Zeitgeschichtlich relevantes Memo: gestern hat Mastodon stellvertretend für das Fediverse – also für selbstorganisierte, dezentrale soziale Medien – einen Grimme-Preis spezial erhalten. Finde ich gut, ich fühle mich trotz kleiner Meckeranlässe sehr wohl bei mastodon.social. Und vielleicht hilft es ja, dass die eine oder andere Einrichtung oder sichtbarere Person den Weg dorthin findet.
Kurz: The Mad Twenties
„May you live in interesting times“ – der sprichwörtliche Fluch trifft voll und ganz zu. Nicht nur das: ich habe die vage Hoffnung, dass es im Jahr 2050 Historiker*innen geben wird, die ganze Symposien mit Diskussionen dazu füllen werden, wie es zu den „mad twenties“ kommen konnte, ob diese eigentlich bereits mit der Trump-Wahl 2016 begonnen haben, und ob die Pandemie, die Chatbots oder der unregulierte Gebrauch sozialer Medien hauptursächlich dafür war, dass sich die zornige Verkennung der Realität in jeglicher Hinsicht so ausbreiten konnte.
Warum Hoffnung? Weil dies impliziert, dass es im Jahr 2050, in 25 Jahren, noch Historiker*innen geben wird, ihre Zeit mit im besten Sinne akademischen Debatten zu verbringen. Und, wichtiger noch, weil der Rückblick auf diese verrückte Dekade nur dann möglich ist, wenn der kollektive Absturz in eine Fantasiewelt überwunden wurde.
Im besten Fall wird es in 25 Jahren hochstrittig sein, ob in den „Mad Twenties“ nicht bereits der Keim für eine bessere Weltordnung angelegt war: die geopolitischen Realitäten, die ein für alle mal klar gemacht haben, dass ein Verlassen auf andere nicht funktioniert; das beginnende exponentielle Wachstum von Green Tech und erneuerbarer Energie, noch einmal verstärkt durch die Abschottung der USA; das Platzen der KI-Blase und die ersten zaghaften Versuche, mit Mitteln der Monipolkontrolle gegen semantische Viren vorzugehen.
Im mittleren Fall wird es auch in 25 Jahren noch Aufräumarbeiten geben; die letzten Wehen zerstörter Institutionen und niederliegender Ökonomien. Dann werden Wahrheitskommissionen eingesetzt, die aufarbeiten, wer Widerstand geleistet hat und wer als Rädchen des großen amerikanischen Reichs an den Untaten mitgewirkt hat.
Der schlimmste Fall wäre jedoch, dass es eben auch 2050 keinen Rückblick auf die wahnhaften 2020er geben wird, weil deren Realitätsverlust sich festgesetzt hat und zur dauerhaften Methode geworden ist. Dann würde die Welt in das Genre des (Post-)apokalyptischen gerutscht sein. Keine schöne Vorstellung – und Anlass, trotz aller Verrücktheiten sich jetzt nicht ins Private zurück zu ziehen.
Zeit, die Demokratie zu verteidigen
Manchmal ist es ein Kieselstein, der etwas ins Rollen bringt. Die Recherche von Correctiv ist – und das ist jetzt nicht abwertend gemeint – genau so ein Kieselstein. Dass die AfD sich in den letzten Jahren stark radikalisiert hat, dass sie Deportationen plant und allen Rechte entziehen will, die nicht in ihr Weltbild passen, ist nicht neu. Aber jetzt ist es bekannt. Jetzt ist es in der Welt.
Dieser Kieselstein hat etwas in Bewegung gesetzt. Zwar gibt es – rechts der Mitte – Versuche, in das Muster von „wir stellen die AfD, indem wie sie kopieren“ zu verfallen. Ganz überwiegend aber: erschrecken, ein Ernstnehmen der Bedrohung, die diese Partei für unsere Demokratie, unsere Werte, unsere Freiheit und unseren Wohlstand darstellt. Das ist eine abstrakte Bedrohung, aber es ist auch eine ganz konkrete Gefahr – für alle, die nicht ins Bild der AfD passen, aufgrund von Herkunft, Hauptfarbe oder „falschem“ Gedankengut.
In diesem Moment des Schreckens, des Realisierens, dass es denen wirklich ernst ist, und dass Umfragewerte von 20 bis 30 Prozent vielleicht die letzte Gelegenheit bieten, dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen, liegt auch etwas Positives. Ich bin sicher nicht der einzige, der auf einen, nun ja, „Aufstand der Anständigen“ gewartet hat. Der findet jetzt statt. Bundesweit gibt es Demonstrationen und finden sich Bündnisse für die Verteidigung der Demokratie. In kurzer Zeit sind sehr viele Menschen auf die Straße gegangen, 10.000 in Potsdam, 25.000 in Berlin, 30.000 in Köln. Das sind viel mehr als bei den Traktorenprotesten der Landwirt*innen. Und die Liste der Demos für das nächste Wochenende ist lang (ich werde am Sonntag bei der Demo in Freiburg dabei sein, 15 Uhr, Platz der Alten Synagoge).
Und auch die Medien haben endlich gemerkt, dass das kein Spiel ist. Hoffe ich jedenfalls.
Dieser Moment ist auch der richtige, um zu schauen, wie wehrhaft unsere Demokratie ist. Damit meine ich nicht nur die Debatten um ein Parteiverbotsverfahren und ähnliche rechtliche Instrumente, sondern vor allem das Hinsehen, ob die Regeln, die wir uns selbst in Verfassungen, Gesetzen und Geschäftsordnung gegeben haben, geeignet sind, um Rechtsextreme außen vor zu halt und diesen keinen Hebel zu geben, unser Land zu zerstören.
Zu diesen Fragen, wie wetterfest unserer Demokratie ist, gehört auch das Thema Social Media. Der Digital Services Act der EU und die in der Folge erlassenen nationalen Gesetzgebungen haben auch die Aufgabe, „Sorgfaltspflichten für Anbieter von Vermittlungsdiensten im Hinblick auf die Art und Weise, wie jene gegen rechtswidrige Inhalte, Online-Desinformation oder andere gesellschaftliche Risiken [vorgehen]“, zu schaffen. Das passt m.E. nicht zu Algorithmen bei Youtube und Tiktok, die haufenweise AfD-Propaganda hochspielen. Wie scharf oder stumpf dieses Schwert ist, bleibt abzuwarten – jedenfalls gibt es hier Handlungsbedarf.
Es ist jetzt an uns allen, dieses Momentum aufrecht zu erhalten. Die internationale Lage ist düster. Die Verteidigung der Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie braucht uns. Aber genauso gilt, jetzt nicht in Fatalismus zu verfallen. Noch kann etwas gegen die Machtergreifung getan werden, von der die AfD träumt. Tun wir es!
Kurz: Twitterende, Teil 2 von x
Twitter wird mehr und mehr zu einem ungemütlichen Ort. Mit der Auswahl der chronologischen Timeline, einem losen Blockfinger und etwas Gelassenheit ist Twitter noch halbwegs nutzbar. Ja, ich bin da immer noch – ich versuche, auf Mastodon aktiver zu sein und „nette“ Dinge wie z.B. Blumenfotos eher dort zu posten, aber schnelle, politische, journalistische Debatten finden nach wie vor auf Twitter statt. Leider. Die Zahl „blaubehakter“ Idiot*innen ist allerdings groß, und alles, was in Richtung Empfehlungen geht, sollte tunlichst gemieden werden. Da ist dann schon sehr stark spürbar, dass „free speech“ für Musk vor allem freie Bahn für Nazis bedeutet.
Heute dann ein paar Ankündigungen, die sehr nach endgültigem Ende von Twitter klingen. Zum einen lassen sich verlinkte Tweets ohne Account nicht mehr lesen. Damit ist Twitter kein öffentlicher Ort mehr. Und zum anderen wurde heute ein „Timeline limit“ angekündigt.
Musk schrieb: „To address extreme levels of data scraping & system manipulation, we’ve applied the following temporary limits:
- Verified accounts are limited to reading 6000 posts/day
– Unverified accounts to 600 posts/day
– New unverified accounts to 300/day“
Da steht, genau gelesen, dass diese Beschränkungen temporär sind. Ob das stimmt, sei dahingestellt. Vielleicht soll es wirklich das Scraping von Twitter (und das Einfüttern in AIs) unterbinden. Oder es geht darum, Leuten den Bezahlaccount schmackhaft zu machen (never!). Aber dann wäre es unlogisch, auch da eine Grenze einzuziehen.
Pi mal Daumen mal durchgerechnet: ich folge 2000 Leuten, selbst wenn im Schnitt nur ein bis zwei Prozent davon je Stunde einen Tweet schreiben, würde ich die 600 Tweets (pro Tag) im Timelinescrollen schnell erreichen. Und wenn ein paar Poweruser dabei sind, die z.B. einen längeren Tweet retweeten, geht’s noch schneller. Insofern ist eine Begrenzung auf das Lesen von 600 Posts ein echtes Problem. Oder, anders gesagt: Twitter tut gerade sehr viel, um Mastodon etc. attraktiver zu machen. Dann halt so.
Work in progress: Computergestützte Kommunikation gestern und heute
In einem Anflug von Irritation darüber, wie viele Menschen sich, wenn sie sich aufgrund der Twitterdämmerung nach anderen Orten im Netz umschauen, ohne mit den Wimpern zu zucken, wieder in die selben Abhängigkeiten begeben, ohne offene Schnittstellen, ohne Open-Source-Code, ohne Interoperabilität – ja, ich spreche hier von post.news und Hive und dergleichen mehr -, habe ich gestern Abend mal nach einer Zeitlinie der unterschiedlichen Plattformen und Systeme gesucht. Und weil ich bis auf diese schöne Grafik erst einmal nichts gefunden habe, habe ich dann „schnell mal eben“ selbst eine Zeitlinie zusammengebastelt. Das gab rege Reaktionen (Debatte auf Mastodon hier und auf Twitter hier), und mir sind dabei drei Dinge klar geworden:
1. Soziale Netzwerke im weiteren Sinne sind keine ganz neue Erfindung, sondern begleiten als Mailinglisten, BBS-Systeme, als Usenet oder als Chat-Plattform wie IRC unsere vernetzte Computernutzung schon ziemlich lange.
2. Wenn ich mich näher damit befassen wollen würde, wäre es gut, für Ordnung zu sorgen und zu überlegen, was ich eigentlich meine, wenn ich von sozialen Netzwerken spreche. Was unterscheidet Twitter von Facebook, was Facebook von ICQ, und was ICQ von Google Groups? Und wie weit soll das eigentlich gefasst werden – sind Youtube, Tinder, Werkenntwen, StayFriends und LambdaMOO auch soziale Netzwerke?
3. Für die meisten sozialen Netzwerke (was auch immer darunter zu verstehen ist), sind die Anfangsdaten (erste Nutzung, wann wurde die Firma gegründet, wann kam das Produkt auf den Markt, …) gut dokumentiert, auch die Wikipedia ist hier sehr hilfreich. Viel weniger klar ist das Ende sozialer Netzwerke. Einige Dienste wurden eingestellt (Orkut zum Beispiel, oben grau dargestellt), andere scheinen auch heute noch zu existieren, sind aber aus der öffentlichen Wahrnehmung komplett verschwunden (FIDONet beispielsweise).
Was ich jetzt weiter mit diesem Impuls, zurück zu gucken, anfange, ist mir noch nicht ganz klar. Jedenfalls: es gab ein Leben vor Twitter, und es wird ein Leben nach Twitter geben. Bis dahin sammele ich mal weiter – etwas übersichtlicher als die Grafik oben hier bei Datawrapper. Tipps und Hinweise gerne in den Kommentaren.