Zu meinem Facebook-Text ist mir gerade noch ein Nachtrag eingefallen. Es gäbe auch netzpolitisch noch einiges dazu zu sagen, dass aber ein anderes Mal.
Eine These dort war ja, dass „social networks“ letztlich aus ich überlappenden Teilöffentlichkeiten bestehen. Anders gesagt: jede/r hat dort seine oder ihre „private Öffentlichkeit“. Das lässt sich aber auch andersherum betrachten. Hilfreich ist dazu Goffmanns Bild von der Vorder- und der Hinterbühne. Goffman beschreibt, dass es je nach Rahmung der sozialen Interaktion unterschiedliche Interaktionsregeln gibt. Typisches Beispiel: im Parlament (Vorderbühne) hauen die PolitikerInnen verbal aufeinander ein, beim Parlamentsabend (Hinterbühne) trinken sie dann trotzdem gemeinsam ein Bier. Etwas moderner ausgedrückt: die kommunikationsrelevanten sozialen Praktiken sind situativ eingebettet, und es lässt sich recht klar zwischen Praxisbündeln für „öffentliche“ und für „private“ Sphären unterscheiden.
Ich habe mich jetzt gefragt, was Facebook eigentlich für eine Bühne ist. Die Antwort ist ein klares „kommt drauf an“. Facebook kann sowohl Vorder- wie auch Hinterbühne sein, und ist manchmal für ein und diesselbe Person beides. Es koexistieren also verschiedene kommunikative Praktiken. Beispiel (um bei der Politik zu bleiben): eine Politikerin inszeniert sich hier als thematische Expertin (Vorderbühne) für ihre große „private Öffentlichkeit“ – ein anderer Politiker nutzt Facebook als Forum „öffentlicher Privatheit“ (Hinterbühne) und kommuniziert dort über Bahnverspätungen, seine Erkältung oder den Ärger über unaufschiebbare Termine. Beide Statusmeldungen können kurz hintereinander von einem Nutzer oder einer Nutzerin gelesen werden.
Anders gesagt: Facebook verwirrt die Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne. Damit ist Facebook nicht alleine (hier kommt mir sowohl Sennett in den Sinn, der über soviel Intimitätsverlust vermutlich die Hände über den Kopf zusammenschlagen würde, als auch andere Beispiele, an denen die klare situative Rahmung versagt: das reicht von „Big Brother“ und „geskripteten Dokumentarfilmen“ als Beispielen für klar inszenierte öffentliche Privatheit bis hin zu der Frage, ob eigentlich Arbeitsplätze Vorder- oder Hinterbühnen sind – aus dem Büro, das gerade noch Hinterbühne war, wird beim Eintreten der Kundin plötzlich eine komplett andere Situation. Auch hier als Koexistenz unterschiedlicher Bündel kommunikativer Praktiken und Erwartungen).
Etwas weiter gedacht: Facebook verwirrt nicht nur die Unterscheidung zwischen „privat“ und „öffentlich“, sondern kann sogar dazu genutzt werden, durch die teilöffentliche Inszenierung von Privatheit den Anschein von Authentizität zu erwecken. Der Politiker, der dort über Zugverspätungen redet, macht dies vielleicht, um seinem Ärger darüber, schon wieder warten zu müssen, Luft zu machen. Vielleicht macht er es aber auch, um ganz andere Dinge zu kommunizieren (oder bewirkt dies zumindest zugleich) : „ich fahre auch nur mit dem Zug“, „ich bin ökologisch“, „wir sind uns da ganz ähnlich“, „ihr könnt an dem teilhaben, was mich bewegt“. Es überschneiden sich bei Facebook etc. also nicht nur Nutzungspraktiken, die der Unterscheidung privat/öffentlich unterliegen, sondern auch Nutzungspraktiken, die der Unterscheidung authentisch/künstlich unterliegen.
Wie gesagt: das ist nicht unbedingt etwas, was nur Facebook und andere soziale Netzwerke betrifft. Auch andere halb-öffentliche Orte sind ähnlichen Überschneidungen heterogener Praxisbündel ausgesetzt. Es hilft vielleicht, Facebook etc. dabei weniger als einen Ort zu betrachten, sondern eher als Infrastruktur bzw. als Medium. Auch im Medium „E‑Mail“ oder „Brief“ können sowohl private wie auch öffentliche Kommunikationen stattfinden. Möglicherweise sogar in direkte zeitlicher Abfolge zwischen identischen KommunikationsteilnehmerInnen. Anders als bei diesen Medien ist aber bei social networks die faktische und öffentlich sichtbare Interpenetration unterschiedlicher Stile und Praktiken. Auch in meiner Mailbox mischen sich private und öffentliche, authentische und künstlich inszenierte Mails. In den überlappenden Teilöffentlichkeiten sozialer Netzwerke stehen diese aber doch stärker miteinander verwoben dar. Zum sozialen Netzwerk kommt das Netz der Bezüge und Kommentierungen, das Querverbindungen zwischen unterschiedlichen Kommunikationspraktiken herstellt.
Verwirrrend wird es daher dann, wenn – und da scheinen mir die metakommunikativen Praktiken in social networks noch nicht ganz ausgereift – NutzerInnen nicht wissen, womit sie es zu tun haben. Wenn also die beobachteten Kommunikationspraktiken und die daran gerichteten Erwartungen nicht übereinstimmen. Wenn die professionell-öffentliche Politikerinnen-Kommunikation mit authentisch-privaten Kommentaren versehen wird, die die Inszenierung stören. Oder wenn PolitikerInnen, die Facebook als teilöffentliches Medium betrachten, das beispielsweise für einen Wahlkampf genutzt werden kann, nach der Wahl aufhören, zu twittern und Facebook zu nutzen, und die vorher der authentischen Person zugeschriebene Aufrechterhaltung der Kommunikation nun plötzlich umkippt und entsprechende Erwartungen enttäuscht werden.
(Gleiches gilt natürlich ebenso, wenn nicht PolitikerInnen und der Wahlkampf betrachtet werden, sondern beispielsweise ebenso für Stars und für Unternehmen oder andere Organisationen, deren Angehörige sich als privat und authentisch inszenieren – und dann eine große Erwartungsenttäuschung produzieren, wenn diese Inszenierung nicht aufrecht erhalten werden kann.)
Literatur
Goffman, Erving (1971): Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum. Gütersloh: Bertelsmann.
Goffman, Erving (1998 [1969]): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München / Zürich: Pieper.
Schatzki, Theodore R. (1996): Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social. Cambridge: Cambridge University Press.
Sennett, Richard (1996): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer.
Warum blogge ich das? Weil mir das heute morgen – unter der Dusche – so einfiel und mir dann keine Ruhe gelassen hat.