher. Ich war selbst nicht dabei, aber die Lage beim grü­nen poli­ti­schen Ascher­mitt­woch in Biber­ach muss wohl schlimm gewe­sen sein. Neben einer lau­ten, inhalt­lich grenz­wer­ti­gen, aber noch im Rah­men befind­li­chen Bau­ern­de­mo gab es dort Pro­tes­te vor der Hal­le, die auf Auf­ru­fe in Whats­App- und Tele­gram-Grup­pen zurück­gin­gen, und zu denen sich nie­mand so rich­tig beken­nen woll­te. Berich­tet wur­de mir von bren­nen­den Stroh­bal­len, von Men­schen mit Motor­sä­gen her­um­fuch­tel­ten, von Pla­ka­ten, die Grü­ne mit Unkraut gleich­setz­ten, und von einer Stim­mung, in der ein demo­kra­ti­scher Dia­log nicht mehr mög­lich war. In Abstim­mung mit der Poli­zei wur­de der poli­ti­sche Ascher­mitt­woch dann abge­sagt, weil die Sicher­heit der Teil­neh­men­den nicht zu gewähr­leis­ten war.

Soweit, so schlecht. Was mich aber noch mehr scho­ckiert hat als eine Poli­zei, die wohl kur­sie­ren­de Tele­gram-Auf­ru­fe nicht rich­tig ein­schät­zen konn­te, war die Hal­tung ins­be­son­de­re der Uni­on danach – zusam­men­ge­fasst war das, bis hin zum für die Poli­zei in Baden-Würt­tem­berg zustän­di­gen Innen­mi­nis­ter, oft ein „die Grü­nen sind selbst schuld, wenn die Ampel …“. Bei allem Ver­ständ­nis für har­te poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen, und um den Bogen zu den gro­ßen Kund­ge­bun­gen für die Demo­kra­tie zu schla­gen: eine sol­che Hal­tung mag kurz­fris­tig zu Gelän­de­ge­win­nen bei­tra­gen. Lang­fris­tig macht die­se feh­len­de Empa­thie und feh­len­de Soli­da­ri­tät unter Demokrat*innen unse­re Demo­kra­tie kaputt. Wenn alles nur noch Skan­dal ist, wenn jeder Feh­ler gleich aus­ge­nutzt wird, wenn Spra­che tag­ein tag­aus in har­te Ban­da­gen gepackt wird – dann hat die AfD ein leich­tes Spiel, weil das ihr Spiel ist. Und dar­auf soll­te sich nie­mand ein­las­sen. Weder pro­tes­tie­ren­de Berufs­grup­pen noch Par­tei­en, die mit­ein­an­der koali­ti­ons­fä­hig blei­ben wollen. 

Ereignis statt Struktur

Demo gegen rechts - 03.02.2024 - Freiburg

Schon wie­der ein Demo­tag, in Frei­burg bis zu 40.000 Men­schen auf der Stra­ße, ein Bünd­nis von 400 Orga­ni­sa­tio­nen. Und das ist nur Frei­burg. Großartig! 

Trotz­dem bei der Demo – die orga-mäßig, wenn ich das rich­tig sehe, mas­siv auf die Infra­struk­tur vor Fri­days for Future zurück­griff, in ande­ren Orten Par­tei­en oder Gewerk­schaf­ten – das Gefühl, dass es ein Risi­ko gibt, dass die­ses Bünd­nis, das jetzt ein Zei­chen gegen die AfD, gegen Ras­sis­mus, gegen Aus­gren­zung, für Viel­falt und Demo­kra­tie setzt, fra­gil ist. Und dass es kei­ne gute Idee wäre, jetzt mas­siv Ener­gie dafür ein­zu­set­zen, aus dem Ereig­nis der mög­li­cher­wei­sen größ­ten Demons­tra­tio­nen der deut­schen Geschich­te eine Struk­tur zu machen. 

Wir – die wache Zivil­ge­sell­schaft – haben gezeigt, dass wir im Zwei­fel da sind. Wir sind in der Lage, in kür­zes­ter Zeit mit vie­len, vie­len Men­schen auf die Stra­ße zu gehen und damit Poli­tik und öffent­li­che Mei­nung zu beein­flus­sen. Das ist extrem wich­tig – und das wird gese­hen, so jeden­falls mei­ne Innen­per­spek­ti­ve aus grü­ner Par­tei und Fraktion.

Wich­ti­ger als die nächs­te Demo, bei der dann sofort die Fra­ge gestellt wird, ob’s dies­mal noch mehr Men­schen waren, oder ob die „Bewe­gung“ schon wie­der ein­schläft, ist es, die­se Ener­gie jetzt in die exis­tie­ren­den Struk­tu­ren zu gießen.

Das sind Par­tei­en und Gewerk­schaf­ten, Initia­ti­ven und Ver­bän­de. All die gibt es. All die ste­hen für Demo­kra­tie – in den müh­sa­men Ebe­nen des All­tags. Und all die­se Ein­rich­tun­gen brau­chen Men­schen, die mit­ma­chen, die sich ein­brin­gen, die dabei sind. Und die die­se Hal­tung auch in ihr per­sön­li­ches Umfeld tra­gen. Die wider­spre­chen und ihre Mei­nung sagen.

Ereig­nis und Struk­tur ist eine der Grund­un­ter­schei­dun­gen der Sozio­lo­gie. Etwas, das regel­mä­ßig pas­siert, das dann sei­ne eige­nen Regeln aus­bil­det, Erwar­tun­gen bün­delt und Prak­ti­ken begrün­det, das ist eine Struk­tur. Und ohne Struk­tu­ren wür­de nichts funk­tio­nie­ren. Aus einem Ereig­nis, einem ein­ma­li­gen und neu­en Ding, eine Struk­tur zu machen, kos­tet Kraft. Was als Bünd­nis für den Moment funk­tio­niert, zeigt bei jeder Struk­tur­bil­dung sofort Flieh­kräf­te, führt zu Aus­ein­an­der­set­zun­gen über den rich­ti­gen Weg, über das „das machen wir so“. Und Auf­merk­sam­keit gibt es für das Ereig­nis, nicht für die dau­er­haf­te Anstrengung.

Das Signal ist da und so stark, wie es nur sein kann. Ich hof­fe, es ist ange­kom­men und hilft, die gesell­schaft­li­che Mit­te nach links zu ver­schie­ben. Im Wech­sel­spiel aus Ereig­nis und Struk­tur bewegt sich etwas. Das ein­ma­li­ge Ereig­nis mit den Groß­de­mos die­ser Tage – und die müh­sa­me All­tags­ar­beit in Par­tei­en, Initia­ti­ven, Ver­bän­den. Zusam­men bringt das was, zusam­men ver­än­dert das was. Des­we­gen: groß­ar­tig, dass es die­se Demos gab – aber lasst uns jetzt den Modus wechseln.