Drei Gedanken anlässlich der Niedersachsenwahl

Die Schlacht ist geschla­gen, das Umfra­gen­patt gera­de noch ein­mal abge­wen­det – Ende gut, alles gut?

1. Wir leben in einem tief gespal­te­nen Land. Ja, mit ein paar Pünkt­chen weni­ger für Pira­ten oder LINKE wäre es kla­rer aus­ge­gan­gen, ja, ohne Stein­brück-Fak­tor wäre es kla­rer aus­ge­gan­gen – aber sicht­bar wird doch, dass zwi­schen „Mehr­heits­la­ger“ und „Min­der­heits­la­ger“ bei denen, die über­haupt zur Wahl gehen, nur eine knap­pe Dif­fe­renz liegt. Das macht Wahl­aben­de span­nend. Mit einer kla­ren! Bevöl­ke­rungs­mehr­heit für eine pro­gres­si­ve Poli­tik wäre mir aller­dings deut­lich woh­ler, als mit, böse gesagt, Zufalls­mehr­hei­ten in Abhän­gig­keit von Beson­der­hei­ten des Wahl­sys­tems. Anders gesagt: Mehr denn je muss pro­gres­si­ve Poli­tik um so etwas wie eine gesell­schaft­li­che Hege­mo­nie kämp­fen, um jen­seits von zeit­geis­ti­gen Stim­mungs­schwan­kun­gen die gro­ßen Trans­for­ma­ti­ons­pro­jek­te umset­zen zu kön­nen. Dafür braucht es, neben­bei gesagt, nicht nur The­men, son­dern auch Köp­fe – mit der rich­ti­gen Art Kantigkeit.

2. Nie­der­sach­sen gewon­nen, aber den Bun­des­tag noch lan­ge nicht. Denn da wird nie­mand mit einer Ein­stim­men­mehr­heit regie­ren wol­len, und da gibt es noch das klei­ne Pro­blem LINKE – selbst wenn die­se „nur“ als ost­deut­sche Regio­nal­par­tei gewählt wird, wird sie sehr wahr­schein­lich im nächs­ten Bun­des­tag sit­zen. Solan­ge die SPD hier jede Zusam­men­ar­beit kate­go­risch aus­schließt, ist die LINKE ein zusätz­li­ches Han­dy­cap dafür, eine pro­gres­si­ve Gestal­tungs­mehr­heit im Bun­des­tag zu bekom­men. Bis zum Herbst kann sich noch viel ändern – aber zumin­dest im Moment sieht alles nach Gro­ßer Koali­ti­on in Ber­lin aus (wenn nicht gar Mer­kel-Rös­ler ihre Arbeit fort­set­zen kön­nen …). Kei­ne schö­nen Aussichten!

3. Die SPD ver­sucht der­zeit, uns Grü­ne in den Lager­wahl­kampf ein­zu­glie­dern – etwa wenn Sig­mar Gabri­el an ihn gerich­te­te Fra­gen gleich mal für uns mit­be­ant­wor­tet. Rot-Grün ist das inhalt­lich nahe­lie­gends­te Bünd­nis; den­noch soll­ten wir mehr denn je Wert auf grü­ne Eigen­stän­dig­keit legen. Wir sind nicht die FDP der SPD, son­dern eine Par­tei mit klu­gen Kon­zep­ten, für die wir in den letz­ten Jah­ren zuneh­mend geschlos­sen und zuneh­mend erfolg­reich kämp­fen. Eigen­stän­dig­keit heißt nicht Äqui­di­stanz, son­dern Eigen­stän­dig­keit heißt, dass wir uns The­men und Stra­te­gien des Wahl­kampfs nicht von der SPD vor­ge­ben las­sen. Das betrifft übri­gens auch das Ver­hält­nis Erst- und Zweit­stim­men – ich erin­ne­re mich noch gut an eine Bun­des­tags­wahl, bei der aus einem grün unter­stütz­ten Wahl­kreis­kan­di­dat der SPD, der die Gro­ße Koali­ti­on hef­tigst aus­ge­schlos­sen hat­te, ein Staats­mi­nis­ter eben die­ser Koali­ti­on wur­de. Für mich heißt das bei­spiels­wei­se auch: Erst­stim­men­de­als in Zukunft nur auf Gegenseitigkeit.

War­um blog­ge ich das? Weil ich glau­be, dass das eini­ge kniff­li­ge Fra­gen sind, denen wir uns stel­len müs­sen – auch wenn es kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten dar­auf gibt.

Das Interview

Ich habe ja eine blü­hen­de poli­ti­sche Fan­ta­sie (und außer­dem ges­tern zuviel Bor­gen geschaut), des­we­gen kann ich mir leb­haft vor­stel­len, wie das mit der FAZ-Inter­view mit Peer Stein­brück wirk­lich abge­lau­fen ist:

Das Han­dy klingt. Peer Stein­brück sitzt am Schreib­tisch und nimmt ab. Sein Bera­ter – er umgibt sich ja nur mit Män­nern – ist dran:

„Du, Peeeer, ich hab da was tol­les für dich arran­gie­ren kön­nen. Inter­view in der FAZ – ist ja jetzt so’n büss­chen Win­terloch, da wer­den sich alle drauf stür­zen. Und du weißt ja, wir haben da die­ses klei­ne Image­pro­blem. Die Leu­te drau­ßen ken­nen dich nicht. Die glau­ben, du bist so ein geld­gei­ler Büro­krat. Da müs­sen wir ran, offen­siv! Pass auf, wir machen das jetzt so: Du gibst dich ganz ent­spannt. Auch mal gön­nen kön­nen, klar? Zeigst dich von dei­ner bes­ten Sei­te, als net­ter Jun­ge von neben­an, der auch mal ’nen flot­ten Spruch auf den Lip­pen hat. Viel­leicht was mit den Wein­prei­sen, du weißt schon … Soweit, ja?“

„Das Inter­view“ weiterlesen

Kleine Nachbetrachtung zur Listenaufstellungs-LDK Böblingen (und zur Zivilklausel-Debatte)

Our candidates V

Nach­dem ich begrün­det habe, war­um ich nicht kan­di­die­re (und gesagt habe, was es sonst so im Vor­feld der Lis­ten­auf­stel­lung noch zu sagen gibt) und einen kur­zen Vor­be­richt zur grü­nen Lan­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz 2012 ver­fasst habe, möch­te ich mich doch noch kurz zu den Ergeb­nis­sen äußern. 

„Klei­ne Nach­be­trach­tung zur Lis­ten­auf­stel­lungs-LDK Böb­lin­gen (und zur Zivil­klau­sel-Debat­te)“ weiterlesen

Das Glatteis der Mitregierung

Wie immer vor wich­ti­gen Wah­len dis­ku­tie­ren wir Grü­ne hef­tig dar­über, ob bestimm­te Koali­tio­nen aus­ge­schlos­sen wer­den dür­fen oder nicht. Ein Argu­ment hier fin­de ich span­nend, weil es ziem­lich rut­schig ist. Das bringt hier Kon­stan­tin von Notz in die Debat­te – aber er ist nicht der einzige:

 @sven_kindler Entscheidende Ausschließeritis-Frage: Ist Große Koalition besser als eine Koa mit grüner Beteiligung? @bueti @djanecek

Klingt erst­mal plau­si­bel. Es gibt eine Men­ge der mög­li­chen Koali­tio­nen K = {k1, k2, …}, und ein opti­ma­les Wahl­er­geb­nis für Grü­ne ist erreicht, wenn die Koali­ti­on aus der Men­ge K rea­li­siert wird, die den größ­ten „Nut­zen“ fgrün(k) auf­weist. fPar­tei(k) könn­te dar­an gemes­sen wer­den, wie vie­le Vor­ha­ben aus dem Wahl­pro­gramm einer Par­tei sich im ver­mu­te­ten Koali­ti­ons­ver­trag wie­der­fin­den. Klar: 

fgrün(kCDU+GRÜNE) > fgrün(kCDU+SPD)

Fies dar­an ist: Aus die­ser Per­spek­ti­ve ist höchst­wahr­schein­lich jede Koali­ti­on mit grü­ner Betei­li­gung bes­ser als irgend­ei­ne mög­li­che Koali­ti­on ohne grü­ne Betei­li­gung – es sei denn, eine gro­ße Koali­ti­on oder rot-rot oder schwarz-gelb wür­de mehr grü­ne Pro­jek­te umset­zen als eine mög­li­che Koali­ti­on mit grü­ner Beteiligung. 

Nun ist es aller­ding so, dass die Pro­po­nen­tIn­nenen der gene­rel­len Koali­ti­ons­of­fen­heit meis­tens kei­ne Lust haben, fgrün(kGRÜNE+SPD+LINKE) zu berück­sich­ti­gen. Obwohl doch auch dort der Nut­zen aus grü­ner Sicht höchst­wahr­schein­lich grö­ßer wäre als für z.B. fgrün(kCDU+FDP). War­um ist das so? 

Viel­leicht allein schon des­we­gen, weil die Nut­zen­funk­ti­on f ziem­lich naiv ist (und weil Poli­tik nur begrenzt ratio­nal funk­tio­niert, aber das ist eine ande­re Debat­te). Eine nicht nai­ve Nut­zen­funk­ti­on müss­te z.B. auch berück­sich­ti­gen, wie groß der Glaub­wür­dig­keits- oder Grund­werts­ver­stoß­fak­tor ggrün(k) ist. Und für eini­ge wäre eine Regie­rungs­be­tei­li­gung der Links­par­tei hier ein gro­ßer nega­ti­ver Effekt.

Anders gesagt: Zieht eine Koali­ti­on, die zunächst ein­mal posi­ti­ve Effek­te bringt, auf der ande­ren Sei­te Kon­se­quen­zen nach sich, die ganz und gar nicht gewollt sind? 

Selbst die kGRÜN+SPD hier in Baden-Würt­tem­berg schnei­det beim Blick auf ggrün(kGRÜN+SPD) nicht nur posi­tiv ab – schließ­lich gehört auch die Innen­po­li­tik des SPD-Innen­mi­nis­ters Gall und die Ver­kehrs­po­li­tik der SPD-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Schmie­del zum Gesamt­ta­bleau. Und dann, da wird mir die Mathe­ma­tik aber zu kom­pli­ziert, gibt es noch Effek­te zwei­ter Ord­nung mit mit­tel- bis lang­fris­ti­gen Fol­gen. Wäh­ler­bin­dung, Stär­kung oder Schwä­chung der Kon­kur­renz, Nut­zen­funk­tio­nen ande­rer Par­tei­en, die die­se wie­der­um in ihre stra­te­gi­schen Über­le­gun­gen einbeziehen, … 

Letzt­lich ist der Nut­zen einer Koali­ti­on damit eher …

ugrün(k) = a*fgrün(k) + b*ggrün(k) + c*zgrün(fgrün, fSPD, fCDU, … ggrün, … zSPD( …), … x, y )

… und danach soll­ten wir die Men­ge K bewer­ten, nicht allei­ne nach Sche­ma f.

War­um blog­ge ich das? Ich bin über­haupt nicht davon über­zeugt, dass der Nut­zen bestimm­ter Koali­tio­nen sich mathe­ma­tisch fas­sen lässt. Inso­fern kei­ne Sor­ge, ganz ernst ist die­ser Blog­bei­trag nicht gemeint. Ernst ist es mir aller­dings damit, dass wir mög­li­che Koali­tio­nen nicht nur danach beur­tei­len soll­ten, ob wir Grü­ne etwas posi­ti­ves ver­än­dern kön­nen, son­dern auch danach, was eine Koali­ti­on lang­fris­tig mit uns macht, und wel­chen Nut­zen ande­re davon haben.

Was fehlt: Klare Konzepte für 2013

17, 15, 12, 14 – so unge­fähr sehen die grü­nen Bun­des­um­fra­ge­wer­te in den letz­ten Wochen aus. Wird es in gut einem Jahr für Rot-Grün rei­chen? Vier‑, Fünf‑, Sechs­par­tei­en­par­la­men­te? Papri­ka­ko­ali­tio­nen gar?

Inter­es­san­ter als die­se weit­rei­chen­den Zah­len­spie­le (und als die Spe­ku­la­tio­nen über mög­li­che Spit­zen­kan­di­da­tIn­nen) fin­de ich die Fra­ge, war­um Deutsch­land 2013 einen Regie­rungs­wech­sel braucht. Und vor allem die Fra­ge, wel­che Rol­le dabei uns Grü­nen zukom­men könnte.

Ganz abs­trakt gespro­chen, wür­de ich dar­auf ant­wor­ten, dass Mer­kels Regie­rung zwei Din­ge erreicht hat: Sie hat die schein­ba­re Alter­na­tiv­lo­sig­keit als poli­ti­sches Stan­dard­mo­dell eta­bliert, und sie hat das Kohl’sche Aus­sit­zen zu einem ultra­prag­ma­ti­schen Poli­tik­stil des Nicht-Ent­schei­dens per­fek­tio­niert. Ver­lo­ren hat dabei der poli­ti­sche Dis­kurs. Über Alter­na­ti­ven wird nicht geredet. 

Wenn wir 2013 einen Poli­tik­wech­sel plau­si­bel, d.h. denk­bar und dann im Herbst wähl­bar, machen wol­len, müs­sen wir die­sen Nebel lich­ten. Dass wir Grü­ne staats­män­nisch kön­nen, ist unin­ter­es­sant – dafür wer­den wir nicht gewählt wer­den. Nein, wir müs­sen – mei­ne ich jeden­falls – klar kon­tu­rier­te Kon­zep­te anbie­ten. Wir müs­sen dar­über reden, und uns dar­über strei­ten, was wir anders machen wer­den, und wie. Wir müs­sen dabei in den Ver­spre­chen ehr­lich blei­ben (das unter­schei­det uns vom sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Popu­lis­mus ver­schie­de­ner ande­rer Parteien). 

Kurz: Wir müs­sen rüber­brin­gen – stim­mig in Per­so­nen und Pro­gramm – dass es ganz kon­kre­ten Bedarf für eine Neu­aus­rich­tung der Bun­des­po­li­tik gibt, und dass wir selbst­be­wusst (und zugleich demü­tig) ganz kon­kre­te Vor­schlä­ge machen kön­nen, auf Grund­la­ge kla­rer Über­zeu­gun­gen. Und wir müs­sen dabei anknüp­fen an exis­tie­ren­den Veränderungswillen.

Bin­sen­weis­heit? Mag sein – aber momen­tan beschleicht mich das Gefühl, dass man­che die­se Bin­sen­weis­hei­ten ver­ges­sen haben könnten.

Noch­mal kon­kre­ter wird all das, wenn danach gefragt wird, wel­che Hoff­nun­gen bestehen, was sich mit grün in der Bun­des­po­li­tik ändern kann. Inter­es­san­ter­wei­se haben vie­le mei­ner Crowd hier an ers­ter Stel­le die Sozi­al­po­li­tik genannt.

Und jetzt seid ihr dran: Wozu braucht es 2013 Grü­ne in der Bundesregierung?