Normale Dinge

Mit Nor­ma­li­tät ist das ja so eine Sache. Und manch­mal liegt die Ver­wechs­lung mit Nor­ma­ti­vi­tät nahe. Das soll jeden­falls schon vor­ge­kom­men sein. Was nor­mal ist, was die Norm ist, das sagen bekannt­lich wir – die nor­ma­len Leu­te. Und des­we­gen hier zehn Din­ge, die nor­mal sind.

  1. Nor­mal ist es, den All­tag so orga­ni­sie­ren, dass alle Stre­cken zu Fuß, mit dem ÖPNV oder per Rad zurück­ge­legt wer­den kön­nen und Urlaubs­zie­le nach Erreich­bar­keit auszusuchen.
  2. Nor­mal ist es, beim Ein­kau­fen nicht nur auf den Preis, son­dern auch auf Sie­gel zu ach­ten, im Win­ter kei­ne Erd­bee­ren zu kau­fen und die Bio­gur­ken lie­gen zu las­sen, wenn sie aus Spa­ni­en kommen.
  3. Nor­mal ist es, vege­ta­risch zu kochen (und die Kat­zen trotz­dem mit Fleisch zu füttern).
  4. Nor­mal (wenn auch manch­mal ziem­lich ner­vig) ist es, elek­tri­sche Gerä­te aus­zu­schal­ten, wenn sie nicht gebraucht wer­den. Und lei­der ist es auch ziem­lich nor­mal, beim Essen schnell mal eben aufs Han­dy zu schau­en, und dage­gen anzu­kämp­fen, sich davon ablen­ken zu lassen.
  5. Nor­mal ist es, Men­schen (egal ob an Super­markt­kass­sn, im beruf­li­chen Kon­text oder sonst irgend­wo, wo Kom­mu­ni­ka­ti­on statt­fin­det) freund­lich zu behandeln.
  6. Nor­mal ist es, zu allem eine Mei­nung zu haben (was nicht heißt, sie immer auch sagen zu müs­sen). Nor­mal ist es, sei­ne Mei­nung zu ändern, wenn es gute Argu­men­te dafür gibt, etwas anders zu sehen.
  7. Nor­mal ist es, nicht mehr Über­stun­den zu machen als unbe­dingt not­wen­dig und die eige­ne Zeit zwi­schen Erwerbs­ar­beit, Sor­ge­ar­beit, Ehren­amt und Zeit für eige­ne Hob­bys und Akti­vi­tä­ten gut zu verteilen.
  8. Nor­mal ist es, sich zwi­schen Eltern mög­lichst zu glei­chen Tei­len um die Kin­der zu küm­mern (und die­se mög­lichst früh auf Augen­hö­he zu behandeln).
  9. Nor­mal ist es, obsku­re Fak­ten, Bücher und Fil­me zu kennen.
  10. Nor­mal ist es, davon aus­zu­ge­hen, dass alle ande­ren genau die sel­ben Vor­stel­lun­gen von Nor­ma­li­tät haben wie man selbst.

Kurz: Die nähere Vergangenheit im Museum

In den letz­ten Wochen habe ich mir gleich zwei­mal Aus­stel­lung ange­se­hen, die sich der nähe­ren Ver­gan­gen­heit – kon­kret den 1970er und 1980er Jah­ren – wid­men. Mit mei­nem Jahr­gang, 1975, fühlt sich das etwas selt­sam an, und gefühlt ist zumin­dest der Teil, den ich bewusst erlebt habe, also so etwa die zwei­te Hälf­te der 1980er von Kohl über Tscher­no­byl bis zur deut­schen Ein­heit, doch gera­de erst gewesen.

Kon­kret: in der Würt­tem­ber­gi­schen Lan­des­bi­blio­thek Stutt­gart läuft noch bis 27. August 2023 die klei­ne, aber fein gemach­te und gut zusam­men­ge­stell­te Aus­stel­lung Atom. Strom. Pro­test. Die für die poli­ti­sche Kul­tur Baden-Würt­tem­bergs sehr prä­gen­de Debat­te um die zivi­le Nut­zung der Atom­kraft wird hier nicht nur mit Bezug auf den erfolg­rei­chen Kampf um ein AKW in Wyhl dar­ge­stellt, son­dern brei­ter gefasst. Auch die Pro-Atom-Sei­te wird aus­führ­lich gewür­digt. Das alles mit vie­len Archi­va­li­en, rele­van­ten Gegen­stän­den und anhand eini­ger Lebens­läu­fe. Die Aus­stel­lung im WLB-Neu­bau ist kos­ten­los besuch­bar. (Das Foto oben zeigt ein Mit­mach-Ele­ment: his­to­ri­sier­te Pro­test­pla­ka­te, die aller­dings für die­se Aus­stel­lung neu ent­stan­den sind.)

Im Badi­schen Lan­des­mu­se­um Karls­ru­he geht es viel brei­ter gefasst noch bis Febru­ar um die 1980er Jah­re, die „wie­der da“ sind. Trotz Ein­tritt stand hier eine lan­ge Schlan­ge vor der Kas­se. Die Aus­stel­lung im Karls­ru­her Schloss glie­dert sich in Poli­tik (natür­lich auch Atom­pro­tes­te, aber auch Frie­den und Auf­rüs­tung, Wald­ster­ben und Wie­der­ver­ei­ni­gung), Pop/Musik und All­tags­kul­tur (von Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­den bis zu Inter­rail und Pri­vat­fern­se­hen); das gan­ze dann jeweils noch mit dem BRD- und dem DDR-Blick. Die 80er sind im Muse­um ver­bun­den mit viel Nost­al­gie und der Mög­lich­keit, sich zu betei­li­gen und hier und da auch inter­ak­tiv mit­zu­ma­chen. Ziel­grup­pe: 45 bis 55-Jäh­ri­ge (und deren Kin­der). Wie­der­erken­nungs­ef­fekt: sehr groß. Inklu­si­ve: steht bei uns auch noch irgend­wo im Regal …

P.S.: Zu bei­den Aus­stel­lun­gen gibt es sehr gut gemach­te Kata­lo­ge (bei den Atom­pro­tes­ten ein Buch, die 80er aus Karls­ru­he über­zeu­gen mit einem „Maga­zin zur Aus­stel­lung“, das im Lay­out Anlei­hen an Tem­po etc. nimmt, und inhalt­lich fast bes­ser – infor­ma­ti­ver, facet­ten­rei­cher, viel­fäl­ti­ger – als die Aus­stel­lung selbst ist. Bonus: immer wie­der wird auf Frei­burg rekur­riert – und SF und Cyber­punk fin­den auch ihren Platz).

P.P.S.: Abra­ten wür­de ich dage­gen von dem in Karls­ru­he zum Ver­kauf ste­hen­den Band Das waren unse­re 80er von Chris­toph Quarch und Eve­lin König. Der wirkt zunächst wie ein hei­ter-nost­al­gi­sches Gene­ra­tio­nen­por­trait, ent­puppt sich auf der Ton­spur aller­dings als schwer aus­zu­hal­ten­de Bes­ser­wis­se­rei zur The­se der ein­zig wah­ren Gene­ra­ti­on, in der noch alles gut war … Gefühl beim Lesen: wür­de den Autor (und in zwei­ter Linie sei­ne Ko-Autorin) ger­ne laut und deut­lich auf blin­de Fle­cken, unzu­läs­si­ge Ver­all­ge­mei­ne­run­gen der eige­nen Bio­gra­fie und ein sehr schrä­ges Ver­ständ­nis der Gegen­wart hin­wei­sen. Nein, trotz viel Natur, wenig kom­ple­xen Fern­seh­pro­gram­men und Rum­hän­gen in der Cli­que war frü­her nicht alles bes­ser, und weder ADHS noch Mob­bing sind Erfin­dun­gen der Gegenwart. 

Photo of the week: BUGA Mannheim 30

BUGA Mannheim 30

 
Letz­ten Mon­tag hat­te ich die Chan­ce, die Bun­des­gar­ten­schau in Mann­heim zu besu­chen. Das lohnt sich nicht nur wegen der Seil­bahn, die die bei­den Gar­ten­schau-Flä­chen ver­bin­det (und nach Ende der BUGA lei­der wie­der abge­baut wird), son­dern auch, weil die­se BUGA ins­ge­samt sehr schön deut­lich macht, wie eine nach­hal­ti­ge und urba­ne, an Upcy­cling und Wie­der­ver­wer­tung ori­en­tier­te Ästhe­tik einer Gar­ten­schau aus­se­hen kann. Wei­te­re Fotos auf Flickr.

Ein Gedanke zur politischen Geografie

Fried­rich Merz sprach davon, dass die Uni­on eine „Alter­na­ti­ve für Deutsch­land mit Sub­stanz“ sei – ein wei­te­rer Schritt auf dem Weg von CDU und CSU zurück nach rechts; die Ablö­sung des Gene­ral­se­kre­tärs durch einen Hard­li­ner und die Erklä­rung, dass Grü­ne der Haupt­geg­ner sei­en, gehö­ren eben­falls zu die­ser Geschich­te. Eben­so wie der Vor­schlag von Thors­ten Frei, das Asyl­recht abzu­schaf­fen; rechts-offe­ne Aus­sa­gen der säch­si­schen CDU und erst recht der Söder-Popu­lis­mus-Plus-Wahl­kampf in Bay­ern. Ich schrei­be bewusst „zurück nach rechts“. Mei­ne Jugend­zeit fällt mehr oder weni­ger mit Kohls „geis­tig-mora­li­scher Wen­de“ zusam­men, und ein bay­ri­scher CSU-Poli­ti­ker namens Franz-Josef Strauß ist mir noch gut mit dem Spruch erin­ner­lich, dass rechts von der CSU nur die Wand kom­men dür­fe. „Kin­der statt Inder“ war ein Wahl­kampf­slo­gan (2000), und die Asyl­rechts­ver­schär­fun­gen in den 1990er Jah­ren wür­de ich ursäch­lich eben­so auf das Kon­to der CDU/CSU schreiben.

Also: die Uni­on bewegt sich nach rechts. In der übli­chen poli­ti­schen Geo­gra­fie aus „links“, „Mit­te“ und „rechts“ wird dadurch ein Platz in der Mit­te frei. Und es mag in der aktu­el­len Lage mit bedroh­li­chen Zustim­mungs­wer­ten für die AfD etc. nach Zweck­op­ti­mis­mus klin­gen, aber ich bin über­zeugt davon, dass durch den Rück­zug der CDU aus der mit Mer­kel breit besetz­ten poli­ti­schen Mit­te sicht­bar wird, dass die­ser Ort längst besetzt ist – und zwar durch Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Und zwar nicht durch einen Rechts­ruck und die Über­nah­me popu­lis­ti­scher Posi­tio­nen, son­dern weil es eine star­ke Reso­nanz zwi­schen einem, sagen wir, pro­gres­si­ven Bür­ger­tum des 21. Jahr­hun­derts und den poli­ti­schen Hal­tun­gen mei­ner Par­tei gibt. 

Die poli­ti­sche Geo­gra­fie ist ja höchst vola­til. Es gibt allen Kom­pas­sen und Umfra­gen zum Trotz kei­ne Null­mar­ke, die eine abso­lu­te Mit­te defi­niert. Auf Ska­len von ‑5 bis +5 wer­den die Über­zeu­gun­gen und Hal­tun­gen von Bünd­nis 90/Die Grü­nen meist „links der Mit­te“ ein­sor­tiert. Und das ist auch rich­tig so. Genau­so, wie für alle außer für die Anhänger*innen der AfD klar ist, dass die­se Par­tei ganz weit rechts auf die­ser Ska­la steht. Aber ers­tens ist das poli­ti­sche Spek­trum nicht ein­di­men­sio­nal, und zwei­tens ist die Hal­tung einer Par­tei kein Punkt. 

Wie gesagt, viel­leicht mag es Zweck­op­ti­mis­mus sein, davon aus­zu­ge­hen, dass ein gro­ßer Teil der Men­schen in Deutsch­land für Wer­te des 21. Jahr­hun­derts steht – für Welt­of­fen­heit und Tole­ranz, für eine öko­lo­gi­sche Grund­fär­bung und die Ori­en­tie­rung an Nach­hal­tig­keit, für gesell­schaft­li­che Soli­da­ri­tät und für den Zusam­men­halt. Viel­leicht ist ein grö­ße­rer Teil der Bevöl­ke­rung viel ver­ängs­tig­ter, kon­ser­va­ti­ver und ins­ge­samt schlim­mer in sei­nen Ein­stel­lun­gen, als ich das ger­ne hät­te. Aber ist das die Mit­te der Gesell­schaft? Ist das die Mit­te des poli­ti­schen Spek­trums? Oder gibt es nicht doch ein Bünd­nis der Ver­nünf­ti­gen (um nicht den „Auf­stand der Anstän­di­gen“ zu zitie­ren), einen com­mon sen­se, das es gut wäre, die wirk­lich wich­ti­gen Pro­ble­me wie den Kli­ma­wan­del gemein­sam anzu­ge­hen, sich kei­ne Angst machen zu las­sen und anstän­dig und respekt­voll mit­ein­an­der umzugehen? 

Ich gehe davon aus, dass es eine Mehr­heit gibt, die so denkt – und dass die­se Mehr­heit nicht am Rand steht, son­dern sich selbst als Mit­te der Gesell­schaft sieht. Und genau da sehe ich eine gro­ße Pas­sung zur grü­nen Pro­gram­ma­tik, zu grü­nen Grund­hal­tun­gen und nicht zuletzt zum grü­nen Per­so­nal. Aktu­ell wird das über­deckt. Vie­les liegt hin­ter Nebel­ker­zen und Rauch­bom­ben, die der­zeit bewusst und in gro­ßer Zahl gewor­fen werden. 

Wenn sich der Nebel lich­tet, wird deut­lich wer­den, dass wir längst da sind, „ick bin all hier“, wie der Igel im Wett­lauf mit dem Hasen sagt. Und dazu soll­ten wir stehen.