Meine generelle Unzufriedenheit mit dem Jahr 2022

Orange gray, Gundelfingen - V

Das Jahr 2022 lässt mich unzu­frie­den zurück. Nicht so sehr auf das Pri­vat­le­ben bezo­gen – Kin­der und Kat­zen gedei­hen, im Gar­ten wuchs es im Som­mer, ich habe wei­ter­hin eine span­nen­de Arbeit in der grü­nen Land­tags­frak­ti­on – son­dern im Gro­ßen und Gan­zen. Und die­ses Gefühl der Unzu­frie­den­heit zieht sich auch durch mein Blog. 

Natür­lich gibt es offen­sicht­li­che Grün­de dafür. Der 24. Febru­ar mit dem rus­si­schen Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne ist der sicht­bars­te die­ser Grün­de. Wir erle­ben Welt­ge­schich­te, die Zei­ten­wen­de ist immer prä­sent. Die­ser Krieg führt zu viel­fach mul­ti­pli­zier­tem Leid in der Ukrai­ne. Dane­ben wirkt ver­nach­läs­sig­bar, dass er auch bedeu­tet, dass lan­ge geheg­te Über­zeu­gun­gen über den Hau­fen gewor­fen wer­den müs­sen. Und ja: das müs­sen sie. Schön ist das trotz­dem nicht.

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„Seid nett miteinander“

Eigent­lich hat­te ich mir fest vor­ge­nom­men, an die­ser ers­ten Prä­senz-BDK – also dem Bun­des­par­tei­tag von Bünd­nis 90/Die Grü­nen – seit einer gefühl­ten Ewig­keit vor Ort in Bonn teil­zu­neh­men. Da ich nur Ersatz­de­le­gier­ter bin, und die Debat­ten im Stream eben­so gut ver­folg­bar sind, habe ich mich dann ange­sichts der rapi­de stei­gen­den Coro­na­zah­len einer­seits und leich­ten Erkäl­tungs­sym­pto­men ande­rer­seits ent­schie­den zu Hau­se zu blei­ben. Also, nur ein Bericht vom Bild, ohne Hin­ter­grund­rau­schen aus der Hal­le, ohne Atmo­sphä­re und ohne Nebengespräche.

Trotz­dem glau­be ich, dass sich ein biss­chen was über die­se BDK sagen lässt. Mot­to „Wenn unse­re Welt in Fra­ge steht: Ant­wor­ten“. Die mul­ti­plen, sich über­lap­pen­den Kri­sen tauch­ten selbst­ver­ständ­lich immer wie­der auf – in den Reden genau­so wie in den Anträ­gen. Über­haupt: die­se BDK war ein Antrags-Par­tei­tag. Im Mit­tel­punkt stan­den nicht die Wah­len, kei­ne Lis­ten­auf­stel­lung, und auch kein Pro­gramm, viel­mehr wur­de an vier gro­ßen the­ma­ti­schen Blö­cken gear­bei­tet. Dazu kamen zehn sons­ti­ge Anträ­ge, ein sehr kurz­fris­ti­ger Dring­lich­keits­an­trag zur Sicher­heit kri­ti­scher Infra­struk­tu­ren und eini­ge Sat­zungs­än­de­rungs­an­trä­ge. Ein Antrags- und damit ein Arbeits­par­tei­tag, also.

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Eine sanftere Zeit

Fowl V

Krieg in Euro­pa. Eine Zei­ten­wen­de, eine neue Geo­po­li­tik. Die gro­ßen Kri­sen, die mehr und mehr den All­tag bestimmen.

Das alles ruft, um in den übli­chen Phra­sen zu blei­ben, nach „einer har­ten Hand“, nach „kla­rer Kan­te“, nach „Zumu­tun­gen und Ein­schrän­kun­gen“, oder, auf die Spit­ze getrie­ben, nach „Blut, Schweiß und Trä­nen“. Die Zei­ten­wen­de, der Bruch zwi­schen vor­her und nach­her gehört zu die­sem Inven­tar, die neue Bedeu­tung der Bun­des­wehr, und eben­so Debat­ten dar­über, ob kalt duschen, unge­heiz­te Woh­nun­gen und har­te Sank­tio­nen ange­mes­sen sind oder nicht.

In die­sem Kon­text liegt es erst ein­mal nicht nahe, über eine sanf­te­re Zeit zu spekulieren. 

Trotz­dem glau­be ich, dass es die­se Opti­on gibt. Kei­ne Angst: ich mei­ne damit nicht, jetzt ein­fühl­sam Putins ver­letz­te See­le ver­ste­hen zu wol­len und das All­heil­mit­tel „Gesprä­che“ aus der 80er-Jah­re-Akten­ta­sche mit dem Frie­dens­tau­ben­auf­kle­ber zu holen. Das ist in die­ser Situa­ti­on nicht die rich­ti­ge Ant­wort, außen­po­li­tisch scheint „Stär­ke“ lei­der tat­säch­lich gefragt und wirk­sam zu sein. 

Aber wen­den wir den Blick nach innen. 

Wir kom­men aus einer sehr indi­vi­dua­lis­ti­schen Epo­che. Einer Epo­che, in der Protz und Ange­be­rei für man­che zum guten Ton gehör­te. Eine, in der irgend­wie alles mög­lich war, auch des­we­gen, weil weder die Her­stel­lungs­be­din­gun­gen noch die Umwelt­fol­gen von all dem irgend­wen inter­es­sie­ren muss­ten. Wir konn­ten es uns gut gehen las­sen. Also, jeder für sich! 

Jeden­falls die, die es sich leis­ten konn­ten. Die ande­ren inter­es­sier­ten nicht. Und in den fort­schritt­li­che­ren Milieus wur­de der indi­vi­du­el­le Kon­sum in schö­ne Erd­far­ben getunkt, etwas Beige hier, etwas Oli­ve da, mit Nach­hal­tig­keits­sie­gel an der Flug­fern­rei­se und ganz viel Acht­sam­keit. Was ja letzt­lich auch nur heißt, immer und über­all die eige­nen Bedürf­nis­se erspü­ren zu können.

Unter­halb der Ober­flä­che die­ser Ästhe­tik – der bil­li­gen Kon­sum­äs­the­tik genau­so wie der Ästhe­tik der nach­hal­ti­gen Erd­tö­ne – stand dann aber letzt­lich doch ers­tens ein Egal­sein, ein Rück­zug ins Eige­ne – hie auf der Suche nach wil­den Erleb­nis­sen, da auf der Suche nach Sinn und Fin­dung. Und zwei­tens die Melan­ge aus Abstiegs­ängs­ten (all die Debat­ten um Pre­ka­ri­sie­rung der 2000er Jah­re), der völ­lig ins Lee­re lau­fen­den Selbst­ein­schät­zung der sozia­len Lage (hal­lo, obe­re Mit­tel­schicht) und dem oft ver­steck­ten, aber immer vor­han­de­nen Kampf ums Vor­ne-mit-Dabei­sein, ums Ers­ter-Sein, ums Bes­ser-Sein, ins­be­son­de­re im Arbeits­kon­text. Oder, um wei­te­re Zeit­geist­merk­ma­le zu nen­nen: eine Zeit für NIMBY, für Trol­lerei­en im Netz samt Radi­ka­li­sie­rungs­spi­ra­le, für laut­star­ke Schlag­zei­len und bil­li­gen Humor.

Mög­li­cher­wei­se, und das mei­ne ich mit der Spe­ku­la­ti­on über sanf­te­re Zei­ten, ändert sich die­se Hal­tung gera­de grund­le­gend. Ich hal­te das für mög­lich, weil ein paar Din­ge zusammenkommen. 

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Halbjahr

Das Jahr 2022 ist schon wie­der zur Hälf­te vor­bei. Der Som­mer ist mit vol­ler Wucht da, der Gar­ten summt und blüht, die Kin­der wach­sen und gedei­hen. Und poli­tisch: grü­ne Gestal­tungs­mehr­hei­ten auf allen Ebe­nen. Alles pri­ma, also?

Lei­der fühlt sich das gar nicht so an. Die letz­ten Supre­me-Court-Ent­schei­dun­gen in den USA, die den einen oder ande­ren post-apo­ka­lyp­ti­schen SF-Roman plötz­lich ganz rea­lis­tisch erschei­nen las­sen. Der Krieg in der Ukrai­ne. Brenn­glas: Die wirt­schaft­li­chen Fol­gen der fata­len Abhän­gig­keit von Gas und Erd­öl. Der allen Kli­ma­schutz­maß­nah­men der letz­ten zwan­zig, drei­ßig Jah­re zum trotz nahe­zu line­ar wach­sen­de CO2-Aus­stoß, der von Jahr zu Jahr deut­li­che­re Fol­gen hat. Und die­se Pan­de­mie ist auch noch da, mit der Pro­gno­se eines hohen Infek­ti­ons­pla­teaus bis zum Herbst, um dann in die nächs­te „rich­ti­ge“ Wel­le überzugehen.

Vor die­sem Hin­ter­grund wir­ken alle poli­ti­schen Erfol­ge klein – gesell­schafts­po­li­tisch zum Bei­spiel die Strei­chung von § 219a, die Ankün­di­gung, dass in einem Jahr ein Selbst­be­stim­mungs­ge­setz da sein soll, und auch die Schrit­te, die wir bei­spiels­wei­se im Land unter­neh­men, um ein kli­ma­neu­tra­les Baden-Würt­tem­berg hin­zu­krie­gen. Das ist ambi­tio­niert, und kommt doch zu spät, wenn die Sze­na­ri­en des IPCC stimmen. 

In der Sum­me fühlt sich Poli­tik­ma­chen gera­de sehr danach an, im hef­ti­gen Gegen­wind nicht zurück­zu­fal­len – wäh­rend gleich­zei­tig ein Abgrund auf uns alle zukommt. Oder, um ein ande­res Bild zu wäh­len: Löcher zu stop­fen, wäh­rend immer wie­der neu ent­ste­hen, und die Zahl der ver­füg­ba­ren Arme und Hän­de begrenzt ist.

Es geht dar­um, zu tun, was not­wen­dig ist (und was auf­grund all der Zwän­ge, die zu Poli­tik dazu­ge­hö­ren, von Koali­tio­nen über Haus­hal­te bis zum Meh­re­be­nen­sys­tem, dann nur in einer abge­schlif­fe­nen Form mög­lich ist). Raum dafür, zu tun, was sinn­voll wäre, aber eben nicht not­wen­dig ist, bleibt kaum.

Frü­her konn­te ich mich für Uto­pien begeis­tern, auch als Mit­tel, um zu zei­gen, dass es anders sein könn­te. Heu­te habe ich die Befürch­tung, dass jede Uto­pie als Ver­spre­chen auf eine bes­se­re Zukunft nur dazu bei­trägt, da weg­zu­se­hen, wo jetzt – eigent­lich schon vor­ges­tern – etwas getan wer­den muss. Durch­wurs­teln hat uns in die Lage gebracht, in der wir heu­te sind – und trotz­dem wäre es fatal, jetzt auf gro­ße Lösun­gen und radi­ka­le Neu­an­fän­ge zu set­zen und dar­über das, was jetzt getan wer­den kann, nicht zu tun. Es wür­de auch anders gehen, es geht auch anders. Im Detail tau­chen dann beim Weg dahin aber doch immer wie­der neue Löcher auf. Am liebs­ten da, wo es um Infra­struk­tur geht, um das Bahn­netz, um Breit­band­an­bin­dun­gen, um die gro­ßen Strom­tras­sen für ein auf Son­ne, Wind und Spei­cher set­zen­des Netz – und das sind dann alles Löcher, die eigent­lich schon vor Jah­ren hät­ten gestopft wer­den müs­sen, um jetzt han­deln zu kön­nen. Der Gegen­wind frischt wei­ter auf, der Abgrund rückt näher. 

Halb­zeit des Jah­res 2022, und ich bin mit der Lage der Welt über­haupt nicht zufrie­den. Je nach Per­spek­ti­ve mag das ein loka­ler Tief­punkt sein: der Abgrund als Tal, das im Rück­blick, wenn es denn end­lich durch­quert ist, gar nicht mehr so furcht­ein­flö­ßend aus­sieht. Eini­ges deu­tet lei­der dar­auf hin, dass die­ses Bild nicht stimmt, dass wir uns viel­mehr dar­auf ein­stel­len müs­sen, dass die bes­se­ren und küh­le­ren Jah­re auf lan­ge Zeit hin­ter uns lie­gen, und Poli­tik für eine Gene­ra­ti­on nicht Gestal­tung bedeu­tet, son­dern per­ma­nen­ter Kampf dar­um, die rich­ti­gen Löcher zu stop­fen und dabei nicht all zu vie­le neue ent­ste­hen zu las­sen. Und das muss trotz­dem getan werden. 

Zeit des Virus, Update XVI

Opfinger See - panorama

Mein letz­tes Update zur Coro­na-Lage hat­te ich im März geschrie­ben. Und ich hat­te irgend­wie die Hoff­nung, dass das dann viel­leicht auch das letz­te Update sein könn­te, dass Coro­na tat­säch­lich irgend­wann vor­bei ist.

„Über­ra­schen­der­wei­se“ ist das nicht so. Im süd­afri­ka­ni­schen Som­mer lie­fen dort die Zah­len für die Omi­kron-Vari­an­ten BA.4 und BA.5 hoch. Das wur­de mit irgend­wel­chen Beson­der­hei­ten der dor­ti­gen Demo­gra­fie weg­er­klärt. Vor eini­gen Wochen, in die­sem sehr hei­ßen Nord­halb­ku­gel-Som­mer, ging‘s dann in Por­tu­gal steil nach oben. Wäh­rend­des­sen dreh­te sich unse­re poli­ti­sche Dis­kus­si­on nach dem Aus­lau­fen der fünf­ten (oder sechs­ten?) Wel­le vor allem dar­um, auf den Herbst und den Win­ter vor­be­rei­tet zu sein. Schließ­lich wis­sen wir ja, dass Coro­na im Som­mer pausiert.

Seit ein paar Tagen stei­gen jetzt auch die Inzi­den­zen in Deutsch­land wie­der mas­siv an, ver­mut­lich ist die Dun­kel­zif­fer noch deut­lich höher, weil PCR-Tests kaum zu krie­gen sind. Und auch „har­te“ Indi­ka­to­ren wie die Hos­pi­ta­li­sie­rung schei­nen wie­der nach oben zu gehen.

In den sequen­zier­ten Labor­pro­ben steigt der BA.4/BA.5‑Anteil von Woche zu Woche an, genau­er gesagt: er ver­dop­pelt sich wöchentlich.

Anders gesagt: die „Som­mer­wel­le“ ist zur gro­ßen Über­ra­schung ins­be­son­de­re der Bun­des­po­li­tik – und hier ins­be­son­de­re der FDP – längst da. 

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