Die Programm-BDK ist vorbei, ich sitze im Zug nach Hause, und noch hält das gute Gefühl an: Wir haben ein realistisches, links akzentuiertes Programm beschlossen. Bei einer Enthaltung, das ist fast noch besser als ein Durchwinken mit 100 Prozent. Wir könnten morgen anfangen, das umzusetzen, und das Land würde ein besseres werden. Deutschland erneuern: ja, genau dafür haben wir jetzt eine richtig gute Blaupause. Und Claudia, Winfried, Katrin, Jürgen und Steffi haben uns ebenso wie die gelungene Schlussinszenierung mitgegeben, dass es sich lohnt, zu kämpfen.
Wir sind ehrlich. Wir wollen mehr Bildung und mehr Gerechtigkeit, und wir wissen, dass dafür Steuern erhöht werden müssen. Wir sagen klipp und klar, wie der grüne Wandel ‑hin zu mehr Ökologie, einer besseren Energie- und Verkehrspolitik, hin zu echter Gleichberechtigung und einem freien Netz für alle – aussehen könnte, ohne dass wir dabei Versprechen machen, die wir nicht halten können. Kurz: Wir sind hochmotiviert!
Der Parteitag ist vorbei. In den Medienmeldungen werden zu viel Streit und zu viel Harmonie beklagt. In den sozialen Netzwerken schwappt einem die Welle zynischen Parteiverdrusses entgegen: Ist doch nur Show. Ihr meint das doch nicht ernst. 90 Prozent ist doch eh nur Verhandlungsmasse. Ihr werdet doch aus Postengeilheit eh schwarz-grün machen. Detailpunkt X ist nicht berücksichtigt, also ist alles Mist. Eine Mehrheit im September? Niemals. In Wirklichkeit wollt ihr doch Y, siehe 1998. Und so weiter.
Klar wird: Viele Menschen sind Parteien gegenüber extrem misstrauisch. Aber: Wie denn bitte sonst? Was, außer aufzuschreiben, was wir wollen (und von Freitag bis Sonntag darüber zu diskutieren und abzustimmen), sollen wir denn sonst machen? Was, außer dafür zu kämpfen, dass aus der unwahrscheinlichen Option Rot-Grün eine reale Option wird, erwartet ihr eigentlich von uns?
Denn wir meinen das mit diesem Wahlprogramm ernst! Wir wollen damit in Koalitionsverhandlungen gehen! Wir sind überzeugt, dass sich etwas ändern muss! Wir sind nicht naiv, wir wissen, dass das nicht einfach wird – aber wir werfen doch die Flinte nicht ins Korn!
Das Restrisiko demokratischer Wahlen besteht darin, dass vor der Auszählung nicht klar ist, was raus kommt. Stimmabgaben können nicht-intendierte Effekte haben – beispielsweise kann eine Stimme für die LINKE dazu führen, dass es für Rot-Grün nicht reicht, und Merkel in einer großen Koalition weitermacht. Aber es kann auch ganz anders kommen. Die Freiheit der Wahl ist es, sich trotz all dieser Risiken für eine Partei zu entscheiden.
Wir haben aufgeschrieben, wohin die Reise mit uns geht. Ihr habt die Wahl, das gut zu finden, und uns zu unterstützen. Oder Ideen einer anderen Partei besser zu finden. Oder warum auch immer gar nicht zur Wahl zu gehen. Politik blöd zu finden. Was auch immer.
Aber bitte, bitte hört auf, so zu tun, als wären Parteien nichts anderes als zynische Machtmaschinen. Ihr könnt dieser Meinung sein (und ein Körnchen Wahrheit liegt vielleicht sogar darin). Aber ich bin da so frei, diesen Kampf gegen die Demokratie in Zukunft zu ignorieren. Denn nichts anderes ist dieses Mantra des Misstrauens doch, egal, ob es besorgt oder hasserfüllt vorgetragen wird.
Diese Wahl ist eine, in der über klar konturierte Alternativen abgestimmt wird. Das ist nicht immer so. Aber diesmal ist klar, was zur Wahl steht. Ein Weiter-so des Wurstelns in der Krise, oder ein Erneuerungsprogramm für dieses Land.
Wir werden das niemals 1:1 umsetzen können. Auch das sollten wir ehrlich sagen. Es gibt Sachzwänge, organisatorische Trägheiten, Koalitionspartner. Aber die Richtung ist klar, die Projekte für den Weg dorthin sind klar, und das Ziel ist auch klar.
Ein Wahlkampf ist hinter all der Show und Inszenierung, hinter Botschaftsmanagement und optimierter Zielgruppenerreichung vor allem eines: Werbung für und gegen politische Alternativen in allen Lebensbereichen. Dabei geht es darum, mit diesen Inhalten überhaupt durchzudringen. Ihr wisst ja noch gar nicht, was wir alles beschlossen haben. Durch den Filter medialer Aufmerksamkeit dringt eben doch nur ein Bruchteil der Programmatik. Hier stimmt der Piraten-Spruch: Informiert euch gefälligst, was zur Wahl steht!
Und gleichzeitig ist ein Wahlkampf eine vertrauensbildende Maßnahme. Das hat was mit den Personen zu tun, die sich zur Wahl stellen. Und es hat was damit zu tun, ob wir es schaffen, zumindest einen Teil des feurigen Ernsts, mit dem wir um unser Programm gerungen haben, auch euch zu vermitteln.
Ja, Politik hat viel mit einem Ponyhof gemeinsam: Dreck und Lehm, eifrig scharrende Hufe auf der einen und durchgehende Gäule auf der anderen Seite. Das ist – zum Teil selbstverschuldet – kein schöner Anblick.
Aber wir haben nichts besseres. Jede Wahl ist immer auch die Vorbereitung einer Enttäuschung. Aber bitte steigt vom Ross des scheinbaren Durchblicks, vom Ross des Schlechtredens der Demokratie.
Tut doch einfach mal für einen Moment so, als wären Parteien ehrliche Maklerinnen für politische Alternativen. Atmet tief durch und entscheidet euch. Nicht für eine innige Liebe, nicht für die Traumwohnung der Ewigkeit, sondern für eine politische Zielrichtung für die nächsten vier Jahre. Das Angebot ist beschränkt, Mängel gibt es auch – aber wenn ihr euch nicht entscheidet, entscheiden eben andere.
Warum blogge ich das? Weil es zuviel Ärger und zu wenig politischen Mut gibt. (Die Überschrift habe ich Jan Schnorrenberg geklaut, auch wenn er da vielleicht was ganz anderes drunter versteht.)
Wunderbarer Text und beileibe kein bloßer Rant, sondern ein Aufruf zur Demokratie. :)
J’accuse: Demokratieverdrossenheit.
Denn es ist unsere und Eure Demokratie und unsere und Eure Wahl, wie Till das sagt.
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toller text von @_tillwe_ dazu, wies es mit dem jetzt beschlossenen wahlprogramm weitergeht http://t.co/DEgDtwtyvF
Absolut Lesenswert über die #BDK13 und Parteitage an sich! RT @_tillwe_: Parteitagshangover – ein Rant: http://t.co/iilUC5ou6O
more rants plz!
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Mal ganz nüchtern taktisch gefragt: Besteht nicht die Gefahr, dass durch das dezidiert linke Wahlprogramm der Eindruck bei den Wählern entsteht, Grüne, SPD und Linke lieferten sich hier einen Überbietungswettbewerb im Steuern erhöhen, mit der Folge dass öko-konservative Wählerschichten eher bei der CDU ihr Kreuz machen anstatt bei den Grünen?
Schließlich ist eine Programmatik von Atomausstieg bis Quote auch bei der CDU vorhanden, wenn vielleicht auch nur auf dem Papier. Ich könnte mir denken dass genau das auch das Merkel’sche Kalkül ist: Durch selektive Übernahme von Positionen wie Atomausstieg wurden den Grünen Alleinstellungsmerkmale weggenommen. Zur Profilierung bleibt den Grünen dann kaum eine Alternative als eine Fokussierung aufs Soziale. So nehmen sich Grüne, SPD und Linke aber die Wähler gegenseitig ab. Und das kommt alles Merkel zugute.