Jakob Augstein sucht eine liberale Ersatzpartei, die die Rolle der FDP, die das nicht mehr ist, übernehmen könnte. Klar finden sich beispielsweise die Piraten sofort angesprochen. Aber eigentlich braucht es eine solche Partei nicht. Schließlich gibt es Bündnis 90/Die Grünen – und, so jedenfalls meine Perspektive – uns sind Bürgerrechte und individuelle Freiheiten sehr viel wert. Mit dem Risiko haben wir manchmal Probleme, und wenn’s darum geht, dass Ökologie Priorität haben muss, lässt sich mit uns Grünen auch nicht spaßen. Aber ansonsten sind wir doch die Partei, zu deren Menschenbild es gehört, dass jede/r selbstbestimmt entscheiden können soll, wie er oder sie leben will, dass sich aus Teilhabe an z.B. Bildung individuelle Zukunftschancen ergeben, dass es Rechte der Einzelnen gibt, die Staat und Wirtschaft gegenüber geschützt werden müssen, und dass viele Entscheidungen beim Staat nicht so wirklich gut aufgehoben sind. Also das ganze linksliberale Programm. Oder sehe ich das falsch?
Nebensache?! Selektionseffekte des Wahlsystems
Das baden-württembergische Wahlsystem macht nicht nur Wahlabende spannend, sondern trägt, da es keine Listen gibt, auch dazu bei, dass übliche (formale wie informelle) Quotierungsinstrumente nicht greifen. Das wirkt sich u.a. auch auf die Geschlechterquote aus – und reduziert auch generell die Chancen für alle, die nicht dem Typus des populistischen Direktmandatärs entsprechen, in den Landtag einzuziehen.
Schauen wir dazu mal die Abgeordneten im neuen Landtag an, getrennt nach den vier Fraktionen.
- Die CDU entsendet 60 Abgeordnete in den Landtag. Darunter sind gerade mal acht Frauen (wenn ich mich jetzt nicht verzählt habe). Das sind 13% dieser Fraktion.
- Ein bisschen besser – aber auch nicht wirklich gut – sieht es bei uns Grünen aus. In der neuen großen Fraktion mit 36 Abgeordneten beträgt der Frauenanteil 31% (d.h. 11 Abgeordnete).
- Bei der SPD sind es 6 weibliche Abgeordnete bei einer Fraktionsstärke von 35 Sitzen, also 17%.
- Und die FDP hat es tatsächlich geschafft, eine rein männliche 7er-Fraktion in den Landtag zu bringen.
Im Landtag insgesamt kommen wir damit auf einen – auch im Vergleich zu anderen Landtagen in Deutschland – vorsintflutlichen Frauenanteil von 18%.
Ich gehe davon aus, dass das bei der Verteilung der Regierungsposten ein bisschen anders aussehen wird. Wenn mit Kretschmann und Schmid schon ein Männerduo an der Spitze steht, wird es in beiden Parteien meiner Meinung nach schwer durchsetzbar sein, beim weiteren Regierungspersonal weniger als eine Quotierung umzusetzen.
Mir geht es in diesem Artikel allerdings gar nicht nur darum, Frauen und Männer zu zählen und Quoten auszurechnen. Ich sehe den geringen Frauenanteil – der ja selbst in der grünen Fraktion deutlich hinter den üblicherweise in grünen Gremien erwarteten 50% liegt – im Landtag als einen sehr deutlichen Hinweis darauf, dass das baden-württembergische Wahlrecht, dessen Grundlage ja Wahlkreiskandidaturen sind, Struktureffekte hat und dazu beiträgt, einen bestimmten Personentyp – der honorige, örtlich verankerte Politiker (m, d.) – zu bevorzugen. Ich habe dazu jetzt keine Daten, aber ich gehe davon aus, dass das auch bei der Altersverteilung, bei Berufen und definitiv beim Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund eine Rolle spielt.
Zum Vergleich vielleicht noch – hier mal nur die Grünen – die Situation bei der Kandidatur. In den landesweit 70 Wahlkreisen sind bei uns 24 Frauen angetreten (34%), also ein etwas höherer Anteil als in der Fraktion. Anders gesagt: die kritische Schwelle scheint gar nicht so sehr die Wahl zu sein, sondern der Schritt davor – das Erringen eines (aussichtsreichen) Wahlkreises.
Die drei Spitzenergebnisse (und Direktmandate) bei den Grünen haben übrigens allesamt Frauen erzielt – Mutherem Aras mit 42,5% in Stuttgart I, Edith Sitzmann mit 39,9% in Freiburg II und Theresia Bauer mit 36,7% in Heidelberg.
Ob die Zusammensetzung des Landtags, die in den letzten Jahren ähnlich war, Auswirkungen auf die dort entstehende Politik hatte oder haben wird, darüber lässt sich streiten. Ich bin nicht der Ansicht, dass Politik sich automatisch ändert, weil sie von Menschen mit weiblichen Geschlechtsteilen gemacht wird. Mir geht es eher darum, dass der Frauenanteil ein Hinweis darauf ist, wie wenig repräsentativ der Landtag für die ganz unterschiedlichen Lebensentwürfe und Alltagssituationen der baden-württembergischen Bevölkerung ist. Und in dieser mangelhaften Abbildung der realen Vielfalt – darin sehe ich auch ein Problem für die dort entstehende Politik.
Warum blogge ich das? Als kleinen Hinweis darauf, dass das Wahlrecht in Baden-Württemberg auch in anderer Weise verzerrend wirkt.
P.S.: Jan weist im Kommentar auf eine Übersicht des Statistischen Landesamts hin, in der für alle Parteien aufgeführt ist, wie viele Bewerberinnen überhaupt angetreten sind (bei uns demnach 37% = 26 Frauen statt der von mir oben genannten 34%/24 Frauen; CDU: 15%, SPD: 20%, FDP: 25% unter den BewerberInnen).
Service: meine gesammelte Wahlartikel zur Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg
Wie wahrscheinlich Abertausende andere bin ich extrem gespannt, ob die Wahl heute Geschichte in Baden-Württemberg schreiben wird. Ich bin grade zur Wahl gegangen und habe natürlich grün gewählt – und kann das auch nur allen anderen raten, die in Baden-Württemberg (oder Hessen oder RLP) wahlberechtigt sind. Jede Stimme zählt – und diesmal ist das mehr als ein blöder Spruch. Letztlich kann’s an wenigen Prozentpunkten hängen, ob Mappus seinen autokratischen Kurs, der selbst in der Basis der CDU umstritten ist, weiterfahren kann, oder ob wir ihn abwählen.
In den letzten Tagen und Wochen habe ich dazu hier und im „Grünzeug am Mittwoch“ einiges gebloggt. Wer dieses oder jenes nochmal nachlesen will, findet hier die wichtigsten Wahlartikel von mir gesammelt:
„Service: meine gesammelte Wahlartikel zur Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg“ weiterlesen
Photo of the week: Anti-Atom-Demo am 21.3. – XII
Wow – bei den bundesweiten Anti-Atom-Demos am gestrigen Samstag waren 250.000 Menschen auf der Straße. Ich konnte nicht dabei sein (München wäre dann doch etwas weit weg gewesen), war aber die letzten beiden Montage auf den Demos hier in Freiburg – da ist auch das Bild oben entstanden. Das Revival der Anti-Atom-Bewegung hat sich ja schon im letzten Herbst angedeutet, als es rund um die Laufzeitverlängerung vielfältige und gut besuchte Aktionen gab. Nach Fukushima ist die Anti-Atom-Bewegung endgültig wieder da. Ich bin extrem gespannt, was das für die Wahl morgen bedeutet. Die Chance auf einen Politikwechsel und darauf, der Energiewende ein großes Stück näher zu kommen, ist jedenfalls greifbar da.
Wie die Wahl in Baden-Württemberg ausgehen kann
Was der best case beim Wahlausgang jetzt am Sonntag für Baden-Württemberg wäre, ist klar. Und dafür brauchen wir Grüne jede Stimme. Trotzdem nochmal kurz die Übersicht, was am Sonntag passieren kann.
(Doppelter Disclaimer: Ich bin aktives Mitglied der Grünen, das heißt, das folgende ist aus einer bestimmten politischen Perspektive geschrieben (und trotzdem meine private Meinungsäußerung und kein Statement meiner Partei) – und es enthält keinerlei inhaltliche Argumente für oder gegen eine bestimmte Wahl (da habe ich mich an anderen Stellen zu geäußert, vor allem im Blog der baden-württembergischen Grünen). Manche nennen das Nachdenken über die ganz konkreten Konsequenzen bestimmter Stimmabgaben „taktisches Wählen“ und rümpfen darüber die Nase – ich finde es notwendig, wenn es einem oder einer wichtig ist, zu wissen, was die Folgen einer bestimmten Stimmabgabe sind.)
„Wie die Wahl in Baden-Württemberg ausgehen kann“ weiterlesen