Seit dem 11.07.2012 ist das baden-württembergische Gesetz zur Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft in Kraft. Ein Gesetz, das bei RCDS und LHG auf ätzende Kritik gestoßen ist, von der Landesastenkonferenz dagegen kritisch begrüßt wurde (also eigentlich finden sie’s schon toll, aber es gibt jede Menge Detailregelungen, die auf Kritik stoßen). Ich will jetzt an dieser Stelle gar nicht auf die Pros und Contras der baden-württembergischen Lösung eingehen – vielleicht mit Ausnahme der Feststellung, dass eine Besonderheit des hiesigen Gesetzes sicherlich die Tatsache ist, dass die Studierenden vor Ort aufgefordert sind, sich für jeweils ihre Hochschule die passende „Organisationssatzung“ auszudenken. Das kann das klassische Modell aus Studierendenparlament und AStA sein, es kann aber auch ein ganz anders gelagertes Modell sein.
Machtblindheit, oder: ist Law Code?
I. Deutungshoheit und die Wirkung von Texten
Das eine ist die unglaubliche Naivität, mit der manche Menschen an Positionspapiere, Satzungen und Gesetze herantreten. Vielleicht schlägt da bei mir der Soziologe durch, aber wer glaubt, dass ein Text, nur weil in diesem Text etwas steht, alleine Wirkung entfaltet, leidet aus meiner Sicht an einer Wahrnehmungsstörung. Eine Wahrnehmungsstörung, die sich vielleicht am treffendsten als „Machtblindheit“ bezeichnen lässt.
Machtblindheit meint hier nicht, blind vor Macht zu sein, sondern nicht zu sehen, dass jeder Text deutungs- und interpretationsoffen ist. Dass jeder zu einem Werkzeug in einem Akteursnetzwerk gemacht werden kann, um bestimmte Ziele zu erreichen und andere Ziele zu verhindern.
Die Deutungsmöglichkeiten sind dabei nicht beliebig, aber sie sind sehr viel größer, als viele sich das vorstellen. Wer sich letztlich mit seiner Deutung durchsetzt, hat etwas mit diskursiver Hegemonie zu tun, aber eben auch damit, wer am sprichwörtlichen längeren Hebel sitzt.
Unsere tägliche Misstrauenskultur gib uns heute
Zwei auf den ersten Blick unzusammenhängende Beobachtungen:
1. Anfang der Woche hatten wir im Landtag ein Gespräch mit VertreterInnen verschiedener baden-württembergischer ASten und Analogmodelle über die Einführung der Verfassten Studierendenschaft. Inhaltlich war das durchaus spannend, aber darum geht es mir jetzt nicht – sondern darum, dass zumindest zu Beginn der Veranstaltung ein sehr starkes Misstrauen der StudierendenvertreterInnen zu spüren war. Beteiligung, Teilhabe, Mitwirkung, eine Einladung zum Gespräch – schöne Worte, aber in Wirklichkeit interessiert „die“ (also in dem Fall die grünen MdLs Salomon, Schmidt-Eisenlohr und Lede Abal, projiziert: die Regierung) doch überhaupt nicht, was wir wollen. „Die“ machen doch eh, was sie wollen. Das war so die Grundstimmung, die sich im Lauf des Gesprächs glücklicherweise etwas verändert hat. Mal schauen, wie die weitere Zusammenarbeit läuft.
2. Gerade eben klingelte es an der Haustür. Ein Vertreter der Telekom wollte von mir (Name jedoch falsch vom Klingelschild abgelesen) wissen, was für einen Vertrag ich den habe, wieviel ich im Monat zahle. Die klassische Haustürgeschäftssituation. Ich hatte keine Lust und keine Zeit, trotzdem drängte der Telekom-Mann drauf. Die Leitungen seien hier neu gelegt worden, deswegen sei es jetzt möglich, zum gleichen Preis (ich habe doch sicher diesen und jenen Vertrag) eine viel bessere DSL-Leistung zu erhalten. Irgendwas mit Glasfasern, neuer Technik. Er müsse nur kurz eine Messung vornehmen.
Ich habe ihn abgewimmelt – aus einem grundsätzlichen Misstrauen heraus. Da will mir jemand was verkaufen, da muss es doch einen Haken geben. Warum machen „die“ das? Vielleicht gibt es den Haken nicht, vielleicht gibt es wirklich zum gleichen Preis einen technisch besseren Vertrag – aber warum muss ich das in ein paar Minuten an der Haustüre entscheiden? (Call-Center – so die Antwort auf meine Frage, warum die Telekom Hausbesuche macht und trotzdem nicht weiß, mit wem sie es zu tun hat – würden nicht funtionieren).
=> Beide Begegnungen haben eines gemeinsam: Den Verdacht, dass „die“ – wer auch immer das ist – eigentlich nur ihr eigenes Interesse haben, und es, wenn sie darauf beharren, im Interesse eines anderen zu handeln, höchste Zeit ist, misstrauisch zu werden. Muss das so sein?
Warum blogge ich das? Weil ich das Misstrauen der Studentenschaft erwartet habe (und unser Gespräch von Angesicht zu Angesicht aus meiner Sicht auch eine vertrauensbildende Maßnahme darstellt – hoffe ich jedenfalls), und weil ich mich jetzt gerade ein bisschen über mein eigenes Verhalten an der Haustür geärgert habe. Dahinter steht letztlich der u.a. von Luhmann untersuchte Prozess, wie in der modernen Gesellschaft das auf persönliche Bekanntschaft beruhende Sozialvertrauen durch Systemvertrauen (Institutionen, Zertifikate, Gutachten usw.) ersetzt wurde. Soziale Medien sind ein Stück weit eine Wiederherstellung von Möglichkeiten, in einer massenmedialisierten Gesellschaft, in der soziale Nähe nicht mehr mit räumlicher Nähe identisch ist, Sozialvertrauen herzustellen. So richtig funktioniert das aber auch nicht immer. Misstrauen scheint in einer großen, anonymen, funktional differenzierten Gesellschaft eine Grundvoraussetzung zu sein – die dann aber Vertrauensbildungen immer wieder zunichte macht. Wie damit umgehen?
Ergänzung: Nach einem Anruf bei der Telekom deutet einiges darauf hin, dass mein Misstrauen an der Haustür berechtigt war – dass Telekom-MitarbeiterInnen an der Haustür nach Vertragsdaten fragen, sei eher unüblich („wir haben die ja schon“); zudem mache die Telekom selbst keine Haustürgeschäft, sondern wenn, seien diese freie UnternehmerInnen, die so Provisionen bei Vertragsvermittlung abkassieren wollen. Zudem erscheint mir nach einigem Nachdenken die Story des Vertreters noch unglaubwürdiger als zuvor: Wenn die Telekom allen Flatrate-DSL-Kunden eine neue technische Möglichkeit zum gleichen Preis einräumen möchte, kann sie das einfach tun – ohne Neuverträge und ohne „Messungen“. Soviel also zur sozialen Funktion von Misstrauen (was aber nicht an der grundsätzlichen Frage ändert, wie Vertrauen in einer sozial vernetzten, funktional differenzierten Gesellschaft eigentlich funktionieren kann und soll).