Zeit des Virus, Update XIII

Freiburg panorama

In mei­nem letz­ten Update hieß die Omi­kron-Vari­an­te noch „Ny“. Um Miss­ver­ständ­nis­se zu ver­mei­den, wur­de die­ser Virus-Vari­an­te aber weder der Name „Ny“ noch der Name „Xi“ gege­ben, son­dern erst der nach­fol­gen­de Buch­sta­be im grie­chi­schen Alpha­bet, eben „Omi­kron“. Und inzwi­schen ist Omi­kron in aller Mun­de. In eini­gen Län­dern ist die Omi­kron-Wel­le schon voll am Lau­fen – bei­spiels­wei­se in Groß­bri­tan­ni­en, in Nor­we­gen und in Däne­mark. Und wenn die Nach­rich­ten stim­men, dann gehen die Nie­der­lan­de ab heu­te Abend bis Mit­te Janu­ar in einen Lock­down – also einen rich­ti­gen – und in Lon­don wur­de der Kri­sen­fall aus­ge­ru­fen. Alles deu­tet dar­auf hin, dass Omi­kron sehr viel anste­cken­der ist, dass die Imp­fun­gen nur bedingt wir­ken (etwas bes­ser sieht es aus, wenn eine drit­te Imp­fung, ein „Boos­ter“ dazu­kommt), und dass die Gerüch­te über leich­te­re Ver­läu­fe sich nicht bestätigen. 

In Deutsch­land und auch hier in Baden-Würt­tem­berg machen die Omi­kron-Fäl­le, soweit das über­haupt erfasst wird, erst einen Bruch­teil der Fäl­le aus. Die vier­te Wel­le (Del­ta-Wel­le) hat ihren Höhe­punkt über­schrit­ten, die Neu­in­fek­tio­nen etc. gehen wie­der run­ter. Trotz­dem sind die Inzi­den­zen noch recht hoch. Wei­ter­hin gilt die Alarm­stu­fe II, die bei­spiels­wei­se Groß­ver­an­stal­tun­gen wie Weih­nachts­märk­te unter­sagt und für Geschäf­te jen­seits des täg­li­chen Bedarfs 2G vor­sieht. In den Schu­len gilt die Mas­ken­pflicht und bei Infek­tio­nen, die bei den mehr­mals in der Woche statt­fin­den­den Tests fest­ge­stellt wer­den, ein Kohortierungsprotokoll. 

Das „durf­ten“ wir dann auch aus­pro­bie­ren: da in der Klas­se unse­res Kin­des ein PCR-bestä­tig­ter Fall auf­ge­tre­ten war, wur­de die Klas­se für fünf Tage kohor­tiert, d.h. täg­lich getes­tet, das Mit­tags­band und der Nach­mit­tags­un­ter­richt wur­de gestri­chen, es gab die Emp­feh­lung, auch pri­vat auf Kon­tak­te zu ver­zich­ten und die Kin­der muss­ten die Pau­sen im Klas­sen­zim­mer ver­brin­gen. Und auch die Vari­an­te „rotes Signal in der CWA“ tauch­te in den letz­ten Wochen bei uns auf, in der Fol­ge dann ein PCR-Test (zum Glück nega­tiv) beim ande­ren Kind.

Jetzt ste­hen die Weih­nachts­fe­ri­en bevor. Also, in man­chen Bun­des­län­dern lau­fen sie schon, da wur­de der Feri­en­be­ginn vor­ver­legt. In Baden-Würt­tem­berg gab es die Mög­lich­keit, sich frei­wil­lig in Selbst­qua­ran­tä­ne zu bege­ben und die letz­ten drei Tage vor Weih­nach­ten im Fern­un­ter­richt zu ver­brin­gen. Wir haben uns dazu ent­schie­den, die­se Mög­lich­keit zu nut­zen, auch mit Blick auf Groß­el­tern­be­su­che zu Weih­nach­ten. Die Schu­le hat dazu bei allen Kin­dern abge­fragt, ob sie teil­neh­men oder nicht. In den Klas­sen der Kin­der sind es etwa 30–40 Pro­zent, die in die Selbst­qua­ran­tä­ne gehen – und in Kauf neh­men, Klas­sen­ar­bei­ten nach­schrei­ben zu müs­sen und die schu­li­schen Weih­nachts­fei­ern zu verpassen.

Aber nicht nur Weih­nach­ten steht vor der Tür, son­dern auch die fünf­te Wel­le, also die bereits erwähn­te Omi­kron-Vari­an­te. Es gibt Model­lie­run­gen, nach denen bereits vor dem Jah­res­wech­sel die Mehr­zahl der Fäl­le hier­zu­lan­de zu die­ser Vari­an­te gehö­ren könn­ten. „Unter der Decke“ der abflau­en­den Del­ta-Wel­le wür­de dann die fünf­te Wel­le bereits anwach­sen und uns kurz nach Weih­nach­ten mit vol­ler Wucht tref­fen. Damit wäre der Ver­such, die fünf­te Wel­le durch eine mög­li­che Impf­pflicht zu ver­hin­dern, gescheitert.

Die Zahl der Imp­fun­gen hat in den letz­ten Wochen noch­mals deut­lich zuge­legt. Es gibt aktu­ell sehr vie­le Mög­lich­kei­ten, sich imp­fen zu las­sen. Aller­dings sind das vor allem Boos­ter-Imp­fun­gen, also Dritt­imp­fun­gen der­je­ni­gen, die schon die ers­te und zwei­te Imp­fung hin­ter sich haben. Ich hat­te heu­te einen sol­chen Boos­ter-Ter­min im Gun­del­fin­ger Kul­tur- und Ver­eins­haus, die Imp­fun­gen haben dort die Mal­te­ser durch­ge­führt. Mit Astra­Ze­ne­ca, Biontech und Moder­na habe ich jetzt alle drei gro­ßen Impf­stof­fe mal aus­pro­biert … und hof­fe, dass das tat­säch­lich etwas bringt und die Boos­ter-Imp­fung tat­säch­lich auch im Hin­blick auf Omi­kron hilft. 

Etwa ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung ist aller­dings wei­ter­hin gar nicht geimpft. Das sind viel zu vie­le, um das Virus an der Ver­brei­tung zu hin­dern, dazu bräuch­te es (bei Del­ta) 90 Pro­zent Impf­quo­te. Im Janu­ar soll der Bun­des­tag dar­über bera­ten, ob ab März eine all­ge­mei­ne Impf­pflicht ein­ge­führt wird. Aus heu­ti­ger Sicht: viel zu spät. Und ob das kommt, ist auch noch nicht klar. Mög­li­cher­wei­se ist bis dahin der Impf­stoff an die spe­zi­el­le Struk­tur der Omi­kron-Vari­an­te ange­passt. Oder es gibt eine vier­te oder fünf­te Imp­fung für alle. Ich bin jeden­falls bei wei­tem nicht der ein­zi­ge, der nicht glaubt, dass es mit der drit­ten Imp­fung getan ist. 

Dazu, wie weit das unge­impf­te Vier­tel der Bevöl­ke­rung viel­leicht doch zu einer Imp­fung bereit wäre, gibt es unter­schied­li­che Bewer­tun­gen und Ein­schät­zung. Ein Teil wird von den bis­he­ri­gen Impf­an­ge­bo­ten ver­mut­lich schlicht nicht erreicht; viel­leicht ist auch der sozia­le Druck nicht groß genug. Da wür­de eine Impf­pflicht dann hel­fen. Ein ande­rer Teil besteht aus vehe­men­ten, zuneh­mend gewalt­be­rei­ten und ver­schwö­rungs­af­fi­nen Impfgegner*innen. Hier braut sich eine Min­der­heit zusam­men, die das sozia­le Gefü­ge extrem belas­tet – und bis in Fami­li­en und Freun­des­krei­se hin­ein für Spal­tun­gen und Kon­flik­te sorgt.

Lei­der ist eine Zutat in die­sem Gemisch eine Impf­skep­sis, wie sie von schul­me­diz­in­feind­li­cher Anthro­po­so­phie und von Freund*innen der Homöo­pa­thie genährt wur­de. Das heißt nicht, dass es nicht auch in die­sen Krei­sen inzwi­schen Per­so­nen und Unter­neh­men gibt, die sich laut­stark für eine Imp­fung ein­set­zen – viel­leicht auch, um nicht den letz­ten Rest an Ruf zu ver­lie­ren. Und es ist bedau­er­lich zu sehen, dass es durch­aus auch Krei­se gibt, die mal grün-affin waren, und jetzt via „Basis“ in die­sen Impf­skep­sis­sumpf rein­ge­rutscht sind. Die inner­grü­nen Debat­ten rund um Homöo­pa­thie, Medi­zin­ver­ständ­nis, „alter­na­ti­ve Med­zin“ und Imp­fen vor eini­gen Jah­ren wir­ken jetzt wie eine Vor­ah­nung dafür, dass es sich hier nicht nur um Mei­nun­gen han­delt, son­dern um eine Hal­tung, die aus Acht­sam­keit für das eige­ne Ich her­aus die Gefähr­dung ande­rer wil­lent­lich in Kauf nimmt.

Das geht bis hin zu Ärzt*innen, die behaup­ten zu imp­fen, aber nur Koch­salz­lö­sung benut­zen, und zu Pfle­ge­kräf­ten, die sich nicht imp­fen las­sen, Impf­päs­se fäl­schen und dann Men­schen in den Ein­rich­tun­gen, in denen sie arbei­ten, anste­cken und umbringen. 

Es sind aber, das muss dazu gesagt wer­den, bei wei­tem nicht nur die­se grün-affi­nen Krei­se, die hier wir­ken – die AfD und ande­re rech­te Par­tei­en sind eben­so freu­dig dabei, auf den Zug der Impf­skep­sis auf­zu­sprin­gen und eige­ne Ver­schwö­rungs­ele­men­te bei­zu­mi­schen. Die har­te Coro­na-Leug­nung ist dage­gen sel­te­ner zu hören, auch in den Land­tags­re­den der AfD hat sich die Ton­la­ge etwas ver­än­dert. (Bei der Gele­gen­heit: hat jemand Bedarf für ein bis drei ost­deut­sche Bun­des­län­der, gebraucht, güns­tig abzugeben?) 

Die Hoff­nun­gen aus dem Som­mer, dass die Pan­de­mie bald über­wun­den sein könn­te, haben sich jeden­falls als trü­ge­risch erwie­sen. Das zwei­te Weih­nach­ten unter Pan­de­mie­be­din­gun­gen steht an. Und eini­ges deu­tet dar­auf hin, dass die bis­he­ri­gen Kon­takt­be­schrän­kun­gen, Test­pflich­ten und Teil­nah­me­zahl­be­gren­zun­gen nur der Anfang sind und wir in eine Situa­ti­on gera­ten, in der das öffent­li­che Leben noch stär­ker her­un­ter­ge­fah­ren wer­den muss. Der Blick auf das Jahr 2022 stimmt des­halb nicht beson­ders zuver­sicht­lich. Der März 2020 ist noch immer nicht zu Ende. 

Zum Kanzler*innenwechsel

Zur Ver­ab­schie­dung von Kanz­le­rin Mer­kel mit dem „Gro­ßen Zap­fen­streich“ – ursprüng­lich wohl schlicht der Hin­weis, den Sol­da­ten kein Bier mehr aus­zu­schen­ken, jetzt ein Ritu­al, das ohne die Mer­kel­sche Musik­aus­wahl, die durch­aus zu Fan­ta­sien anreg­te (wie wäre es, die­se Mili­tär­ka­pel­le eine läng­li­che Trance-Hym­ne oder das Syn­the­si­zer­stück Axel F. spie­len zu las­sen?), das ohne die­se Musik­aus­wahl also arg mili­tä­risch und aus der Zeit gefal­len gewirkt hät­te, und das ganz klar Wei­ter­ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten bie­tet, etwa in Rich­tung kom­ple­xer geo­me­tri­scher Figu­ren – zu die­ser Ver­ab­schie­dung geis­ter­te ein Dia­gramm durch die sozia­len Net­ze, das die Amts­zeit der Kanz­le­rin im Ver­gleich zu den Per­so­nal­wech­seln an der Spit­ze ande­rer euro­päi­scher Staa­ten zeig­te. Mer­kel ist hier ganz klar die Gewin­ne­rin. Von Öster­reich wol­len wir gar nicht reden.

Der Wech­sel der Kanz­le­rin mar­kiert also durch­aus einen län­ge­ren Ein­schnitt, inso­fern mag das mili­tä­ri­sche Zere­mo­ni­ell ange­mes­sen gewe­sen sein. Dass die Kanz­le­rin dem eher sto­isch als gerührt und viel­leicht sogar ein wenig ver­lo­ren bei­wohn­te, pass­te zu die­sen unprä­ten­tiö­sen sech­zehn Jah­ren. Aber immer­hin: „Fröh­lich­keit im Her­zen“, das bleibt, und die eine oder ande­re erfolg­reich gema­nag­te Kri­se. Gleich­zei­tig sehen wir mit Erstau­nen, wie luft­leer die Uni­on ohne Kanz­le­rin aus­sieht, und ahnen, dass das nicht gut ausgeht.

Wech­sel an der Spit­ze sind also bis­her eher eine Sel­ten­heit. Auch ich habe bewusst (Schmidt zählt nicht) bis­her erst Kanzler*innen erlebt: Hel­mut Kohl, pro­vin­zi­el­ler Patri­arch, an des­sen geis­tig-mora­li­sche Wen­de hin zum Mehl­tau eine poli­ti­sche Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on wie die in den 1990er Jah­ren ent­ste­hen­de Grü­ne Jugend sich wun­der­bar rei­ben konn­te – glei­ches gilt für die (neu­en sozia­len) Bewe­gun­gen, die zwar ihren Ursprung am Ende der Kanz­ler­schaft Hel­mut Schmidts nah­men, wenn ich das rich­tig weiß, aber in der Bun­des­re­pu­blik der 1980er erst so rich­tig zur Blü­te kamen, und glei­ches gilt wohl auch für die jun­ge grü­ne Par­tei. Kohl also, von dem die Ein­heit, der Sau­ma­gen, das Schwarz­geld und die Ver­stän­di­gung über den Rhein hin­weg in Erin­ne­rung bleiben.

Dann der als Erlö­sung gefei­er­te und umju­bel­te Wahl­sieg 1998. End­lich, end­lich wür­de alles bes­ser wer­den, wür­de umge­setzt, was lan­ge ver­bo­ten war. Doch Rot-Grün hat zwar das eine oder ande­re ange­sto­ßen, gesell­schafts- wie umwelt­po­li­tisch, stand aber unter kei­nem guten Stern. Die Wie­der­ent­de­ckung der Nati­on und der frem­de Osten, ver­bun­den mit den Ver­lo­ckun­gen einer neu­en, „neo­li­be­ral“ ein­ge­färb­ten Sozi­al­de­mo­kra­tie a la Blair, mit Bas­ta von oben durch­ge­setzt vom luxus­lie­ben­den Auf­stiegs­kanz­ler Ger­hard Schröder.

Der gro­ße pro­gres­si­ve Auf­bruch blieb aus. Aus dem rot-grü­nen Pro­jekt, für das 1998 so man­che Orts­ver­ei­ne und Orts­ver­bän­de noch Schul­ter an Schul­ter gekämpft hat­ten, wur­de gegen­sei­ti­ges Miss­trau­en; grü­ne Unzu­frie­den­heit mit der Kell­ner-Rol­le, der habi­tu­ell ange­pass­te Vize Josch­ka Fischer als heim­li­cher Par­tei­vor­sit­zen­der, zu vie­le Köche in der SPD-Sup­pen­kü­che, und am Ende „der Genos­se der Bos­se“, der eine Agen­da umset­ze, an der pro­gres­si­ve Kräf­te lan­ge litten.

Das bleibt vom Schrö­der in Erin­ne­rung. Und des­sen heu­ti­gen Wirt­schafts­ak­ti­vi­tä­ten samt Putin und Co. pas­sen ins Bild.

Vor­ge­zo­ge­ne Neu­wah­len, ein miss­glück­tes Manö­ver – und dann sech­zehn lan­ge Jah­re Mer­kel. Aus grü­ner Sicht: sech­zehn Jah­re Oppo­si­ti­on im Bund, sech­zehn Jah­re bes­se­re Regie­rung sein wol­len, sech­zehn Jah­re, in denen Impul­se nur über Ban­de gesetzt wer­den konn­ten und doch manch­mal etwas bewegten.

In die­ser Zeit hat sich, mehr gedul­det als aktiv gestal­tet, Deutsch­land mas­siv ver­än­dert. Vie­les davon durch äuße­re Kri­sen pro­vo­ziert – Wirt­schafts­kri­se, Fuku­shi­ma, Kli­ma­kri­se, Flücht­lings­kri­se, und jetzt die Pan­de­mie; man­ches, etwa die „Ehe für alle“, im End­ef­fekt vor­sich­ti­ge Moder­ni­sie­rung, um nicht all­zu sehr als reak­tio­nä­re Kraft anzu­ecken, son­dern schön in der Mit­te zu blei­ben. Gemäch­lich, ab und zu dann uner­war­tet schnell reagie­rend, um dann wei­ter zu sug­ge­rie­ren, dass im Kern alles bleibt, wie es immer schon war. Das ist, wie wir jetzt sehen, mehr Mer­kel als Uni­on. Zugleich ist die­ses Prin­zip in der Pan­de­mie an sei­ne Gren­zen gestoßen.

Wenn nicht eine der Par­tei­en – die grü­ne Urab­stim­mung läuft noch – noch einen Keil dazwi­schen rammt, dann also am 8.12. die Wahl des neu­en Kanz­lers Olaf Scholz, der vier­te, den ich bewusst erlebe.

Der Koali­ti­ons­ver­trag macht deut­lich, wie viel in der Ära Mer­kel lie­gen geblie­ben ist, wie viel zu tun ist, um bloß den sta­te of the art einer zeit­ge­mä­ßen libe­ra­len Gesell­schaft zu errei­chen, die sich ange­mes­sen um die Kli­ma­kri­se, die neue Geo­po­li­tik, und und und kümmert.

Aber die Ampel hat kei­nen Jubel her­vor­ge­ru­fen, bei kei­ner der Par­tei­en. Und viel­leicht ist das ganz gut so, mit Blick auf die 1998 geweck­ten Erwar­tun­gen, die nicht ein­ge­löst wur­den. Kein Pro­jekt, son­dern ein Zweck­bünd­nis für den Fortschritt.

Kei­nen Jubel hat auch der aus grü­ner Sicht arg ver­stol­per­te Start her­vor­ge­ru­fen. Es wur­de sehr deut­lich, was vor­be­rei­tet war und was nicht; dass eini­ges von dem neu­en Geist, den Robert Habeck und Anna­le­na Baer­bock eta­blier­ten hat­ten, doch sehr flüch­tig war. Als es dar­auf ankam, bei der Per­so­nal­aus­wahl, ende­te der Ver­such einer gemein­sam agie­ren­den, inte­grie­ren­den Par­tei. Ein Vize­kanz­ler Habeck, eine Außen­mi­nis­te­rin Baer­bock – mit die­ser Trans­for­ma­ti­on haben sich Spal­tun­gen auf­ge­tan und wur­den Wun­den auf­ge­ris­sen, die die im Janu­ar neu zu wäh­len­den Par­tei­vor­sit­zen­den umtrei­ben wer­den; hier geht es um ver­lo­re­nes Ver­trau­en – neben der Neu­erfin­dung als Regie­rungs­par­tei mit allem, was dazu gehört – und das ist nicht wenig.

Und, bei Lich­te betrach­tet, die­ses Gefühl der feh­len­den Vor­be­rei­tung bezieht sich nicht nur dar­auf, die Par­tei bei den Per­so­nal­ent­schei­dun­gen nicht mit­ge­nom­men zu haben, son­dern eigent­lich auf das gan­ze Wahl­jahr. Eine gut insze­nier­te, wenn auch ein­sa­me Kür der Kan­di­da­tin; dann ein Wahl­pro­gramm­pro­zess, der mit Über­for­de­rung ver­bun­den war, und ein Wahl­kampf, der nicht reflek­tier­te, jetzt in einer neu­en Lage zu sein. Ein Par­tei­ap­pa­rat, der sich ins Ziel schlepp­te – und über­rascht war, sich in Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen wie­der­zu­fin­den, in denen immer wie­der die Inter­es­sen der SPD und der FDP näher bei­ein­an­der lagen und auch so durch­ge­setzt wur­den, allen Sel­fies zum Trotz.

Im Mit­tel­punkt ein enig­ma­ti­scher Olaf Scholz. Der zukünf­ti­ge Kanz­ler ver­steckt sich hin­ter einer ham­bur­gi­schen Mer­ke­li­mi­ta­ti­on, sagt in freund­li­chem Ton­fall wenig, und schaut demü­tig solan­ge zu, bis sei­ne Agen­da sich durch­ge­setzt hat. So jeden­falls mein bis­he­ri­ger Ein­druck – rich­tig schlau wer­de ich dar­aus nicht.

Ob die­ses ver­steck­te Füh­rungs­ver­ständ­nis aus­reicht, in einer aus­ein­an­der­stre­ben­den Koali­ti­on tat­säch­lich Auf­bruch, Respekt, Kli­ma­schutz und Fort­schritt umzu­set­zen, Grü­ne, SPD und FDP zusam­men­zu­hal­ten – wir wer­den sehen.

Es bedarf jeden­falls mehr als des nai­ven Wun­sches, das rich­ti­ge zu wol­len, um in die­ser Kon­stel­la­ti­on zu punk­ten. Das betrifft dann auch die grü­nen Akteur*innen in die­sem neu­en Spiel. Da gehört macht­po­li­ti­sche Klug­heit dazu; genau­so das Gespür dafür, dass Par­tei und Wähler*innen Erfol­ge sehen wol­len, aber eben auch kei­ne Mär­chen erzählt bekom­men möchten.

Noch ist die Bun­des­kanz­le­rin geschäfts­füh­rend im Amt, der neue Kanz­ler noch nicht gewählt. Statt Jubel ist das vor­herr­schen­de Gefühl Span­nung. Kohl wur­de 1998 nicht ver­misst, Schrö­der nach 2005 auch bald nicht mehr. Wenn es schlecht läuft, wird das bei Mer­kel anders sein.

Kurz: Aufbruch ins 21. Jahrhundert

Seit rund zwan­zig Jah­ren leben wir im 21. Jahr­hun­dert. (Und fast alle Nega­tiv­pro­gno­sen, die 1997 in WIRED ver­öf­fent­lich wur­den, sind ein­ge­trof­fen). Jetzt end­lich habe ich die Hoff­nung, dass wir eine Regie­rung bekom­men, die im 21. Jahr­hun­dert ange­kom­men ist. Ich habe den Ent­wurf des Koali­ti­ons­ver­trags noch nicht im Detail gele­sen, und bin mir sicher, dass sich neben vie­len gesellschafts‑, digi­tal- und umwelt­po­li­ti­schen Fort­schritts­mo­men­ten auch Din­ge dar­an fin­den, bei denen ich schlu­cken muss. 

Dass das Ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um an die FDP geht – und der Ver­kehrs­teil viel Kon­ti­nui­tät ent­hält, und wenig Auf­bruch – ist so etwas. In der Sum­me ist mein Ein­druck aber bis­her ein posi­ti­ver. Und zu die­sem posi­ti­ven Ein­druck hat wesent­lich auch der Sound und der Stil der Pres­se­kon­fe­renz bei­getra­gen, auf der heu­te der Koali­ti­ons­ver­trag vor­ge­stellt wur­de. Viel­leicht liegt’s dar­an, dass ich die han­sea­ti­sche Zurück­hal­tung mag. Aber ins­ge­samt war das ein Auf­takt, der ehr­lich, demü­tig und zurück­hal­tend wirk­te – und gleich­zei­tig unter dem Mot­to „Mehr Fort­schritt wagen“ den Mut aus­strahl­te, die gro­ßen Auf­ga­ben anzu­ge­hen, und dabei auch Zumu­tun­gen in Kauf zu neh­men. Viel Ver­an­ke­rung in Euro­pa, viel Kli­ma­schutz (ja!), ein Bekennt­nis zu den not­wen­di­gen Inves­ti­tio­nen, zu einem moder­nen und moder­ni­sier­ten Staat und einer viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft. Das hat mir gefallen. 

Und beein­druckt hat mich auch, dass alle Redner*innen – Scholz, Habeck, Lind­ner, Baer­bock, Wal­ter-Bor­jans, Esken – den Stil der Zusam­men­ar­beit betont haben, das gemein­sa­me, viel­leicht auch für zwei Legis­la­tur­pe­ri­oden ange­leg­te Pro­jekt, um den not­wen­di­gen Wan­del anzu­ge­hen. Es wur­de nicht ver­schwie­gen, dass es Kon­flik­te gab – und es wur­de nicht ver­schwie­gen, dass jede der drei Par­tei­en etwas auf­ge­ge­ben hat und an dem einen oder ande­ren Punkt dazu­ge­lernt hat. Poli­tik als ler­nen­des Sys­tem, in dem Feh­ler kor­ri­giert wer­den, statt sich ein­zu­gra­ben und die eige­ne Hal­tung als immer schon rich­tig zu ver­tei­di­gen – wenn das in die kom­men­de Regie­rung mit­ge­nom­men wird, dann bin ich nicht ban­ge, dass hier etwas gelin­gen kann. Mit Demut und Zurück­hal­tung statt mit Pomp und Geschrei.

Ich wer­de mir den Koali­ti­ons­ver­trag jetzt im Detail anschau­en und aus der Bewer­tung her­aus dann ent­schei­den, ob ich in unse­rer grü­nen Urab­stim­mung zustim­me. Aktu­ell bin ich heu­te jeden­falls deut­lich posi­ti­ver gestimmt als noch vor ein paar Tagen. 

Kurz zur pandemischen Lage

So ein Virus ist ziem­lich unbe­ein­druckt von poli­ti­schen Land­ge­win­nen. In den letz­ten Mona­ten haben „wir“ – Bund, Län­der, Bürger*innen – die Pan­de­mie schlei­fen las­sen. Nie­mand woll­te sich bei schein­bar nied­ri­gen Wer­ten mit Ent­schlos­sen­heit her­vor­tun und Pro­tes­te in Kauf neh­men. Auch das ist für das Virus – ins­be­son­de­re in der Del­ta-Ver­si­on – egal. Wenn nicht genü­gend Men­schen geimpft sind, brei­tet es sich aus. Und wenn dann kei­ne Kon­tak­te beschränkt wer­den, Mas­ken getra­gen, usw., brei­tet es sich schnel­ler und stär­ker aus. Egal, wer mit wel­chem Fin­ger auf wen zeigt.

Heu­te hat der Bun­des­tag das novel­lier­te Infek­ti­ons­schutz­ge­setz beschlos­sen. Eigent­lich woll­te die Ampel damit – noch vor der Eini­gung auf einen Koali­ti­ons­ver­trag, noch vor der Regie­rungs­über­nah­me – Hand­lungs­fä­hig­keit zei­gen. Her­aus­ge­kom­men ist in der ers­ten Fas­sung etwas ziem­lich juris­tisch-rea­li­täts­blin­des, in der zwei­ten Fas­sung, die jetzt abge­stimmt wur­de, ein nach­ge­bes­ser­tes Gesetz, das viel­leicht hilft, viel­leicht auch nicht. 

Dass nach­ge­bes­sert wur­de, hat etwas mit der har­ten Kri­tik der Län­der zu tun, denen die Hand­lungs­grund­la­ge ent­zo­gen wer­den soll­te, die Pan­de­mie sach­ge­recht zu bekämp­fen. Und damit, dass die Pro­gno­sen des RKI und der Virolog*innen ein­ge­trof­fen sind. Auf dem Schei­tel­punkt der vier­ten Wel­le zeigt sich, wie wich­tig mög­li­cher­wei­se auch unpo­pu­lä­re Maß­nah­men wie Lock­downs, Schul­schlie­ßun­gen und der­glei­chen mehr sein könnten. 

Das jetzt ver­ab­schie­de­te Gesetz wür­de dem enge Gren­zen set­zen, auch in der nach­ge­bes­ser­ten Version. 

Die CDU/CSU hat in die­ser Situa­ti­on sehr schnell ver­ges­sen, dass sie noch die Bun­des­re­gie­rung stellt und auch in x Län­dern an der Regie­rung ist – dar­un­ter eini­ge der in der vier­ten Wel­le am stärks­ten betrof­fe­nen. Sie zeigt jetzt mit dem Fin­ger auf die Ampel – teil­wei­se mit durch­aus berech­tig­ten Argu­men­ten – und kün­digt an, das Gesetz mor­gen im Bun­des­rat zu blockieren. 

Da fah­ren jetzt zwei Züge auf­ein­an­der zu. Sack­gas­se. Aus der Sicht der einen ist die noch gar nicht kon­sti­tu­ier­te Ampel­re­gie­rung schuld an der jet­zi­gen pan­de­mi­schen Lage, aus der Sicht der ande­ren blo­ckiert die Uni­on not­wen­di­ge Schrit­te. Am Ende lei­den wir alle dar­un­ter. Und die AfD samt Impf­geg­ner­schafts­quer­den­ker­club lacht sich ins Fäustchen.

Ich bin gera­de ehr­lich ent­täuscht. In einem Par­al­lel­uni­ver­sum wür­de die­ses Inter­re­gnum mit­ten in einer Pan­de­mie dazu genutzt, inter­frak­tio­nell, ohne Frak­ti­ons­zwang, nach den bes­ten Lösun­gen zu suchen. 

Statt des­sen wer­den schon ein­mal Grä­ben ein­ge­zo­gen. Ich weiß nicht, wer glaubt, dadurch etwas zu gewin­nen. Letzt­lich ver­lie­ren wir alle.

Und die mög­li­che neue Regie­rung steht damit unter einem schlech­ten Stern, bevor sie über­haupt einen Koali­ti­ons­ver­trag vor­ge­legt hat, bevor die sie tra­gen­den Par­tei­en über­haupt zuge­stimmt haben. Auf­bruch sieht anders aus, und ein neu­er Poli­tik­stil ist das eben­falls nicht.

P.S.: Etwas ver­söhn­li­cher sieht die Lage nach der abend­li­chen MPK aus – Mer­kel, Scholz und die MPs beto­nen die Not­wen­dig­keit eines gemein­sa­men Vor­ge­hens, Blo­cka­de im Bun­des­rat wird es nicht geben, statt des­sen Eva­lu­ie­rung und ggf. Ver­schär­fung der Maß­nah­men im Dezember.

Etwas bricht auf, oder: das Ende der Ära Merkel

Unexpected rainbow I

Ges­tern hat sich der 20. Deut­sche Bun­des­tag kon­sti­tu­iert, beglei­tet von vie­len Sel­fies und Grup­pen­fo­tos. Und selbst auf die­sen lässt sich erah­nen, dass hier etwas neu­es beginnt. Ins­be­son­de­re ist der Bun­des­tag deut­lich jün­ger und bun­ter gewor­den. Durch die nun grö­ße­ren quo­tier­ten Frak­tio­nen ist er auch etwas weib­li­cher. Es gibt eine Bun­des­tags­prä­si­den­tin, und auch vier der fünf Vizepräsident:innen sind Frauen. 

Noch ist kei­ne neue Regie­rung gewählt; die Regie­rung Mer­kel ist wei­ter geschäfts­füh­rend im Amt. Trotz­dem fühlt sich das jetzt sehr nach Auf­bruch und Neu­be­ginn an. Mit etwas Glück und Ver­hand­lungs­ge­schick kom­men die lau­fen­den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen zwi­schen den Ampel­frak­tio­nen tat­säch­lich noch vor Weih­nach­ten zu einem erfolg­rei­chen Abschluss. Und dann wür­de nach 16 Jah­ren erst­mals wie­der eine Regie­rung ohne Uni­on das Land len­ken. Auf­ga­ben und Wün­sche gibt es viele. 

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