Weil gerade schon fleißig andere Geschichten in die Welt gesetzt werden, fange ich mit dem an, was geschehen ist. Herr Merz von der CDU hat einen (hart rechtsaußen positionierten) Fünf-Punkte-Plan aufgeschrieben. Er hat angekündigt, diesen im Bundestag als Antrag einbringen zu wollen. SPD und Grüne könnten ja mitstimmen – wenn nicht, würde er auch eine Mehrheit mit der AfD in Kauf nehmen. Aus emotionaler Erregung heraus. Und ganz im Gegensatz zu dem, was er ein paar Wochen zuvor noch als Angebot und „Brandmauer“ zur AfD verkündet hatte.
SPD und Grüne haben sinnvollerweise abgelehnt, hier mitzugehen. Herr Merz hat den Antrag eingebracht – und mit Hilfe der FDP und vor allem der AfD auch eine Mehrheit dafür erhalten. Damit ist das jetzt ein offizieller Appell des Bundestags an die Bundesregierung (die allerdings nicht verpflichtet ist), irgendwie darauf zu reagieren.
Nach der Abstimmung saß die CDU/CSU ziemlich bedröppelt da, die AfD feixte und freute sich. Und tapfere Jungunionist*innen verbreiteten schnell die Erzählung, Grüne und SPD hätten die Mehrheit ja verhindern können, wenn sie denn bloß vollzählig da gewesen wären. Und überhaupt: das alles sei ja bloß so eine Art Notwehr gewesen, weil SPD und Grüne bisher keine CDU-Politik machen wollten.
Handlungen haben Folgen. In diesem Fall: eine scharfe Rüge durch die Altbundeskanzlerin Merkel – mitten im Wahlkampf. Erste Austritte aus der CDU, Friedmann als bekanntester Name. Ankündigungen CDU-mitregierter Bundesländer, im Bundesrat gegen das scheußlich benannte „Zustrombegrenzungsgesetz“ zu stimmen, das Herr Merz als nächstes in den Bundestag einbringen will. Und, am wichtigsten: rund hunderttausend Menschen, die überall in der Republik, teilweise vor CDU-Zentrale, teilweise einfach so, auf die Straße gegangen sind. Um die Brandmauer zu verteidigen.
In Freiburg waren das mindestens 15.000 Menschen, der Platz der Alten Synagoge war voll, und auch Nieselregen hielt hier niemand ab. In wenigen Stunden von den politischen Jugendorganisationen auf die Beine gestellt. In Frankfurt: der Römer zu. In Berlin: 13.000 vor der CDU-Zentrale, in München 10.000 bei der CSU. Und so weiter.
Auf dem Platz war viel Wut zu spüren. Und es scheint bis in die „bürgerliche Mitte“ hinein zu brodeln.
Mit der willigen Inkaufnahme der AfD-Zustimmung – und der so entstandenen Mehrheit für ein Papier, das inhaltlich ebensogut von der AfD hätte stammen können, hat Herr Merz mehreres deutlich gemacht:
1. Sein Wort hat kein Gewicht, was er gesagt hat, gilt nicht, wenn ihn Emotionen und Erregung packen.
2. Er ist bereit, Mehrheiten mit der AfD zusammen zu bilden. Mit einer rechtsextremen Partei. Das ist ein Bruch mit allen Traditionen der Bundesrepublik und ein historischer Einschnitt.
3. Niemand weiß, ob Herr Merz nicht doch eine Koalition mit oder eine Tolerierung durch die AfD anstrebt. (By the way: das selbe gilt für die FDP).
4. Inhaltlich spielen Europarecht, Verfassung, die gute Abstimmung mit den europäischen Nachbarn usw. keine Rolle für diese Union. Statt dessen wird die Populismuskarte gezogen.
5. Entweder wusste Herr Merz genau, was er mit seinem Antrag, seiner Unwilligkeit, sich auf Kompromisse und Gespräche einzulassen, und seiner Bereitschaft, Stimmen der AfD zu bekommen, tat. Dann ist das der Versuch, das Modell Österreich in Deutschland zu etablieren. Oder er hat tatsächlich nicht abgesehen, welche Folgen ein „mir doch egal, wer zustimmt“ hat. Dann fehlen Selbstkontrolle und Weitsicht. In beiden Fällen: so einer eignet sich nicht als Kanzler.
In gewisser Weise ist es gut, dass all das vor der Wahl deutlich geworden ist. Der bisher relativ dröge Wahlkampf gewinnt damit eine neue Dynamik. Richtig beliebt ist bisher keiner der Kanzlerkandidaten. Aber vielleicht ist genau dieser Tabubruch Anlass für unentschiedene Wähler*innen, sich noch einmal genau anzuschauen, wer aus dem Trio Habeck, Scholz, Merz eigentlich zu seinem Wort steht. Wer überzeugen und führen kann. Und was das für die Wahl bedeutet.
Und vielleicht mobilisiert dieser Tabubruch bisher unentschlossene Menschen, doch zur Wahl zu gehen; und wichtiger noch: doch in den drei Wochen bis zur Wahl zu kämpfen und Überzeugungsarbeit zu leisten.
Denn mit dem grellen Licht der gestrigen Entscheidung ist deutlich geworden, dass es darum gehen muss, zu verhindern, dass es im nächsten Bundestag eine rechte Mehrheit gibt. Bisher stand die Brandmauer. Auch da, wo CDU/CSU, FDP und AfD (und BSW) zusammen auf eine Mehrheit kamen, wurde diese nicht genutzt. Diese Sicherheit ist spätestens jetzt weg. Und wer dazu beitragen möchte, dass es keine solche Mehrheit gibt, hat genau drei Möglichkeiten, das zu tun: GRÜNE wählen, SPD wählen, Linke wählen. Jedes nicht zur Wahl gehen, jede Stimme für eine Kleinstpartei ist verschenkt. Und diesmal kommt es wirklich darauf an.
Vielleicht ist das Verhalten von Herrn Merz nicht nur ein Konjunkturprogramm für die AfD (seit seinem Versprechen, deren Werte zu halbieren, steigt diese kontinuierlich, die CDU/CSU sinkt entsprechend in den Umfragen – ja, die Leute wählen das Original), sondern auch ein Konjunkturprogramm für die Linke, Anstoss, diese doch über die Fünf-Prozent-Hürde zu hieven. Das hat seine eigenen Probleme, ist aber das, was aktuell passiert.
Bleibt das Problem der Regierungsbildung. Die – ambitionierte – Hoffnung wäre, dass tatsächlich eine Mehrheit jenseits von Union und AfD zustande kommt und zur Regierungsbildung genutzt werden kann. Aus meiner Sicht mit einem Kanzler Habeck – dazu bräuchte es in den nächsten Wochen aber eine gewaltige Aufholjagd.
Die andere Variante wäre kurz vor der Unregierbarkeit: je nachdem, wie es mit BSW und Linke aussieht, kann es sein, dass die einzige stabile Regierung eine aus Union und SPD oder Union und Grünen wäre. Nach gestern kann ich mir das nur sehr schlecht vorstellen. Am ehesten noch, wenn Herr Merz eben nicht Kanzler wird, sondern eine andere Person gefunden wird. Das wäre aber so oder so im besten Fall eine Verhinderungsregierung, eine Regierung, um die Union einzuhegen und um die in einem solchen Fall immer drohende Mehrheit einer schwarz-blauen Verbindung unwahrscheinlicher zu machen.
Andersherum heißt das: wer eine solche Regierung nicht möchte, muss sich jetzt daran beteiligen, für eine Mehrheit jenseits von Union und AfD zu kämpfen. Das war der Tenor heute bei der Demo in Freiburg, und vielleicht ist es die gesellschaftliche Dynamik, die durch Herrn Merz Tabubruch zustande kommt. Ich würde es mir wünschen.
Denn die Alternative ist trostlos. Die würde nämlich bedeuten, dass eine Mehrheit der Bevölkerung auch in Deutschland eine Regierung mit der AfD gutheißt. Und das wäre 80 Jahre nach der Befreiung der Beginn eines neuen historischen Schreckens.
Genau darum wird es in den nächsten Wochen gehen.