Allmählich wird aus der hektischen Betriebsamkeit der ersten Wochen etwas, das sich lang zieht, etwas, das nach Ausdauer und Warten ruft. Etwas, das noch kein Ende kennt, ein Drittes neben Krise und Normalbetrieb.
In den letzten drei Wochen, seit ich zuletzt über die „Zeit des Virus“ geschrieben habe, ist es gefühlt deutlich schwieriger und anstrengender geworden. Ostern hat ganz gut geklappt, Kernfamilienfeier, per Skype zugeschaltete Großeltern und Geschwister, gemeinsam verbrachte Zeit. Aber die Osterferien, die in Baden-Württemberg erst morgen enden, sind keine Ferien, weil die Kinder beide noch Schulstoff erledigen müssen, und weil auch die Fraktionsarbeit weitgehend „normal“ weiterläuft.
Auch bei mir gibt es zunehmend das Gefühl, dass es doch mal aufhören müsste mit diesem Lockdown, mit den ganzen Beschränkungen. Ich kann mir noch nicht so ganz vorstellen, wie die Kinder damit klar kommen sollen, weitere Wochen im „Home-Schooling“ zu verbringen. Für Montag sind die nächsten Aufgaben und Telefonate mit den Lehrer*innen angekündigt. „Macht doch mal was“ bleibt trotzdem an den Eltern hängen, und klar: es gibt so etwas wie einen Rhythmus, aber es sind doch Tage, an denen deutlich weniger passiert als es in der Schule der Fall wäre. Und zumindest R. ist zunehmend frustriert davon, wenn draußen auf dem Hof Kinder spielen und ich nur sage, dass wir es nicht möchten, dass er dazu geht.
Gefühlt also Eile, trotz aller Introvertierheit der Wunsch, dass die Zeit des Virus mal vorbei gehen möge. Und gleichzeitig im Kopf das Wissen darum, dass wir noch längst nicht über den Berg sind, der Ärger darüber, dass allein die Debatte um „Lockerungen“ bei einigen wohl dazu geführt hat, das alles nicht mehr ernst zu nehmen … ich möchte nicht wissen, was das für die Ansteckungszahlen in ein paar Tagen bedeutet.
Und wenn ich versuche, mir die verschiedenen Strategien, mit dem Virus umzugehen, vor Augen halte, dann wird klar: Herdenimmunität, der Aufbau eines natürlichen Schutzes bei einem großen Teil der Bevölkerung: das funktioniert nicht, jedenfalls nicht ohne eine Vielzahl an Toten in Kauf zu nehmen. Was jetzt passiert, ist das Senken der Weiterverbreitung auf ein Maß, mit dem das Gesundheitssystem klar kommt. Das sieht aktuell gut aus, die Neuinfektionen sind zurückgegangen und seit Tagen stabil, auch die Zahl der täglichen Todesfälle ist halbwegs stabil (zynisch, dass das eine gute Nachricht ist). Aber so weiter zu machen, heißt eben auch, einen Kern aus Kontaktvermeidung und harten Beschränkungen noch mindestens bis in den Herbst, vielleicht auch ins Frühjahr aufrecht zu erhalten. Und dann stehen sowohl Selbständige, die nichts verdienen, weil derzeit zum Beispiel niemand Auftritte von Künstler*innen bucht, vor einem Problem – genauso wie alle Eltern, die das Gewurstel der letzten Wochen bis weit in die Zukunft hinein weiterführen sollen. (Und nein, bei weitem nicht jeder Haushalt besteht aus Vater Alleinverdiener, der pädagogisch versierten Mutter Hobbylehrerin und den braven Kindern 1 und 2, die gerne mit dem Hund im Garten tollen). (Apropos: sehr gut dazu Annalena Baerbock in der taz).
Nahe liegende Lösungen für dieses Problem gibt es nicht, am besten wäre wohl eine Kombination aus echtem Teleunterricht für die Kinder (aber das muss technisch erst einmal klappen), einem rollierenden oder sonst irgendwie reduziertem System von Kita- und Schulöffnungen und Lohnersatzleistungen für alle, die so nicht arbeiten können. Und irgendwann dann die Impfung. Aber so oder so heißt dass, das es noch eine ganze Weile weitergeht mit dem Status quo.
Der kleine Hoffnungsfunke: die Zahl der Neuinfektionen und die Zahl der Infektionen pro Person nimmt so stark ab, dass wieder zu „Containment“ als Strategie gegriffen werden kann. Das hat aber zwei nicht ganz einfache Voraussetzungen. Zum einen braucht es schnelle Tests, auch auf Immunität, und Wissen darüber, wie die Dunkelziffern aussehen. Also Tests und Strichproben. Und zum anderen braucht es eine Einhaltung sowohl der jetzt geltenden Kontaktbeschränkungen wie auch der dann weiter notwendigen Hygieneregeln durch einen großen Teil der Bevölkerung, also Einsicht. Bei den Tests und Stichproben bin ich halbwegs zuversichtlich, bei der Einsicht habe ich derzeit so meine Zweifel. Der Heinsberg-Coup von Laschet ist diesbezüglich, um es deutlich zu sagen, hochgradig kontraproduktiv.
In der Presse und in der Fraktion – genauso wie in den sozialen Medien – gibt es derzeit eigentlich nur ein Thema. Auch das trägt dazu bei, dass diese Tage sich strecken. Es geht immer um Corona. In der Arbeit. In der Freizeit. Am Wochenende. In den „Ferien“. Usw. Klar gibt es Fluchtmomente – Computerspiele, Filme, Bücher – aber eigentlich ist das Virus dauerpräsent. Und das seit Wochen. Auch das macht diese Zeit schwierig. Vielleicht brauchen wir hier andere Räume.
Gleichzeitig empfinde ich es als schwierig, die Pandemie auszublenden. Beispiel Wahlprogramm – im Frühjahr 2021 sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Da jetzt ein Programm zu schreiben, das aussieht wie jedes andere, das wird nicht gehen. Nicht nur, weil die Wirtschaftslage und die Finanzlage des Landes eine andere sein werden, sondern auch deswegen, weil die Pandemie eine ganze Reihe von politischen Prioritäten umgeworfen hat. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Jetzt auf Antworten aus dem Jahr 2019 zu setzen, hätte ähnliche Effekte wie die grandios daneben gegangene „Alle reden von Deutschland – wir nicht“-Kampagne, die die West-Grünen nach der Wende aus dem Bundestag kickte. Es braucht also Sensibilität dafür, wie die Stimmung im Land im Frühjahr 2021 aussehen wird. Nur weiß das jetzt noch niemand. Politik wie üblich funktioniert auch deswegen gerade nicht.
Arne Jungjohann hatte auf Twitter mit Bezug auf Carolin Emckes Corona-Tagebuch nach generationendefinierenden historischen Ereignissen gefragt. Bisher hätte ich da mit Tschernobyl geantwortet, vielleicht mit der Wende, mit der ersten rot-grünen Bundesregierung, mit 9/11 oder auch mit Fukushima und allen Folgen, auch in der baden-württembergischen Landespolitik. Gut möglich, dass das Jahr 2020 in vielen Biografien diese Ereignisse überstrahlen wird und in der Geschichte der Zukunft der Punkt sein wird, an dem das alte 20. Jahrhundert dann wirklich geendet hat.
P.S.: Apriltage mit fast 30° Celsius, viel zu wenig Regen, Dürrewarnung – die andere große Krise ist weiterhin da.