Der fünfte Teil meiner SF-Geschichte. Und noch immer kein totaler Stromausfall. Die vorherigen vier Teil sind hier zu finden. Kommentare und Feedback weiterhin gern gesehen – viel Spaß!
Brandung (5)
Kath hatte die beiden Schmetterlinge auf ihre Schulter gesetzt. Der Weg vom dritten Stock herunter sah am Sonntagmorgen nicht besser aus als der, den sie Freitagabend hinauf gegangen war. Der herabgefallene Putz war jetzt gleichmäßig verschmiert und hatte eine graue Farbe angenommen. Miesmutig stapfte Kath zur Haustür hinaus. Ihre Straße bot ein friedliches Bild. Noch war es nicht zu warm. Ein Reinigungsroboter saugte, sich langsam die Straße entlangtastend, den Dreck der Samstagnacht auf. Bis auf die Schlange vor dem Backautomatenkiosk an der Straßenecke war es menschenleer. Kath überlegte einen Moment, ob sie sich anstellen sollte. Letztlich siegte ihre Unruhe, gesteigert noch durch das ungeduldige Trappeln von Bertis Schmetterling auf ihrer Schulter.
Vorsichtig nahm sie ihn von der Schulter herab und warf ihn in die Luft. Der Schmetterling nahm dies als Signal, endlich seiner Funktion als Wegweiser nachkommen zu können. Er flatterte einige Meter voran – weg von der Brötchenschlange – und schwebte dann auf der Stelle. Sobald Kath ihm nachgekommen war, setzte er sich wieder in Bewegung.
Dummes Spiel, dachte Kath. Wenn sie das richtig einschätzte, dann leitete der Schmetterling sie aus dem Hafenviertel in Richtung des Water Towers. Warum konnte Berti ihr nicht einfach einen Treffpunkt schicken und sie die Bahn nehmen lassen? Wahrscheinlich hatte er Bedenken, abgehört zu werden. Konspirative Aktion für Anfänger. Vielleicht hätte sie …
In diesem Augenblick vibrierte ihr Telefon. Kath zuckte zusammen, blieb dann aber doch stehen und nahm den Anruf entgegen. Bertis Schmetterling registrierte, dass Kath ihm nicht mehr folgte und landete auf einer Straßenlaterne, um Energie zu sparen.
„Beermann hier. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber es geht um Martha. Vielleicht können Sie was damit anfangen. Ich weiß gerade nicht, wo mir mein Kopf steht.“
„Da haben wir was gemeinsam.“
„Martha hat gestern Morgen das europäische Vorschriftenverzeichnis durchsucht!“
„Äh, ja?“
„Sie war in meinem Arbeitszimmer und hat da einen Suchagenten losgeschickt. Mir ist das erst gerade eben aufgefallen. Wissen Sie, ich habe einen Spamfilter auf meinem Firmenkonto laufen, und der hat die Abbuchung dafür als verdächtig gemeldet. Passt nicht in das übliche Buchungsmuster.“
Es dauerte eine Weile, bis Kath verstanden hatte, worauf Beermanns umständliche Erläuterungen hinausliefen. Martha hatte, bevor sie gestern losgefahren war, einen Suchauftrag losgeschickt, der offensichtlich etwas mit ihrem untypischen Aufbruch zu tun hatte.
„Können Sie sehen, was Martha gesucht hat?“
„Einen Moment, ich muss die Auftragsnummer hier eingeben, um das zu sehen – ja, ach du Schande: Corporate Governance Codex, Whistleblower-Regelungen, die 3. Europäische Nanotech-Richtlinie. Können Sie was damit anfangen?“
„Ich befürchte ja.“
Kath fing jetzt wirklich an, sich Sorgen um Martha zu machen. Aber zuerst musste sie Berti treffen. Sie blickte suchend die Straße entlang, bis sie die langsamen Flügelschläge seines Schmetterlings auf der Straßenlaterne am Eck gefunden hatte.
„Herr Beermann? Ich melde mich auf jeden Fall wieder. Sagen Sie mir bescheid, wenn Martha auftaucht, ja?“
„Ja. Sie hat das noch nie gemacht, einfach zu verschwinden. Völlig untypisch! Wenn Sie bis heute Abend nicht wieder da ist, rufe ich bei der Polizei an. Aber ich will da keine Pferde scheu machen. Vielleicht hat sie ja auch einen Plan.“
„Halten Sie die Ohren steif, Herr Beermann! Und danke für ihr Vertrauen!“
Sie beendete die Verbindung. Die Straßenlaterne, auf Bertis Schmetterling saß, bekam von ihr einen heftigen Tritt. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ – ihren Wutausbruch verfolgte allerdings nur der kastenförmige Reinigungsroboter, der sie inzwischen fast eingeholt hatte. Und der zum Glück keines der neueren Modelle mit Überwachungskamera und Lautsprecher war.
Kath kannte sich gut genug, um zu wissen, dass nur Musik sie aus dieser Stimmung holen konnte. Wenn sie schon das Gefühl hatte, sich in einem schlechten Film zu befinden, dann bitte schön zumindest mit einem guten Soundtrack. Zum Elektrogrunge von „Butterfly in the dark“ stampfte sie dem Schmetterling nach.
Zwischen dem alten Hafen und dem Water Tower lag ein verwilderter kleiner Park. Kath meinte sich zu erinnern, dass das früher mal ein Friedhof gewesen war. Bertis Schmetterling führte sie geradewegs hinein. Jetzt wucherten hier Brombeerhecken. Kath war froh, dass sie sich eine alte Jeans angezogen und ihre schwarze Lederjacke übergezogen hatte. Am hinteren Ende des Parks stieß sie auf einen Bauzaun. Von Wegen schien Bertis Schmetterling nicht viel zu halten. Einem schon etwas mitgenommenen Schild konnte sie entnehmen, dass hier 2018 geplant gewesen war, mit Hilfe des Klimaschutzfonds der Europäischen Union ein Pumpwerk zum Sturmflutschutz zu bauen. Ganz offensichtlich waren die Planungen danach eingestellt worden. Vor dem illegalen Eindringen in die Baustelle wurde jedoch weiterhin gewarnt.
Auf dem überwucherten Baustellengelände fand sie einen Wagen, wie ihn Bauarbeiter nutzten. Er war einmal orange gewesen und hatte definitiv schon einmal bessere Zeiten gesehen. Der Schmetterling ließ sich dort nieder. Offensichtlich waren sie am Ziel angekommen. Kath nahm ihre Retro-Kopfhörer ab.
„Da bist du ja endlich!“, rief Berti ihr zu. Er hatte auf einem grau angelaufenen Plastikgartenstuhl hinter dem Wagen gesessen. Nun stopfte er ein zerfleddertes schwarzes Buch in seine Tasche – Kath meinte, zu erkennen, dass es das legendäre stw 666 sein musste – und öffnete die Tür des Bauwagens. Mit einer Handbewegung, die einem Zirkusdirektor gehören könnte, lud Berti sie ein, näher zu treten. „Ich sehe, du bist alleine gekommen. Dafür habe ich einen Kollegen mitgebracht.“
Kath brauchte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel des – so schien es – mit Sperrmüll vollgestopften Bauwagens gewöhnt hatten. Ein ausgerolltes Flexipad war die einzige Lichtquelle. Die eben noch darüber gebeugte Erscheinung richtete sich auf und wirkte nun wie von einem geheimnisvollen inneren Leuchten erfüllt: „Hi!“
„He, dich kenne ich doch!“, rief Kath. Der groß gewachsene Mann schaute verwundert. Dann fiel ihr ein, woher ihr der „Hacker in pink“, wie ihn die Presse getauft hatte, so bekannt vorkam. Der Hacker, der immer nur in Anzug, Hemd und Krawatte auftrat, aber alles in der Farbpalette von altrosa bis magenta, war Spitzenkandidat der Freien Demokraten und Piraten (FDP) bei der letzten Wahl gewesen. Deswegen wurde er prominent in allen Straßen plakatiert und in den Netzwerken und Kreisen hochgejubelt, und deswegen kam Kath das Gesicht so bekannt vor. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte sie damals einen Moment lang ernsthaft überlegt, ob sie die FDP wählen sollte, es dann aber doch gelassen. Kath traute nach wie vor keiner Partei etwas zu. Die FDP hatte sich nach der Wahl dann auch endgültig aufgelöst. Und jetzt saß deren ehemaliger Spitzenkandidat hier vor ihr in einem düsteren Bauwagen.
(to be continued)
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