Individualismus der Piraten, Kollektivismus der Anderen

Single leaf

Zwi­schen @korbinian (Pira­ten), chris­ti­ans­oeder (SPD), @flo_wi (pira­ti­ger Grü­ner) und mir ent­stand gera­de eine kur­ze Twit­ter-Debat­te über die Fra­ge der Dele­ga­ti­on. Die SPD wählt ihre 600 Dele­gier­ten für den Bun­des­par­tei­tag auf Lan­des­ebe­ne. Wir Grü­ne wäh­len unse­re 800 auf Kreis­ebe­ne. Die Pira­ten ver­zich­ten (noch?) auf ein Dele­ga­ti­ons­sys­tem, auch wenn Liquid Demo­cra­cy in die Rich­tung geht. Ein ent­schei­den­der Unter­schied zwi­schen Pira­ten und ande­ren Par­tei­en ist mir genau dabei und aus die­ser Debat­te klar geworden:

Aus Sicht des an der Debat­te betei­lig­ten Pira­ten macht eine Dele­ga­ti­on aus dem Kreis­ver­band her­aus wenig Sinn:

ich den­ke halt nicht in regio­ver­bän­den son­dern indi­vi­du­ell. bin in ers­ter linie bun­despi­rat solan­ge es kei­ne welt­wei­te par­tei gibt

auf die­sen wohn­ort­ge­bun­de­nen regio­na­lis­mus hät­te ich kei­ne lust. ich will mir schon selbst aus­su­chen kön­nen wer für mich stimmt

ja, und das nervt mich ohne ende. is doch scha­de um „anders­den­ken­de“ in der regi­on. ich wohn im internet 

Ich habe das dann als Dif­fe­renz zwi­schen „Ich-Den­ke“ und „Wir-Den­ke“ bezeich­net. Was eine kla­re Reak­ti­on auslöste:

jo, „wir-den­ke“ leh­ne ich ab. ich find das schon fast faschistisch 

Die Dele­ga­ti­on der Pira­ten bei Liquid Demo­cra­cy ist eine indi­vi­du­el­le, mit der vir­tu­el­le und tem­po­rä­er Inter­es­sens­ge­mein­schaf­ten auf­ge­spannt wer­den. Die Dele­ga­ti­on der eta­blier­ten Par­tei­en ist eine regio­na­le, aus einer über den gemein­sa­men Lebens­ort geknüpf­ten Gemein­de her­aus kom­men­de. Die bei uns im Hin­ter­grund manch­mal noch wab­bern­den Räte­ge­dan­ken ändern dar­an nichts (qua­si-impe­ra­ti­ves Man­dat der Dele­gier­ten): Auch hier ist die Grup­pe, die von einem oder einer Dele­gier­ten ver­tre­ten wird, die des Kreis­ver­bands. Poli­tik ist lokal.

Ein Neben­ef­fekt davon sind inhalt­lich auf­ge­la­de­ne Regi­ons­zu­schrei­bun­gen: Der Kreis­ver­band A ist links, der Kreis­ver­band B eher rea­lo-mäßig ori­en­tiert, ist ja klar, wen die ent­sen­den und wie deren Ver­tre­te­rIn­nen abstim­men werden. 

Soweit ich weiß, dele­gie­ren inner­halb der Grü­nen im Lan­des­ver­band Ber­lin zu einem (klei­nen) Teil auch die Arbeits­ge­mein­schaf­ten. Das aus­zu­wei­ten, wäre eine Mög­lich­keit, das reprä­sen­ta­ti­ve Ver­tre­tungs­prin­zip mit einer ego­is­ti­schen Inter­es­sen­ver­tre­tung zusammenzubringen. 

Aller­dings hat die Dele­ga­ti­on aus dem KV als mög­li­cher­wei­se ganz gemischt zusam­men­ge­setz­ter Grup­pe her­aus auch Vor­tei­le: Im Ide­al­fall fin­det Wil­lens­bil­dung über poli­ti­sche Dif­fe­ren­zen dann schon auf die­ser Ebe­ne statt. Und es pral­len nicht erst auf dem Bun­des­par­tei­tag 400 Dele­gier­te der AG Kunst auf 400 Dele­gier­te der AG Netz.

War­um blog­ge ich das? Weil Tweets so flüch­tig sind, und ich die ganz unter­schied­li­chen Sich­ten auf Dele­ga­tio­nen her­vor- und auf­he­bens­wert fand.

P.S.: Die­ser Aus­schnitt aus einer Stunk­sit­zung zu Grü­nen und Pira­ten passt auch noch mit rein …

Die digitale Revolution geht auf die Straße

Heu­te durf­te ich auf der Stutt­gar­ter Stopp-ACTA-Demo für Bünd­nis 90/Die Grü­nen eine kur­ze Rede hal­ten. Da waren etwa 2500 Men­schen, wie bei der letz­ten ACTA-Demo (bei der ich in Frei­burg war) vie­le Jün­ge­re. In Stutt­gart mas­siv prä­sent waren die loka­len Pira­ten, die wohl auch die Demo orga­ni­siert haben. 

Anbei nun mein Rede­zet­tel, den ich aller­dings nicht 1:1 abge­le­sen habe. Wer lie­ber den Wort­laut der Rede sehen will, kann hier das Video davon auf You­tube anse­hen (mit Dank an Alvar Freu­de fürs Fil­men; Update 26.02.: Link korrigiert).

Lie­be Leute,

ich hat­te ja erst über­legt, ob ich es bei 140 Zei­chen belas­sen soll, aber ein biss­chen mehr habe ich schon zu sagen. Mein Name ist Till Wes­ter­may­er, bei Twit­ter unter dem Hand­le _tillwe_ zu fin­den, und ich bin heu­te hier als Ver­tre­ter von Bünd­nis 90/Die Grü­nen Baden-Würt­tem­berg. Ich über­brin­ge euch die Grü­ße und die Unter­stüt­zung der GRÜNEN in Baden-Würt­tem­berg, im Bund und in Europa!

Wir GRÜNE unter­stüt­zen die Pro­tes­te gegen ACTA. Zusam­men haben wir schon eini­ges bewegt. In vie­len euro­päi­schen Staa­ten wur­de die Unter­zeich­nung des ACTA-Abkom­mens „zurück­ge­stellt“ – was auch immer das hei­ßen mag. Die Kom­mis­si­on hat den Ent­wurf nun dem Euro­päi­schen Gerichts­hof zur Über­prü­fung vor­ge­legt. Das ist der Erfolg von uns allen, die wir gegen Abkom­men und Geset­ze wie ACTA pro­tes­tie­ren, im Par­la­ment und auf der Stra­ße. Aber die­ser Erfolg darf uns nicht täu­schen: ACTA ist noch nicht tot! 

„Die digi­ta­le Revo­lu­ti­on geht auf die Stra­ße“ weiterlesen

Der Kandidat der nationalen Einheit

1950s watering can

Frei­tag: Rück­tritt von Chris­ti­an Wulff, Sonn­tag abend: gemein­sa­me Nomi­nie­rung von Joa­chim Gauck durch FDP, CDU, CSU, SPD und uns Grü­ne. Defi­ni­tiv nicht das Ergeb­nis, das ich mir erhofft hät­te.

Zwi­schen Frei­tag und Sonn­tag lag ein trotz Fasching poli­tisch auf­ge­la­de­nes Wochen­en­de. Ich fin­de es sinn­voll, noch ein­mal auf das Ver­fah­ren und auf das Ergeb­nis einzugehen.

„Der Kan­di­dat der natio­na­len Ein­heit“ weiterlesen

Willkommen an Bord, Piraten!

City beach

„Will­kom­men an Bord“ – so kom­men­tier­te Clau­dia Roth das Ber­li­ner Wahl­er­geb­nis. Und in der Tat: in die­sem an Über­ra­schun­gen rei­chen Wahl­jahr ist den Pira­ten und den Ber­li­ner Wäh­le­rIn­nen eine wei­te­re Über­ra­schung gelun­gen. Nach den ers­ten Hoch­rech­nun­gen liegt die Pira­ten­par­tei zwi­schen 8 und 9 Pro­zent, und ist damit so deut­lich ins Abge­ord­ne­ten­haus ein­ge­zo­gen, dass mög­li­cher­wei­se die 15 Sit­ze, die die Pira­ten in Ber­lin auf­ge­stellt haben, nicht aus­rei­chen und Man­da­te leer blei­ben. Also ein groß­ar­ti­ger Ein­stieg in die Welt der Lan­des­par­la­men­te – und damit der „gro­ßen“ Politik.

Wenn ich es wagen wür­de, hier aus dem fer­nen Süd­wes­ten eine Ver­mu­tung dar­über abzu­ge­ben, war­um den Pira­ten die­ser Erfolg gelun­gen ist, dann wür­de ich sagen, dass es drei Fak­to­ren waren:

1. Ber­lin
2. Rena­te Kün­ast, oder die Schwä­che der Grünen
3. Kla­re Protestalternative

Zu 1.: Ber­lin ist unbe­strit­ten die Stadt der Digi­tal­sze­ne in Deutsch­land. Und auch wenn sämt­li­che ande­re Par­tei­en wich­ti­ge For­de­run­gen die­ses Milieus auf­ge­nom­men haben, ist hier der Reso­nanz­bo­den für eine neue, netz­po­li­tisch fokus­sier­te Bewe­gung (und Par­tei) grö­ßer als anders­wo. Ber­lin ist Stadt (und kein Flä­chen­land), Ber­lin ist arm (d.h. auch: Bür­ger­en­ga­ge­ment bedeu­tet hier was ande­res), Ber­lin ist inno­va­tiv – so unge­fähr könn­ten die Stich­wor­te lau­ten, die dazu die­nen, die­ses Bild festzustecken.

Zu 2.: Ich ken­ne noch kei­ne Wäh­ler­wan­de­rungs­ana­ly­sen, gehe aber davon aus, dass ein nicht klei­ner Teil der Pira­ten­wäh­le­rIn­nen vor eini­gen Mona­ten noch mit dem Gedan­ken gespielt hat, grün zu wäh­len. Die Grü­nen lie­gen in den ers­ten Hoch­rech­nun­gen bei etwa 18 bis 19 Pro­zent und auf Platz 3. Vor einem Jahr wäre das noch ein sen­sa­tio­nel­les Ergeb­nis gewe­sen, heu­te ist es fast schon eine gefühlt ver­lo­re­ne Wahl. Rena­te Kün­ast und der Ber­li­ner Wahl­kampf der Grü­nen schei­nen es nicht geschafft zu haben, Reso­nan­zen zum Vibe die­ser Stadt her­zu­stel­len – jeden­falls nicht in dem Maß, das z.B. für grün-rot not­wen­dig gewe­sen wäre. Viel­leicht ist vie­len – ganz ande­res als in Baden-Würt­tem­berg – auch ein­fach nicht klar genug gewor­den, was eine grü­ne Regie­ren­de Bür­ger­meis­te­rin an grund­sätz­lich Ande­rem mög­lich gemacht hätte. 

Rech­ne­risch besteht jetzt für Klaus Wowe­reit die Mög­lich­keit, Rot-grün oder Rot-schwarz als Koali­ti­on anzu­ge­hen – oder in Rich­tung eines Drei­er­bünd­nis­ses inkl. Pira­ten­par­tei zu schil­len. Letz­te­res hal­te ich für unwahr­schein­lich. Rot-grün erscheint mir per­sön­lich als die kla­re­re und poli­tisch sinn­vol­le­re Alter­na­ti­ve – dann muss aber in den nächs­ten Jah­ren klar wer­den, wo die grü­ne Linie steckt.

Kurz und knapp: Der Erfolg der Pira­ten hat auch etwas damit zu tun, dass vie­le poten­zi­el­le Wäh­le­rIn­nen letzt­lich den Pira­ten eher als uns Grü­nen den Hoff­nungs­schim­mer des neu­en und ande­rern zuge­traut haben. Da fehl­te es Rena­te Kün­ast schlicht und ein­fach an Aura und Charisma.

Zu 3.: Als drit­ten Punkt, der aus mei­ner geo­gra­phisch fer­nen Sicht den Erfolg der Pira­ten mög­lich gemacht hat, ist das brei­te Pro­gramm zu nen­nen. Die Par­tei ist nicht nur mit Netz­po­li­tik und Über­wa­chung, son­dern auch mit The­men wie Mindestlohn/Grundeinkommen, Bil­dung und quee­rer Bür­ger­rech­te in den Wahl­kampf gezo­gen – und hat sich damit als breit auf­ge­stell­te Alter­na­ti­ve prä­sen­tiert. Das scheint ange­kom­men zu sein.

Damit bleibt mir, den Pira­ten viel Erfolg im Ber­li­ner Abge­ord­ne­ten­haus zu wün­schen. Ich bin sehr neu­gie­rig dar­auf, was die Pro­fes­sio­na­li­täts- und Kon­for­mi­täts­er­war­tun­gen des poli­ti­schen Nor­mal­be­triebs mit die­ser Par­tei machen. Auch das wird ent­schei­dend dafür sein, ob es bei einem Ber­li­ner Kurio­sum bleibt, oder ob sich die Pira­ten mit dem 18.9.2011 als Start­schuss bun­des­weit auf­ma­chen, die FDP als unmo­ra­li­sche Bür­ger­rechts­par­tei abzu­lö­sen (im Gegen­satz zum bür­ger­recht­li­chen Mora­lis­mus mei­ner Partei).

War­um blog­ge ich das? Weil ich (sie­he letz­ten Blog­ein­trag) zwar mit einem Ein­zug der Pira­ten ins Abge­ord­ne­ten­haus gerech­net habe, aber nicht mit einem so ful­mi­nan­ten Einzug.

Piraten! Drei Sätze anlässlich des Wahlausgangs in Bremen

Da ist eine Kleinst­par­tei, die zwei Tage vor der Wahl in Bre­men in der natio­na­len und inter­na­tio­na­len Pres­se heiß dis­ku­tiert wird (#ser­ver­ga­te), die kurz vor­her einen in allen über­re­gio­na­len Medi­en beglei­te­ten Par­tei­tag hat­te, die in einem Umfeld antritt, in dem es ein sehr moder­nes Wahl­recht gibt, in der Kleinst­par­tei­en tra­di­tio­nell immer mal wie­der ger­ne gewählt wer­den, wo die Wahl­be­tei­li­gung nied­rig ist, in der der Wahl­aus­gang im Prin­zip schon fest­steht, so dass Pira­ten­stim­men kei­ne ver­lo­re­nen Stim­men sind, und in der sogar die 5%-Hürde durch das Bre­men/­Bre­mer­ha­ven-Prin­zip nur ein­ge­schränkt gilt – und trotz­dem holt sie (nach aktu­el­lem Stand der Hoch­rech­nun­gen) nicht mal zwei Pro­zent. Felix Neu­mann scheint recht zu haben – hier eta­bliert sich eine sta­bi­le Mini­mi­lieu­par­tei, die es aber in abseh­ba­rer Zeit nicht schaf­fen wird, lan­des­par­la­men­ta­risch zu wer­den. Die letz­te rea­lis­ti­sche Chan­ce, das in die­sem Jahr doch noch hin­zu­krie­gen, ist Ber­lin – aber ich glau­be noch nicht daran.