Zeit des Virus, Update XIII

Freiburg panorama

In mei­nem letz­ten Update hieß die Omi­kron-Vari­an­te noch „Ny“. Um Miss­ver­ständ­nis­se zu ver­mei­den, wur­de die­ser Virus-Vari­an­te aber weder der Name „Ny“ noch der Name „Xi“ gege­ben, son­dern erst der nach­fol­gen­de Buch­sta­be im grie­chi­schen Alpha­bet, eben „Omi­kron“. Und inzwi­schen ist Omi­kron in aller Mun­de. In eini­gen Län­dern ist die Omi­kron-Wel­le schon voll am Lau­fen – bei­spiels­wei­se in Groß­bri­tan­ni­en, in Nor­we­gen und in Däne­mark. Und wenn die Nach­rich­ten stim­men, dann gehen die Nie­der­lan­de ab heu­te Abend bis Mit­te Janu­ar in einen Lock­down – also einen rich­ti­gen – und in Lon­don wur­de der Kri­sen­fall aus­ge­ru­fen. Alles deu­tet dar­auf hin, dass Omi­kron sehr viel anste­cken­der ist, dass die Imp­fun­gen nur bedingt wir­ken (etwas bes­ser sieht es aus, wenn eine drit­te Imp­fung, ein „Boos­ter“ dazu­kommt), und dass die Gerüch­te über leich­te­re Ver­läu­fe sich nicht bestätigen. 

In Deutsch­land und auch hier in Baden-Würt­tem­berg machen die Omi­kron-Fäl­le, soweit das über­haupt erfasst wird, erst einen Bruch­teil der Fäl­le aus. Die vier­te Wel­le (Del­ta-Wel­le) hat ihren Höhe­punkt über­schrit­ten, die Neu­in­fek­tio­nen etc. gehen wie­der run­ter. Trotz­dem sind die Inzi­den­zen noch recht hoch. Wei­ter­hin gilt die Alarm­stu­fe II, die bei­spiels­wei­se Groß­ver­an­stal­tun­gen wie Weih­nachts­märk­te unter­sagt und für Geschäf­te jen­seits des täg­li­chen Bedarfs 2G vor­sieht. In den Schu­len gilt die Mas­ken­pflicht und bei Infek­tio­nen, die bei den mehr­mals in der Woche statt­fin­den­den Tests fest­ge­stellt wer­den, ein Kohortierungsprotokoll. 

Das „durf­ten“ wir dann auch aus­pro­bie­ren: da in der Klas­se unse­res Kin­des ein PCR-bestä­tig­ter Fall auf­ge­tre­ten war, wur­de die Klas­se für fünf Tage kohor­tiert, d.h. täg­lich getes­tet, das Mit­tags­band und der Nach­mit­tags­un­ter­richt wur­de gestri­chen, es gab die Emp­feh­lung, auch pri­vat auf Kon­tak­te zu ver­zich­ten und die Kin­der muss­ten die Pau­sen im Klas­sen­zim­mer ver­brin­gen. Und auch die Vari­an­te „rotes Signal in der CWA“ tauch­te in den letz­ten Wochen bei uns auf, in der Fol­ge dann ein PCR-Test (zum Glück nega­tiv) beim ande­ren Kind.

Jetzt ste­hen die Weih­nachts­fe­ri­en bevor. Also, in man­chen Bun­des­län­dern lau­fen sie schon, da wur­de der Feri­en­be­ginn vor­ver­legt. In Baden-Würt­tem­berg gab es die Mög­lich­keit, sich frei­wil­lig in Selbst­qua­ran­tä­ne zu bege­ben und die letz­ten drei Tage vor Weih­nach­ten im Fern­un­ter­richt zu ver­brin­gen. Wir haben uns dazu ent­schie­den, die­se Mög­lich­keit zu nut­zen, auch mit Blick auf Groß­el­tern­be­su­che zu Weih­nach­ten. Die Schu­le hat dazu bei allen Kin­dern abge­fragt, ob sie teil­neh­men oder nicht. In den Klas­sen der Kin­der sind es etwa 30–40 Pro­zent, die in die Selbst­qua­ran­tä­ne gehen – und in Kauf neh­men, Klas­sen­ar­bei­ten nach­schrei­ben zu müs­sen und die schu­li­schen Weih­nachts­fei­ern zu verpassen.

Aber nicht nur Weih­nach­ten steht vor der Tür, son­dern auch die fünf­te Wel­le, also die bereits erwähn­te Omi­kron-Vari­an­te. Es gibt Model­lie­run­gen, nach denen bereits vor dem Jah­res­wech­sel die Mehr­zahl der Fäl­le hier­zu­lan­de zu die­ser Vari­an­te gehö­ren könn­ten. „Unter der Decke“ der abflau­en­den Del­ta-Wel­le wür­de dann die fünf­te Wel­le bereits anwach­sen und uns kurz nach Weih­nach­ten mit vol­ler Wucht tref­fen. Damit wäre der Ver­such, die fünf­te Wel­le durch eine mög­li­che Impf­pflicht zu ver­hin­dern, gescheitert.

Die Zahl der Imp­fun­gen hat in den letz­ten Wochen noch­mals deut­lich zuge­legt. Es gibt aktu­ell sehr vie­le Mög­lich­kei­ten, sich imp­fen zu las­sen. Aller­dings sind das vor allem Boos­ter-Imp­fun­gen, also Dritt­imp­fun­gen der­je­ni­gen, die schon die ers­te und zwei­te Imp­fung hin­ter sich haben. Ich hat­te heu­te einen sol­chen Boos­ter-Ter­min im Gun­del­fin­ger Kul­tur- und Ver­eins­haus, die Imp­fun­gen haben dort die Mal­te­ser durch­ge­führt. Mit Astra­Ze­ne­ca, Biontech und Moder­na habe ich jetzt alle drei gro­ßen Impf­stof­fe mal aus­pro­biert … und hof­fe, dass das tat­säch­lich etwas bringt und die Boos­ter-Imp­fung tat­säch­lich auch im Hin­blick auf Omi­kron hilft. 

Etwa ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung ist aller­dings wei­ter­hin gar nicht geimpft. Das sind viel zu vie­le, um das Virus an der Ver­brei­tung zu hin­dern, dazu bräuch­te es (bei Del­ta) 90 Pro­zent Impf­quo­te. Im Janu­ar soll der Bun­des­tag dar­über bera­ten, ob ab März eine all­ge­mei­ne Impf­pflicht ein­ge­führt wird. Aus heu­ti­ger Sicht: viel zu spät. Und ob das kommt, ist auch noch nicht klar. Mög­li­cher­wei­se ist bis dahin der Impf­stoff an die spe­zi­el­le Struk­tur der Omi­kron-Vari­an­te ange­passt. Oder es gibt eine vier­te oder fünf­te Imp­fung für alle. Ich bin jeden­falls bei wei­tem nicht der ein­zi­ge, der nicht glaubt, dass es mit der drit­ten Imp­fung getan ist. 

Dazu, wie weit das unge­impf­te Vier­tel der Bevöl­ke­rung viel­leicht doch zu einer Imp­fung bereit wäre, gibt es unter­schied­li­che Bewer­tun­gen und Ein­schät­zung. Ein Teil wird von den bis­he­ri­gen Impf­an­ge­bo­ten ver­mut­lich schlicht nicht erreicht; viel­leicht ist auch der sozia­le Druck nicht groß genug. Da wür­de eine Impf­pflicht dann hel­fen. Ein ande­rer Teil besteht aus vehe­men­ten, zuneh­mend gewalt­be­rei­ten und ver­schwö­rungs­af­fi­nen Impfgegner*innen. Hier braut sich eine Min­der­heit zusam­men, die das sozia­le Gefü­ge extrem belas­tet – und bis in Fami­li­en und Freun­des­krei­se hin­ein für Spal­tun­gen und Kon­flik­te sorgt.

Lei­der ist eine Zutat in die­sem Gemisch eine Impf­skep­sis, wie sie von schul­me­diz­in­feind­li­cher Anthro­po­so­phie und von Freund*innen der Homöo­pa­thie genährt wur­de. Das heißt nicht, dass es nicht auch in die­sen Krei­sen inzwi­schen Per­so­nen und Unter­neh­men gibt, die sich laut­stark für eine Imp­fung ein­set­zen – viel­leicht auch, um nicht den letz­ten Rest an Ruf zu ver­lie­ren. Und es ist bedau­er­lich zu sehen, dass es durch­aus auch Krei­se gibt, die mal grün-affin waren, und jetzt via „Basis“ in die­sen Impf­skep­sis­sumpf rein­ge­rutscht sind. Die inner­grü­nen Debat­ten rund um Homöo­pa­thie, Medi­zin­ver­ständ­nis, „alter­na­ti­ve Med­zin“ und Imp­fen vor eini­gen Jah­ren wir­ken jetzt wie eine Vor­ah­nung dafür, dass es sich hier nicht nur um Mei­nun­gen han­delt, son­dern um eine Hal­tung, die aus Acht­sam­keit für das eige­ne Ich her­aus die Gefähr­dung ande­rer wil­lent­lich in Kauf nimmt.

Das geht bis hin zu Ärzt*innen, die behaup­ten zu imp­fen, aber nur Koch­salz­lö­sung benut­zen, und zu Pfle­ge­kräf­ten, die sich nicht imp­fen las­sen, Impf­päs­se fäl­schen und dann Men­schen in den Ein­rich­tun­gen, in denen sie arbei­ten, anste­cken und umbringen. 

Es sind aber, das muss dazu gesagt wer­den, bei wei­tem nicht nur die­se grün-affi­nen Krei­se, die hier wir­ken – die AfD und ande­re rech­te Par­tei­en sind eben­so freu­dig dabei, auf den Zug der Impf­skep­sis auf­zu­sprin­gen und eige­ne Ver­schwö­rungs­ele­men­te bei­zu­mi­schen. Die har­te Coro­na-Leug­nung ist dage­gen sel­te­ner zu hören, auch in den Land­tags­re­den der AfD hat sich die Ton­la­ge etwas ver­än­dert. (Bei der Gele­gen­heit: hat jemand Bedarf für ein bis drei ost­deut­sche Bun­des­län­der, gebraucht, güns­tig abzugeben?) 

Die Hoff­nun­gen aus dem Som­mer, dass die Pan­de­mie bald über­wun­den sein könn­te, haben sich jeden­falls als trü­ge­risch erwie­sen. Das zwei­te Weih­nach­ten unter Pan­de­mie­be­din­gun­gen steht an. Und eini­ges deu­tet dar­auf hin, dass die bis­he­ri­gen Kon­takt­be­schrän­kun­gen, Test­pflich­ten und Teil­nah­me­zahl­be­gren­zun­gen nur der Anfang sind und wir in eine Situa­ti­on gera­ten, in der das öffent­li­che Leben noch stär­ker her­un­ter­ge­fah­ren wer­den muss. Der Blick auf das Jahr 2022 stimmt des­halb nicht beson­ders zuver­sicht­lich. Der März 2020 ist noch immer nicht zu Ende. 

Die erste digitale Bundesdelegiertenkonferenz – Abstimmungsmarathon um unsere Grundwerte

#dbdk20

20 Jah­re nach dem ers­ten vir­tu­el­len Par­tei­tag und ein hal­bes Jahr nach der gro­ßen Schalt­kon­fe­renz, dem digi­ta­len Län­der­rat, tag­te an die­sem Wochen­en­de die grü­ne Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz (BDK) digi­tal. Hash­tag #dbdk20. Coro­na macht’s mög­lich – und gleich­zei­tig lässt sich fest­stel­len: so eine digi­ta­le BDK ist fast genau­so anstren­gend wie zwei­ein­halb Tage in irgend­ei­ner Mes­se­hal­le zu sit­zen, dort Reden zu lau­schen, kon­zen­triert abzu­stim­men und neben­bei noch den einen oder ande­ren Plausch zu hal­ten. Die Hin- und Rück­fahrt ent­fällt, aber das macht das feh­len­de Wochen­en­de auch nicht wett.

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Warum es sich lohnen könnte, dafür zu kämpfen, Politik an wissenschaftlichen Fakten auszurichten

Die Stär­ke der neu­en Kli­ma­be­we­gung kann aus zwei Ursa­chen abge­lei­tet wer­den. Das eine ist sicher­lich die zuneh­men­de Sicht­bar­keit und damit Dring­lich­keit des Kli­ma­wan­dels. Das ande­re ist, dass wir es hier mit wohl mit der ers­ten Bewe­gung zu tun haben, die Hand­lungs­be­darf schlicht aus Phy­sik ablei­tet. Es sind kei­ne theo­re­ti­schen Über­le­gun­gen, kein revo­lu­tio­nä­rer Über­bau, es ist schlicht die gut erforsch­te Wir­kung der Treib­haus­ga­se in der Atmo­sphä­re mit allen Kon­se­quen­zen für das Kli­ma­sys­tem, die hier zum poli­ti­schen Impuls ver­dich­tet wor­den sind. 

(Natur-)wissenschaftliche Wahr­heit als Grund­la­ge einer poli­ti­schen Bewe­gung – das ist neu. Übri­gens auch im Ver­gleich zu der bloß behaup­te­ten Wis­sen­schaft­lich­keit des Mar­xis­mus-Leni­nis­mus, bei dem im Kern der Argu­men­ta­ti­on eben nicht beweis­ba­re und dem wis­sen­schaft­li­chen Pro­zess offe­ne Fak­ten lagen, son­dern ein auf Sand errich­te­tes Gedankengebäude. 

Mit Fak­ten lässt sich nicht dis­ku­tie­ren. Dar­in liegt die Stär­ke, dar­in liegt aber auch eine gro­ße Schwä­che der Kli­ma­be­we­gung. Denn die blo­ße Fest­stel­lung, dass zur Begren­zung der Erd­er­wär­mung ein maxi­ma­les CO2-Bud­get für die Mensch­heit ver­braucht wer­den darf, ist aber noch kei­ne poli­ti­sche Hand­lungs­an­wei­sung. Zudem ent­zieht sich die natur­wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit auch inso­fern dem Poli­ti­schen, als damit eine Redu­zie­rung auf Null oder Eins nahe liegt. Das erleich­tert radi­ka­le For­de­run­gen. Ent­we­der schafft die Mensch­heit – bis­her kein han­deln­der Akteur – es, das CO2-Bud­get ein­zu­hal­ten, oder sie schafft es nicht, und löst damit mit hoher Wahr­schein­lich­keit Kipp­punk­te aus. Das liegt quer zum Modus des Kom­pro­mis­ses. Ein Tref­fen in der Mit­te gibt es nicht, wenn 2,2 Grad Erd­er­hit­zung in ihren Kon­se­quen­zen genau­so dra­ma­tisch sind wie ein Plus von drei oder vier Grad.

Der Anspruch, den die Kli­ma­be­we­gung an die Poli­tik stellt, muss also zwangs­läu­fig ein radi­ka­ler sein. Ent­spre­chend hoch ist die Fallhöhe.

Das ist der eine Teil der Her­aus­for­de­rung. Der ande­re besteht dar­in, die heu­te not­wen­di­gen Maß­nah­men, um die­ses Ziel zu errei­chen, zu fin­den und zu ver­han­deln, demo­kra­ti­sche Mehr­hei­ten dafür zu suchen und in kur­zer Zeit einen Weg zu fin­den, das inter­na­tio­na­le Abkom­men von Paris ins­be­son­de­re in den zehn oder zwan­zig Staa­ten mit den größ­ten Treib­haus­gas­emis­sio­nen umzusetzen.

Das his­to­ri­sche Fens­ter hier­für – eine hohe Akzep­tanz für Kli­ma­schutz­maß­nah­men in der Bevöl­ke­rung, Druck von der Stra­ße, brei­te Mehr­hei­ten im Par­la­ment – hat die Bun­des­re­gie­rung aus CDU, CSU und SPD nicht genutzt.

Ent­spre­chend hoch ist der Druck auf die Par­tei, die sich schon immer durch hohe Kom­pe­tenz­zu­schrei­bun­gen in öko­lo­gi­schen Fra­gen aus­zeich­net, also auf Bünd­nis 90/Die Grü­nen: zwi­schen Phy­sik und Poli­tik zu ver­mit­teln, und dabei weder die Demo­kra­tie noch das Welt­kli­ma vor die Hun­de gehen zu las­sen – das scheint die Auf­ga­be zu sein, die jetzt der kleins­ten Bun­des­tags­frak­ti­on zuwächst. 

(Und ja, es gibt Län­der­re­gie­run­gen mit grü­ner Betei­li­gung, und ja, es gibt die grün-geführ­te Regie­rung in Baden-Würt­tem­berg – aber zu den Regeln des Poli­ti­schen gehört eben auch, dass ein gro­ßer Teil der für das Pari­ser Kli­ma­ziel not­wen­di­gen Maß­nah­men in Bun­des­kom­pe­tenz lie­gen wür­den, und das der Bun­des­rat ein Gre­mi­um ist, das Geset­ze ver­zö­gern oder auf­hal­ten kann, aber kaum selbst gestal­te­risch tätig wer­den kann.) 

In die­ser Situa­ti­on bricht nun eine inner­grü­ne Debat­te über evi­denz­ba­sier­te Poli­tik los. Zur Unzeit? 

„War­um es sich loh­nen könn­te, dafür zu kämp­fen, Poli­tik an wis­sen­schaft­li­chen Fak­ten aus­zu­rich­ten“ weiterlesen

Homöopathie und die Deutsche Bahn im Sommerloch

Vor­ne­weg: Die­se Woche gibt es unge­fähr drei Din­ge, die eine Dead­line haben; des­we­gen kann ich das fol­gen­de Argu­ment nicht wirk­lich aus­führ­lich dar­le­gen. Trotz­dem kann ich sowohl das Pro­blem der Bahn mit ihren ICEs als auch die anschwel­len­de Homöo­pa­thie­de­bat­te nicht ganz außen vor las­sen – das juckt doch in den Fin­gern … und ist deut­lich län­ger gewor­den als geplant. 

Powerful buttons

Zur Bahn-Debat­te: Ich fah­re gern und viel Bahn, trotz­dem oder gera­de des­we­gen fin­de ich das Kri­sen­ma­nage­ment der Bahn bedenk­lich. Letzt­lich geht’s um die Fra­ge, wie­viel tech­ni­sche Red­un­danz – ein gro­ßes Sicher­heits­merk­mal der Eisen­bahn – weg­op­ti­miert wer­den kann, um betriebs­wirt­schaft­lich erfolg­reich zu sein. Darf ein für ein geschlos­se­nes Sys­tem im Extrem­fall lebens­not­wen­di­ges Teil wie eine Kli­ma­an­la­ge so gestal­tet sein, dass sie aus­fal­len kann? Oder muss ein Aus­fall­ri­si­ko hin­ge­nom­men wer­den – und was ist dann jen­seits der Tech­nik zu tun (War­tungs­in­ter­val­le, ein Wagen­park, der groß genug ist, um Ersatz­zü­ge bereit­zu­stel­len …)? Wie das gan­ze poli­tisch ein­zu­schät­zen ist, ver­rät Win­ne Her­mann MdB in einem Inter­view mit tagesschau.de.

Etwas all­ge­mei­ner: wie muss ein gro­ßes tech­ni­sches Sys­tem, eine Infra­struk­tur, gestal­tet und regu­liert sein, um auch bei Win­ter­wet­ter und Hoch­som­mer­hit­ze zu funktionieren?

Zum The­ma Homöo­pa­thie: Unter gro­ßem Bei­fall der Natur­wis­sen­schafts­com­mu­ni­ty brin­gen SPD und cDU die Idee ins Spiel, Homöo­pa­thie aus dem Leis­tungs­ka­ta­log der Kran­ken­kas­sen zu strei­chen. Rena­te Kün­ast macht die Sache nicht bes­ser, indem sie Homöo­pa­thie und Natur­heil­kun­de gleich­setzt. Auf Twit­ter hau­en sich die Leu­te kräf­tig die Köp­fe ein – Fak­ten fin­de ich nur weni­ge. (Ja, es gibt hun­der­te Stu­di­en, dass Homöo­pa­thie nicht funk­tio­niert, und es gibt viel­fäl­ti­ge Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en von Leu­ten, die trotz­dem möch­ten, dass die Kran­ken­kas­sen Homöo­pa­thie bezah­len*). Aber das mei­ne ich nicht. Viel­mehr ist die eigent­li­che Fra­ge doch ers­tens, wie groß das Ein­spar­po­ten­zi­al eigent­lich ist, über das hier gere­det wird – es hat ja sei­nen Grund, war­um die­se Debat­te gera­de im begin­nen­den Som­mer­loch auf­bricht. Rich­tig hand­fes­te Zah­len sind schwer zu fin­den, es scheint sich aber um unge­fähr 1 bis 5% des Kran­ken­kas­sen­bud­gets zu handeln.

Und zwei­tens geht es für mich auch um die Beob­ach­tung, dass hier unter­schied­li­che Logi­ken auf­ein­an­der pral­len. Die eine Sei­te sieht sich im Besitz der wis­sen­schaft­li­chen Wahr­heit, das heißt sie ope­riert im Bezugs­sys­tem Wis­sen­schaft mit der Unter­schei­dung wahr/falsch, um den guten alten Luh­mann her­aus­zu­ho­len. In die­ser Logik ist „klar“, dass Homöo­pa­thie falsch ist, und des­we­gen kein ratio­nal den­ken­der Mensch auf die Idee kom­men könn­te, dafür öffent­li­che Leis­tun­gen ein­zu­for­dern. Die­se Posi­ti­on wird ganz gut vom heu­ti­gen xkcd-Comic illustriert:


Quel­le: xkcd, Lizenz

Poli­tik ope­riert nicht im Phi­lo­so­phen­kö­nig-Modus wahr/falsch, son­dern im Medi­um Macht. Und auch die öffent­li­che Mei­nung (das Sys­tem der Mas­sen­me­di­en) hat ande­re Leit­dif­fe­ren­zen. Von der Wirt­schaft – und den Kran­ken­kas­sen als Orga­ni­sa­ti­ons­sys­te­men – gar nicht erst zu spre­chen (Zahlung/keine Zah­lung). Inso­fern fin­de ich es über­haupt nicht ver­wun­der­lich, dass die natur­wis­sen­schaft­li­che Logik eben nicht 1:1 in Poli­tik umge­setzt wird. ((Wer sich umschaut, wird eine gan­ze Rei­he von Bele­gen dafür fin­den, dass auch vie­le ande­re poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen irra­tio­nal sind.))

Oder noch ein­mal anders ange­setzt, und Luh­mann bei­sei­te gelas­sen: wir kön­nen auch unter­schei­den zwi­schen dem wis­sen­schaft­li­chen Wis­sen, in dem es Mög­lich­kei­ten gibt, die Wirk­sam­keit von Homöo­pa­thie zu tes­ten, dem „eso­te­ri­schen“ Wis­sen der Homöo­pathIn­nen selbst – und dem All­tags­wis­sen der Men­schen, die davon über­zeugt sind, dass Homöo­pa­thie ihnen hilft (war­um auch immer sie davon über­zeugt sind: auch das All­tags­wis­sen von Men­schen folgt eben nicht der wis­sen­schaft­li­chen wahr/­falsch-Logik, son­dern lässt sich zunächst ein­mal ein­fach nur so beschrei­ben, wie es eben ist bzw. wie es sich eben beob­ach­ten lässt). 

Inso­fern Poli­tik auf Wah­len rekur­riert, ist das die popu­lis­ti­sche Fra­ge danach, ob ein Ver­bot von Homöo­pa­thie als (Zusatz-)Kassenleistung anschluss­fä­hig an das All­tags­wis­sen ist. Ich ver­mu­te: eher nein. Es ist daher auch die Fra­ge nach dem Pro­jekt der Auf­klä­rung: wie wis­sen­schaft­li­che Ratio­na­li­tät ins All­tags­wis­sen brin­gen. Und es ist nicht zuletzt die Fra­ge danach, wie­so die­se Debat­te gera­de jetzt eini­gen Poli­ti­ke­rIn­nen als hin­rei­chend anschluß­fä­hig erscheint, um sie in Gang zu brin­gen. (Und wie­so gera­de die­se, und kei­ne der ande­ren vie­len mög­li­chen Debat­ten um Unzu­läng­lich­kei­ten des Gesundheitssystems).

Aber ich schwei­fe ab: Was hat nun das groß­tech­ni­sche Sys­tem Bahn und die sozio­tech­ni­schen Pro­ble­me, die eine Aus­rich­tung an öko­no­mi­scher Logik mit sich brin­gen, mit der Homöo­pa­thie-Debat­te zu tun? Ich sehe eine Gemein­sam­keit, und die liegt letzt­lich in den Lücken. Mit der Fra­ge nach der sozio­tech­ni­schen Red­un­danz ist das für die Bahn schon ange­spro­chen: wie groß sind die Spiel­räu­me, um auf Feh­ler reagie­ren zu kön­nen? Gibt es Ersatz­sys­te­me? Gibt es Ersatz­zü­ge? Sehen die Fahr­plä­ne so aus, dass auch ein anhal­ten­der Zug nicht gleich alles durch­ein­an­der bringt? Je fes­ter gekop­pelt das Sys­tem ist, um das mal so zu sagen, des­to wahr­schein­li­cher ist die Gefahr eines Aus­falls, wenn etwas ausfällt.

Auch unse­re Kran­ken­kas­sen sind eine Infra­struk­tur, ein gro­ßes (sozio-)technisches Sys­tem. Noch dazu eines, das extrem schwer­fäl­lig zu steu­ern und zu ver­än­dern ist. Auch hier kann über die Neben­ef­fek­te betriebs­wirt­schaft­li­cher Effi­zi­enz dis­ku­tiert wer­den (u.a. im Bereich Pfle­ge, aber auch im Hin­blick auf die For­ma­li­sie­rung von Hand­lun­gen durch infor­ma­ti­ons­tech­ni­sche Abrech­nungs­sys­te­me – und deren Kon­se­quen­zen). Aber die eigent­li­che Gemein­sam­keit in den Lücken, die ich sehe, ist eine ande­re: Wie weit darf sich das Sys­tem von Ide­al­pa­ra­me­tern (Wet­ter ohne Extrem­ereig­nis­se, Bezah­lung nur des neu­es­ten Stan­des der Wis­sen­schaft) ent­fer­nen, um noch zu funk­tio­nie­ren? Wie­viel Spiel­raum für „Quatsch“ ist not­wen­dig, um ein weit­ge­hend rei­bungs­lo­ses Funk­tio­nie­ren des Gesamt­sys­tems zu ermög­li­chen? Wie­viel Res­sour­cen dür­fen „ver­schwen­det“ wer­den (in Red­un­dan­zen, in wohl wir­kungs­lo­se Therapien)?

Die wis­sen­schaft­lich-wah­re Ant­wort der Öko­no­mie lau­tet ver­mut­lich: kei­ne. Aber ein Just-in-time-Sys­tem ist stör­an­fäl­lig. Inso­fern kann ich mir vor­stel­len, dass das Gesund­heits­sys­tem sei­ne Leis­tung bes­ser erbringt, wenn ein gewis­ses Maß – 5%, 10% – an Spiel­raum, an Red­un­dan­tem, gar an Aber­glau­ben vor­han­den ist. Da passt Homöo­pa­thie rein, da passt auch nicht­ab­rech­nungs­fä­hi­ge Gesprächs­zeit rein. 

Natür­lich hilft einem die Öff­nung von Spiel­räu­men nicht bei poli­ti­schen Grund­satz­fra­gen wei­ter. Es ist gut mög­lich, dass Homöo­pa­thie wis­sen­schaft­lich weit­ge­hend wider­leg­bar ist, oder dass der eigent­li­che Wirk­me­cha­nis­mus bei denen, die glau­ben, dass das funk­tio­niert, das Gespräch mit den Ärz­tIn­nen und letzt­lich die Über­zeu­gung sind, dass es wirkt.

Inso­fern ende ich mit einem etwas para­do­xen Plä­doy­er: Dafür, einer­seits einen gewis­sen Spiel­raum für (schein­ba­ren?) Unsinn, für Feh­ler zuzu­las­sen, ande­rer­seits die­sen aber auch zu begren­zen. Spiel­raum für Feh­ler bei der groß­tech­ni­schen Infra­stru­kur Bahn heißt: den Fahr­plan nicht gleich durch­ein­an­der brin­gen, wenn tech­ni­sche Kom­po­nen­ten aus­fal­len. Also (mög­li­cher­wei­se mit prä­zi­ser Tech­nik unter­stütz­te) Feh­ler­to­le­ranz statt Abhän­gig­keit von der Prä­zi­si­on. Aber in Maßen: die Attrak­ti­vi­tät des Ver­kehrs­sys­tems Bahn hängt ja auch davon ab, dass die­se pünkt­lich ist, dass die­se stan­dar­di­siert und „prä­zi­se“ genutzt weren kann.

Spiel­raum für Feh­ler beim Gesund­heits­sys­tem heißt: sich damit abfin­den, dass medi­zi­ni­sche Prak­ti­ken nicht durch­gän­gig wis­sen­schaft­lich sind (auch in der All­o­pa­thie gibt es da ver­mut­lich bei genau­em Hin­se­hen viel an nicht­wis­sen­schaft­li­chem Wis­sen in der Wis­sen­schaft). Ein opti­mier­tes und finan­zi­ell trag­fä­hi­ges Sys­tem schaf­fen, aber nicht um den Preis, jeg­li­che lose Kopp­lung aus­zu­mer­zen und jeg­li­che Pra­xis zu stan­dar­di­sie­ren. Und auch hier: die Begren­zung der Feh­ler­to­le­ranz im Sin­ne einer poli­ti­schen Regu­lie­rung der Gren­zen (aber eben bit­te nicht zu eng). 

Das wäre jeden­falls, so mei­ne ich zumin­dest, ein sozio­lo­gisch-wah­res Wis­sen über gesell­schaft­li­che Sys­te­me und deren Gestal­tung. Um das para­do­xe Plä­doy­er abzu­schlie­ßen: es geht dar­um, die­ses Wis­sen eben auch zur Kennt­nis zu neh­men, es anzu­wen­den, sich bewusst zu sein, dass es auch bei der Anwen­dung sozio­lo­gi­schen Wis­sens Neben­ef­fek­te gibt – und trotz­dem wei­ter­hin für Auf­klä­rung zu kämp­fen (aber eben nicht über die Köp­fe der Leu­te hinweg).

War­um blog­ge ich das? Weil ich ver­su­chen woll­te, mein Unbe­ha­gen an der und mei­ne ambi­va­len­te Posi­ti­on in der Homöo­pa­thie-Debat­te irgend­wie auf den Punkt zu brin­gen. Wer möch­te, darf’s aber auch als schlich­ten Ver­such lesen, die Exis­tenz eso­te­ri­scher Wis­sens­be­stän­de im grü­nen Pro­gramm zu rationalisieren.

* Die Homöo­pa­thie-Debat­te hat auch einen inner­grü­nen Aspekt – dazu habe ich vor einem Jahr was gebloggt; inter­es­sant ist vor allem die Debat­te in den Kommentaren.

P.S.: Wer sich eher für Infra­struk­tu­ren als sozio­tech­ni­sche Netzwerke/Systeme denn für die Homöo­pa­thie-Debat­te inter­es­siert, soll­te bei ihld weiterlesen.

Zehn Dinge, die ich am Wochenende getan habe (und zwei, die ich nicht getan habe)

mosaik

Hier sind zehn Din­ge, die ich an die­sem Wochen­en­de getan habe:

1. Ich bin ziem­lich viel Zug gefah­ren – ins­ge­samt so an die 15 Stun­den. Und dank der taz über­wie­gend in der ers­ten Klas­se. Die sich von der zwei­ten dadurch unter­schei­det, dass sie lee­rer ist, dass Zei­tun­gen aus­le­gen, dass zwi­schen den Sit­zen mehr Abstand ist – und dass es schwie­ri­ger ist, beim Zug­fah­ren zu arbei­ten, weil der Abstand zwi­schen Sitz und Tisch zu groß ist.
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