Traummaschinen, träumende Maschinen, Maschinenträume

Aure­lia auri­ta, CC0 Mar­tin Thoma

Ver­mut­lich wird im Rück­blick das Jahr 2022 das Jahr der Künst­li­che-Intel­li­genz-ver­än­dert-unser-Leben-Essays sein. Und es gibt ein paar Stan­dard­for­ma­te für die­se Essays – das eine ist der kom­plett von ChatGPT geschrie­be­ne Text, das ande­re die gro­ße Tech­nik­kri­tik samt Rau­nen dar­über, was mensch­li­che Krea­ti­vi­tät nun wirk­lich aus­macht, das drit­te der Hype-Arti­kel dar­über, dass sich jetzt wirk­lich alles ändert.

Und ja, ChatGPT und die gan­zen ande­ren gene­ra­ti­ven Model­le – die Bil­der­zeu­gung mit Sta­ble Dif­fu­si­on, Mid­jour­ney oder Dall‑E; die Über­set­zung mit DeepL – all das fühlt sich schon sehr nach Zukunft an. Als 2007 das iPho­ne auf den Markt kam, war nicht so ganz klar, dass es den Mobil­ge­rä­te­markt kom­plett umkrem­peln wür­de, das unter einem Smart­phone nicht ein Tas­ten­te­le­fon mit Bild­schirm zu ver­ste­hen ist, son­dern ein uni­ver­sell nutz­ba­rer Com­pu­ter in einem Soft­ware­gar­ten, der zur Not auch ein Tele­fon sein kann. Im nach­hin­ein betrach­tet hat das iPho­ne mas­siv etwas ver­än­dert. Unser Zugang zur Welt ist ein klei­ner schwar­zer Bild­schirm in der Hosen­ta­sche oder Hand­ta­sche, egal ob mit iOS oder Android als Betriebs­sys­tem. Das ist das Gerät, mit dem wir im Inter­net unter­wegs sind, Fahr­kar­ten kau­fen, uns ori­en­tie­ren, die Uhr­zeit able­sen, Fit­ness­wer­te spei­chern und natür­lich stän­dig und über­all Fotos und Vide­os machen.

Für mich fühlt ChatGPT sich ein biss­chen so an, als ob damit ein ähn­li­cher Umbruch ver­bun­den sein könn­te. Viel­leicht liegt die­ses Gefühl auch dar­an, dass ich mit Siri und Ale­xa (und erst recht nicht mit Cort­a­na) nie warm gewor­den bin; was hier noch als Ope­nAI-Feld­ver­such und wis­sen­schaft­li­ches Expe­ri­ment läuft, und noch ziem­lich feh­ler­an­fäl­lig und gera­de stark über­las­tet ist, könn­te unse­ren All­tag doch ganz erheb­lich verändern. 

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Klimapolitiken

Trotz der Extrem­wet­ter­er­eig­nis­se der letz­ten Jah­re, trotz Dür­re und Hit­ze­som­mer – und trotz der täg­lich alar­mie­ren­der wer­den­den Pro­gno­sen – war Kli­ma­po­li­tik bis­her vor allem Kampf dar­um, Kli­ma­schutz als poli­ti­sches issue dis­kur­siv zu ver­an­kern, ent­spre­chen­de Treib­haus­gas­zie­le zu ver­ein­ba­ren und – fol­low the sci­ence - zumin­dest in der Rhe­to­rik weit­ge­hend kon­sen­sua­le Maß­nah­men auf­zu­set­zen. Die poli­ti­sche Trenn­li­nie mag als so etwas beschrie­ben wer­den wie „Brau­chen wir Kli­ma­schutz – ja oder nein?“

Inzwi­schen neh­me ich Anzei­chen dafür war, dass Kli­ma­po­li­tik sich plu­ra­li­siert. Dass die Kli­ma­ka­ta­stro­phe kommt, ergibt sich schlicht durch ihre zuneh­men­de mate­ri­el­le Fak­ti­zi­tät – dass sich etwas ändert, ist nicht nur zu mes­sen, son­dern auch zu sehen, mit Hän­den zu grei­fen. Die Streit­li­nie ver­läuft damit zuneh­mend nicht mehr ent­lang des ob, son­dern ent­lang unter­schied­li­cher Schuld­zu­wei­sun­gen und Lösungs­an­sät­ze. Eini­ge davon mögen vor­ge­scho­ben sein, um wei­ter Nor­ma­li­tät zu simu­lie­ren und bloß nichts ändern zu müs­sen, wenn etwa die FDP allen Effi­zi­enz­be­rech­nun­gen zum Trotz e‑Fuel propagiert.

Trotz­dem lässt sich heu­te schon eine Aus­dif­fe­ren­zie­rung der poli­ti­schen Ant­wor­ten auf den Kli­ma­wan­del beob­ach­ten. Dabei spie­len selbst­ver­ständ­lich tra­dier­te Posi­tio­nie­run­gen eine gro­ße Rol­le: Ver­trau­en in den Markt – oder der Ruf nach Sys­tem­wan­del; ein größt­mög­li­ches Maß indi­vi­du­el­ler Frei­heit für die, die es sich leis­ten kön­nen – oder der Fokus auf Umver­tei­lung und Kli­ma­ge­rech­tig­keit; groß­tech­ni­sche Lösun­gen oder Dezen­tra­li­tät; und ja, auch struk­tu­rel­le Regu­lie­rung oder, auf der ande­ren Sei­te, „Eigen­ver­ant­wor­tung“ und Ver­hal­tens­tipps. All das zeich­net sich heu­te schon ab in den pro­pa­gier­ten Ant­wor­ten auf den bis­her ste­ti­gen Anstieg der Treib­haus­gas­kon­zen­tra­ti­on in der Atmosphäre.

(Aus grü­ner, par­tei­po­li­ti­scher Sicht ist die­se Aus­dif­fe­ren­zie­rung ein Pro­blem: je stär­ker Kli­ma­schutz und mul­ti­ple Lösun­gen für die Kli­ma­kri­se als Vor­schlä­ge unter­schied­li­cher Par­tei­en dis­ku­tiert wer­den, des­to stär­ker ent­glei­tet das „Eigen­tum“ am The­ma. Und des­to begrün­dens­wer­ter wird es, wel­che Lösung gewählt wird – es gibt kei­ne „natur­ge­ge­be­ne“, ein­zig rich­ti­ge Lösung, son­dern die­se fin­det sich erst im poli­ti­schen Streit. Heu­te lässt sich das Ansatz­wei­se schon bei den Fra­gen Atom­kraft und Gen­tech­nik zei­gen. Und mit Blick auf die mate­ri­el­le Fak­ti­zi­tät der Kli­ma­kri­se ist die­se Aus­dif­fe­ren­zie­rung ambi­va­lent: es ist gut, wenn Einig­keit über das Pro­blem besteht; wenn jedoch Lösun­gen poli­tisch aus­ge­han­delt wer­den müs­sen, kos­tet das Zeit und senkt die Wahr­schein­lich­keit, dass irgend­ei­ner die­ser Wege beschrit­ten wird.)

In die Zukunft fort­ge­schrie­ben, hal­te ich es für plau­si­bel, dass die­ser Streit um rich­ti­ge Ant­wor­ten noch deut­lich schär­fer wer­den wird.

Bis­her – und die­se Aus­dif­fe­ren­zie­rung ist nicht neu, son­dern reicht bis in die 1980er und 1990er zurück – han­delt es sich abzüg­lich rein rhe­to­ri­scher Zuge­ständ­nis­se im Kern oft noch um einen Streit inner­halb einer vage zu umrei­ßen­den Kli­ma­be­we­gung, mit einer eher real­po­li­tisch ori­en­tier­ten öko­lo­gi­schen Moder­ni­sie­rung auf der einen Sei­te und sys­tem chan­ge statt cli­ma­te chan­ge, also der Nutz­bar­ma­chung des Kli­mathe­mas für grö­ße­re gesell­schaft­li­che Wan­del­uto­pien, auf der ande­ren Sei­te. Das ist wie gesagt nicht neu, son­dern eine seit Jahr­zehn­ten ein­ge­üb­te, mit Fri­days for Future noch ein­mal neu moti­vier­te Arbeits­tei­lung bei rela­ti­ver Einig­keit über den poli­ti­schen Kern.

Die Debat­ten um Extinc­tion Rebel­li­on vor eini­gen Jah­ren oder jetzt um den Kle­be-Akti­vis­mus der Letz­ten Gene­ra­ti­on ste­hen damit in einer Tra­di­ti­ons­li­nie der Aus­ein­an­der­set­zung um Rea­lis­mus und Radi­ka­li­tät in der öko­lo­gi­schen Bewegung.

(Die, aber das wäre ein ande­res The­ma, ers­tens nie deckungs­gleich, wohl aber über­lap­pend mit par­tei­grü­nen Debat­ten war, und die zwei­tens mög­li­cher­wei­se gera­de im Brenn­glas der Bewer­tung der Coro­na­po­li­tik (und jetzt der frie­dens­be­weg­ten Igno­ranz ange­sichts des rus­si­schen Angriffs­kriegs) aus­ein­an­der läuft: ist das noch eine geteil­te Lebens­welt, wenn Mas­ken­tra­gen und Imp­fen plötz­lich heiß umstrit­ten sind?)

Neu ist heu­te, dass der Streit um die kli­ma­po­li­tisch rich­ti­ge Lösung zuneh­mend kein Streit inner­halb einer lose umris­se­nen Bewe­gung und kein Inner­wis­sen­schafts­dis­kurs ist, son­dern in gesell­schaft­li­cher Brei­te geführt wird, kata­ly­siert in Parteipositionen.

Aus einer Linie der Kli­ma­wan­del­leug­nung und der Die­sel­po­li­tik könn­te so bei der AfD (oder bei ent­spre­chend rechts posi­tio­nier­ten Tei­len von CDU und FDP) eine hart klimana­tio­na­lis­ti­sche und kli­ma­ras­sis­ti­sche Poli­tik ent­ste­hen: wir zuerst, der glo­ba­le Süden darf Kom­pen­sa­ti­on lie­fern, viel­leicht auch „sau­be­ren“ Strom und grü­nen Was­ser­stoff, ansons­ten vor allem: Gren­zen dicht und wegsehen!

Groß­tech­ni­sche Lösun­gen – Atom­kraft, Kern­fu­si­on, Geo-Engi­nee­ring – pas­sen, als „Inno­va­ti­on“ und „Tech­no­lo­gie­of­fen­heit“ gerahmt, gut ins Port­fo­lio der FDP und markt­li­be­ra­ler Strö­mun­gen ande­rer Par­tei­en. Wäh­rend der Fokus der­zeit noch auf Was­se­stoff und E‑Fuels liegt, gehört nicht viel Phan­ta­sie dazu, sich vor­zu­stel­len, dass mit zuneh­mend dra­ma­tisch wer­den­der Erd­er­wär­mung der Ruf nach gro­ßen tech­ni­schen Lösun­gen wie Son­nen­se­geln im Welt­raum zur Ver­schat­tung lau­ter wer­den wird. (Ideo­lo­gisch passt dann so etwas wie Long­ter­mism wun­der­bar dazu.)

Noch etwas wei­ter gedacht: mit etwas Fata­lis­mus lässt sich beim Blick auf die Kur­ve der Treib­haus­gas­kon­zen­tra­ti­on und der kaum dämp­fen­den Wir­kung der bis­her ergrif­fe­nen Maß­nah­men dar­über spe­ku­lie­ren, dass Kli­ma­wan­del­an­pas­sung zum Kern eines poli­ti­schen Pro­gramms wer­den könn­te. Damit mei­ne ich weder die Schwamm­stadt noch Rück­hal­te­be­cken, eher schon den Bau von See­wäl­len und Däm­men – und beim Blick auf 3 oder 4 Grad Erhit­zung könn­ten dar­aus auch aut­ar­ke, von der Umwelt abge­schlos­se­ne Arko­lo­gien oder unter­ir­di­sche Städ­te wer­den. Das klingt noch sehr weit her­ge­holt – es dürf­te dann plau­si­bler wer­den, wenn ers­te Städ­te auf­ge­ge­ben oder ers­te Gebie­te als unbe­wohn­bar erklärt werden.

Zusam­men­ge­fasst: Kli­ma­po­li­tik rückt zuneh­mend und not­wen­di­ger­wei­se ins Zen­trum. Poli­ti­sche Lösun­gen gewin­nen an Dring­lich­keit. Gleich­zei­tig wird offe­ner und stär­ker zum Gegen­stand dis­kur­si­ver und poli­ti­scher Aus­hand­lung, was rich­ti­ge Lösun­gen sind. Zu Ende gedacht kann das zu einem Aus­dif­fe­ren­zie­rungs­mo­ment des Par­tei­en­spek­trums werden.

Leseempfehlung: Ruthanna Emrys – A Half-Built Garden

Gra­de erst habe ich mei­ne SF-Sam­mel­be­spre­chung gepos­tet, die nächs­te dau­ert noch ein biss­chen – aber von die­sem Buch war ich so begeis­tert, dass ich es außer­halb der Rei­he unbe­dingt ans Her­zen legen möchte.

Rut­han­na Emrys sag­te mir bis­her nichts, ihre vor­he­ri­gen Wer­ke schei­nen eher in Rich­tung Hor­ror-Sub­ver­si­on zu gehen, nicht unbe­dingt mein Feld. Mit A Half-Built Gar­den (2022) ist jetzt bei Tor ein lupen­rei­ner Sci­ence-Fic­tion-Roman von ihr erschie­nen, der nicht nur an Le Guin erin­nert – wor­auf bereits der Klap­pen­text auf­merk­sam macht – son­dern für mich auch Anklän­ge an Mar­ge Pier­cys He, She and It (1992) auf­weist, etwa mit Blick auf die jüdi­schen Fei­er­ta­ge und Ritua­le, die im Buch eine Rol­le spie­len, mit Cory Doc­to­rows Wal­ka­way (2017) einen Raum für zeit­ge­nös­si­sche Uto­pien eröff­net, Kim Stan­ley Robin­sons tie­fen Blick für öko­lo­gi­sche Zusam­men­hän­ge auf­nimmt und eine Idee aus Karl Schroe­ders Ste­al­ing Worlds (2019) zu Ende denkt: die enge Ver­net­zung von Men­schen und Natur, die in tech­no­lo­gi­scher Umset­zung von Bru­no Latours Aktor-Net­work-Theo­ry stattfindet.

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Halbjahr

Das Jahr 2022 ist schon wie­der zur Hälf­te vor­bei. Der Som­mer ist mit vol­ler Wucht da, der Gar­ten summt und blüht, die Kin­der wach­sen und gedei­hen. Und poli­tisch: grü­ne Gestal­tungs­mehr­hei­ten auf allen Ebe­nen. Alles pri­ma, also?

Lei­der fühlt sich das gar nicht so an. Die letz­ten Supre­me-Court-Ent­schei­dun­gen in den USA, die den einen oder ande­ren post-apo­ka­lyp­ti­schen SF-Roman plötz­lich ganz rea­lis­tisch erschei­nen las­sen. Der Krieg in der Ukrai­ne. Brenn­glas: Die wirt­schaft­li­chen Fol­gen der fata­len Abhän­gig­keit von Gas und Erd­öl. Der allen Kli­ma­schutz­maß­nah­men der letz­ten zwan­zig, drei­ßig Jah­re zum trotz nahe­zu line­ar wach­sen­de CO2-Aus­stoß, der von Jahr zu Jahr deut­li­che­re Fol­gen hat. Und die­se Pan­de­mie ist auch noch da, mit der Pro­gno­se eines hohen Infek­ti­ons­pla­teaus bis zum Herbst, um dann in die nächs­te „rich­ti­ge“ Wel­le überzugehen.

Vor die­sem Hin­ter­grund wir­ken alle poli­ti­schen Erfol­ge klein – gesell­schafts­po­li­tisch zum Bei­spiel die Strei­chung von § 219a, die Ankün­di­gung, dass in einem Jahr ein Selbst­be­stim­mungs­ge­setz da sein soll, und auch die Schrit­te, die wir bei­spiels­wei­se im Land unter­neh­men, um ein kli­ma­neu­tra­les Baden-Würt­tem­berg hin­zu­krie­gen. Das ist ambi­tio­niert, und kommt doch zu spät, wenn die Sze­na­ri­en des IPCC stimmen. 

In der Sum­me fühlt sich Poli­tik­ma­chen gera­de sehr danach an, im hef­ti­gen Gegen­wind nicht zurück­zu­fal­len – wäh­rend gleich­zei­tig ein Abgrund auf uns alle zukommt. Oder, um ein ande­res Bild zu wäh­len: Löcher zu stop­fen, wäh­rend immer wie­der neu ent­ste­hen, und die Zahl der ver­füg­ba­ren Arme und Hän­de begrenzt ist.

Es geht dar­um, zu tun, was not­wen­dig ist (und was auf­grund all der Zwän­ge, die zu Poli­tik dazu­ge­hö­ren, von Koali­tio­nen über Haus­hal­te bis zum Meh­re­be­nen­sys­tem, dann nur in einer abge­schlif­fe­nen Form mög­lich ist). Raum dafür, zu tun, was sinn­voll wäre, aber eben nicht not­wen­dig ist, bleibt kaum.

Frü­her konn­te ich mich für Uto­pien begeis­tern, auch als Mit­tel, um zu zei­gen, dass es anders sein könn­te. Heu­te habe ich die Befürch­tung, dass jede Uto­pie als Ver­spre­chen auf eine bes­se­re Zukunft nur dazu bei­trägt, da weg­zu­se­hen, wo jetzt – eigent­lich schon vor­ges­tern – etwas getan wer­den muss. Durch­wurs­teln hat uns in die Lage gebracht, in der wir heu­te sind – und trotz­dem wäre es fatal, jetzt auf gro­ße Lösun­gen und radi­ka­le Neu­an­fän­ge zu set­zen und dar­über das, was jetzt getan wer­den kann, nicht zu tun. Es wür­de auch anders gehen, es geht auch anders. Im Detail tau­chen dann beim Weg dahin aber doch immer wie­der neue Löcher auf. Am liebs­ten da, wo es um Infra­struk­tur geht, um das Bahn­netz, um Breit­band­an­bin­dun­gen, um die gro­ßen Strom­tras­sen für ein auf Son­ne, Wind und Spei­cher set­zen­des Netz – und das sind dann alles Löcher, die eigent­lich schon vor Jah­ren hät­ten gestopft wer­den müs­sen, um jetzt han­deln zu kön­nen. Der Gegen­wind frischt wei­ter auf, der Abgrund rückt näher. 

Halb­zeit des Jah­res 2022, und ich bin mit der Lage der Welt über­haupt nicht zufrie­den. Je nach Per­spek­ti­ve mag das ein loka­ler Tief­punkt sein: der Abgrund als Tal, das im Rück­blick, wenn es denn end­lich durch­quert ist, gar nicht mehr so furcht­ein­flö­ßend aus­sieht. Eini­ges deu­tet lei­der dar­auf hin, dass die­ses Bild nicht stimmt, dass wir uns viel­mehr dar­auf ein­stel­len müs­sen, dass die bes­se­ren und küh­le­ren Jah­re auf lan­ge Zeit hin­ter uns lie­gen, und Poli­tik für eine Gene­ra­ti­on nicht Gestal­tung bedeu­tet, son­dern per­ma­nen­ter Kampf dar­um, die rich­ti­gen Löcher zu stop­fen und dabei nicht all zu vie­le neue ent­ste­hen zu las­sen. Und das muss trotz­dem getan werden. 

2020/2021 – ein Fragment

Winter sky VII

Düs­te­rer, leicht lila gefärb­ter Him­mel. Die Wol­ken bewe­gen sich im Zeitraffer. 

Ein Mann holt einen Brief aus sei­nem Brief­kas­ten. Es ist das erwar­te­te Schrei­ben einer luxem­bur­gi­schen Immo­bi­li­en­hol­ding, die den beschau­li­chen Wohn­block von dem deut­schen Groß­kon­zern über­nom­men hat, der vor eini­gen Jah­ren den klei­ne­ren Kon­zern geschluckt hat. Er hat die­sen Brief schon erwar­tet. Aus Daten­schutz­grün­den müs­sen die Mieter:innen eine neue Last­schrift­er­mäch­ti­gung ertei­len – auf Papier. Der Mann kratzt sich am Kinn. Das ist ein Ana­chro­nis­mus. Sowas lässt sich doch inzwi­schen digi­tal regeln, über eine kur­ze Nach­richt. Über­haupt – er hat in den letz­ten Wochen kein Bar­geld mehr ver­wen­det, seit selbst bei den Bäcke­rei­en kon­takt­lo­se Kar­ten­le­ser auf­ge­stellt sind. Aber wenn der Kon­zern es so will, dann wird es wohl das bes­te sein, dem zu folgen.

Der Mann bringt den mit einem alt­mo­di­schen Füll­fe­der­hal­ter aus­ge­füll­ten Brief zum Post­kas­ten. Er zieht sich eine Mas­ke an, bevor er die Woh­nung ver­lässt. In die­ser Wohn­zo­ne ist der Ver­kehr auf 30 km pro Stun­de redu­ziert. In vie­len Stra­ßen fah­ren gar kei­ne Autos mehr. Die, die er doch noch sieht, sind zuneh­mend elek­tri­sche. Elon Musk von Tes­la ist inzwi­schen der reichs­te Mann der Welt. Oder es han­delt sich um die ganz gro­ßen Wagen, die halb­au­to­ma­tisch durch die Städ­te fah­ren. Übli­cher­wei­se haben Autos im Jahr 2020 ein Dis­play an der Kon­so­le, auf dem jeder­zeit der aktu­el­le Stand­ort ange­zeigt wird. Eine Com­pu­ter­stim­me gibt Anwei­sun­gen, um das Ziel zu errei­chen. Aber er geht zu Fuß. Für län­ge­re Stre­cken wür­de er nor­ma­ler­wei­se die Stra­ßen­bahn neh­men, die alle paar Minu­ten ver­kehrt. Es lohnt sich gar nicht mehr, in die Fahr­plan-App zu schau­en, die Anzei­ge an der Hal­te­stel­le ver­rät, wann die nächs­te Bahn zu erwar­ten ist. 

In die­sen Mona­ten ver­sucht der Mann aller­dings, auf die Nut­zung der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel zu ver­zich­ten. Lie­ber bucht er ein Fahr­rad in der App. Die Pan­de­mie. Er ver­folgt jeden Tag besorgt die Fall­zah­len. In Deutsch­land ster­ben täg­lich über tau­send Men­schen an der Pan­de­mie. Inner­halb von einer Woche über­schrei­ten die Todes­zah­len die der Ver­kehrs­to­ten, und inner­halb eines Monats kommt eine Klein­stadt zusam­men. Und das nur in Deutsch­land. Das Virus wütet über­all auf der Welt. Es wird über klei­ne Tröpf­chen in der Atem­luft über­tra­gen. Jeder län­ge­re Kon­takt erhöht das Risi­ko. Noch hat die Warn-App, die Kon­tak­te regis­triert, bei ihm nicht rot geblinkt, aber er ist lie­ber vor­sich­tig. Bis der in Win­des­ei­le dage­gen ent­wi­ckel­te mRNA-Impf­stoff des Kon­zerns – ein Tri­umph der Wis­sen­schaft – alle erreicht, wird es noch etwas dauern.

Immer neue Ver­ord­nun­gen wer­den erlas­sen. Das ist in allen Län­dern so. Egal, ob die Christdemokrat:innen oder die Sozialdemokrat:innen, die Lin­ken oder die Grü­nen die Regierungschef:innen stel­len. Regel­mä­ßig tref­fen die­se sich zu Kri­sen­sit­zun­gen mit der Kanz­le­rin. In der Kri­se zeigt sich wah­rer Charakter. 

Vie­le Geschäf­te sind geschlos­sen, in ande­ren ist der Auf­ent­halt streng regle­men­tiert. Auch die Schu­len wur­den zuge­macht. Teil­wei­se fin­det der Unter­richt digi­tal statt. Manch­mal ver­brin­gen die Kin­der den Tag aber auch in Computerspielewelten. 

Sei­ne Kolleg:innen hat der Mann seit einem hal­ben Jahr nur noch per Video­kon­fe­renz gese­hen. Sei­ne Aus­rüs­tung funk­tio­niert unab­hän­gig von dem Ort, an dem er ist. Kon­fe­ren­zen, Bespre­chun­gen, Doku­men­te – alles ist inzwi­schen digital. 

Da, wo vie­le Men­schen sich auf­hal­ten, tra­gen alle Mas­ke – fast alle, bis auf die Spinner:innen, die lie­ber an ihre Ver­schwö­run­gen glau­ben. Auf den vie­len tau­send Kanä­len des Netz­werks gibt es Bil­der von Spinner:innen, die sin­gend über Plät­ze tan­zen. Sie leben in einer abge­schot­te­ten Welt, und glau­ben, was ihre Sektenführer:innen ihnen erzäh­len. Die Pan­de­mie sei eine Erfin­dung, in Wahr­heit gehe es dar­um, dass Bill Gates an das Blut unschul­di­ger Kin­der wolle. 

Viel­leicht gehört auch der US-Prä­si­dent dazu. Der ist gera­de abge­wählt wor­den. Die Wahl­aus­zäh­lung zog sich über Tage hin, in eini­gen Bun­des­staa­ten dran­gen Bewaff­ne­te in die Wahl­lo­ka­le ein und ver­such­ten, die Wähler:innen ein­zu­schüch­tern. In einer her­un­ter­ge­kom­me­nen Gegend hat der Prä­si­dent sei­nen Anwalt ver­kün­den las­sen, dass er die­se Wahl nicht aner­ken­nen wird, dass sie ihm gestoh­len wur­de. Vor Gericht hat er damit aller­dings kei­nen Erfolg. Den­noch erzählt er sei­nen Anhänger:innen immer wie­der über das Netz­werk, dass er der recht­mä­ßi­ge Wahl­sie­ger sei. 

Am Drei­kö­nigs­tag kommt es schließ­lich zum Putsch­ver­such. Ex-Mili­tärs, Polizist:innen und selbst­er­nann­te Patriot:innen aber auch selt­sa­me Gestal­ten mit bemal­ten Gesich­tern und Scha­ma­nen-Kos­tüm drin­gen gewalt­sam in das nor­ma­ler­wei­se gut geschütz­te Kapi­tol ein, wo gera­de der neue Prä­si­dent bestä­tigt wird. Es dau­ert Stun­den, bis die Herz­kam­mer der ame­ri­ka­ni­schen Demo­kra­tie wie­der unter Kon­trol­le ist. Die Senator:innen und Abge­ord­ne­te wer­den in Sicher­heit gebracht und müs­sen aus­har­ren. Es kommt zu Kämp­fen. Es gibt Tote. Es gibt Bil­der. Das alles lässt sich im Netz­werk mehr oder weni­ger live mit ver­fol­gen. Spä­ter gibt es Gerüch­te, dass Tei­le des Sicher­heits­ap­pa­rats den Putsch woll­ten. Dass die Auf­stän­di­schen eigent­lich das Ziel hat­ten, Gei­seln zu nehmen.

Der Mann macht sich Sor­gen. Noch hat der US-Prä­si­dent Zugriff auf die Nukle­ar­codes. Der evan­ge­li­ka­le Vize-Prä­si­dent hat zwar fak­tisch die Macht über­nom­men, aber wer weiß, was da noch passiert.

Inzwi­schen ist eine Muta­ti­on des Virus auf­ge­taucht. Stär­ker anste­ckend. In eini­gen Län­dern sind die Fall­zah­len schon hoch­ge­gan­gen. Auch in Groß­bri­tan­ni­en, das nicht mehr zur Euro­päi­schen Uni­on gehört und sei­ne Gren­zen dicht gemacht hat.

Um sich davon abzu­len­ken, holt der Mann sich ein Buch auf einen der vie­len Bild­schir­me. Oder er schaut Seri­en und Fil­me an. Die Aus­wahl ist rie­sig. Vie­les ist brand­neu, obwohl die Pan­de­mie auch das Film­ge­schäft hart unter­bro­chen hat. Oder er führt hef­ti­ge Debat­ten im Netz­werk. Mög­lich­kei­ten, sich abzu­len­ken, gibt es jeden­falls genug. 

Der Jah­res­wech­sel fand weit­ge­hend ohne Feu­er­werk statt. Nie­mand woll­te den über­las­te­ten Kli­ni­ken auch noch abge­ris­se­ne Hän­de und Brand­ver­let­zun­gen zumu­ten. Es war ein selt­sa­mer Jah­res­wech­sel. Heim­lich hat­ten vie­le gehofft, das nach dem Jahr 2020 mit sei­nen Wald­brän­den und Tor­na­dos, mit dem Kome­ten und der Kli­ma­kri­se, den Flüch­ten­den und der Pan­de­mie wie­der Ruhe ein­keh­ren wird. Wenn es doch nur zu Ende gin­ge. Doch das hier ist jetzt unse­re Zukunft.