Vor ein paar Tagen war ich – was zur Zeit pandemiebedingt leider weiterhin selten vorkommt – in Stuttgart. Und habe festgestellt, dass der algige Eckensee im Regen ganz hübsch aussehen kann. Links im Bild übrigens das von der Oper heruntergewehte Kupferdach, dass jetzt als Klimawandelmahnmal im See liegt.
Halbjahr
Das Jahr 2022 ist schon wieder zur Hälfte vorbei. Der Sommer ist mit voller Wucht da, der Garten summt und blüht, die Kinder wachsen und gedeihen. Und politisch: grüne Gestaltungsmehrheiten auf allen Ebenen. Alles prima, also?
Leider fühlt sich das gar nicht so an. Die letzten Supreme-Court-Entscheidungen in den USA, die den einen oder anderen post-apokalyptischen SF-Roman plötzlich ganz realistisch erscheinen lassen. Der Krieg in der Ukraine. Brennglas: Die wirtschaftlichen Folgen der fatalen Abhängigkeit von Gas und Erdöl. Der allen Klimaschutzmaßnahmen der letzten zwanzig, dreißig Jahre zum trotz nahezu linear wachsende CO2-Ausstoß, der von Jahr zu Jahr deutlichere Folgen hat. Und diese Pandemie ist auch noch da, mit der Prognose eines hohen Infektionsplateaus bis zum Herbst, um dann in die nächste „richtige“ Welle überzugehen.
Vor diesem Hintergrund wirken alle politischen Erfolge klein – gesellschaftspolitisch zum Beispiel die Streichung von § 219a, die Ankündigung, dass in einem Jahr ein Selbstbestimmungsgesetz da sein soll, und auch die Schritte, die wir beispielsweise im Land unternehmen, um ein klimaneutrales Baden-Württemberg hinzukriegen. Das ist ambitioniert, und kommt doch zu spät, wenn die Szenarien des IPCC stimmen.
In der Summe fühlt sich Politikmachen gerade sehr danach an, im heftigen Gegenwind nicht zurückzufallen – während gleichzeitig ein Abgrund auf uns alle zukommt. Oder, um ein anderes Bild zu wählen: Löcher zu stopfen, während immer wieder neu entstehen, und die Zahl der verfügbaren Arme und Hände begrenzt ist.
Es geht darum, zu tun, was notwendig ist (und was aufgrund all der Zwänge, die zu Politik dazugehören, von Koalitionen über Haushalte bis zum Mehrebenensystem, dann nur in einer abgeschliffenen Form möglich ist). Raum dafür, zu tun, was sinnvoll wäre, aber eben nicht notwendig ist, bleibt kaum.
Früher konnte ich mich für Utopien begeistern, auch als Mittel, um zu zeigen, dass es anders sein könnte. Heute habe ich die Befürchtung, dass jede Utopie als Versprechen auf eine bessere Zukunft nur dazu beiträgt, da wegzusehen, wo jetzt – eigentlich schon vorgestern – etwas getan werden muss. Durchwursteln hat uns in die Lage gebracht, in der wir heute sind – und trotzdem wäre es fatal, jetzt auf große Lösungen und radikale Neuanfänge zu setzen und darüber das, was jetzt getan werden kann, nicht zu tun. Es würde auch anders gehen, es geht auch anders. Im Detail tauchen dann beim Weg dahin aber doch immer wieder neue Löcher auf. Am liebsten da, wo es um Infrastruktur geht, um das Bahnnetz, um Breitbandanbindungen, um die großen Stromtrassen für ein auf Sonne, Wind und Speicher setzendes Netz – und das sind dann alles Löcher, die eigentlich schon vor Jahren hätten gestopft werden müssen, um jetzt handeln zu können. Der Gegenwind frischt weiter auf, der Abgrund rückt näher.
Halbzeit des Jahres 2022, und ich bin mit der Lage der Welt überhaupt nicht zufrieden. Je nach Perspektive mag das ein lokaler Tiefpunkt sein: der Abgrund als Tal, das im Rückblick, wenn es denn endlich durchquert ist, gar nicht mehr so furchteinflößend aussieht. Einiges deutet leider darauf hin, dass dieses Bild nicht stimmt, dass wir uns vielmehr darauf einstellen müssen, dass die besseren und kühleren Jahre auf lange Zeit hinter uns liegen, und Politik für eine Generation nicht Gestaltung bedeutet, sondern permanenter Kampf darum, die richtigen Löcher zu stopfen und dabei nicht all zu viele neue entstehen zu lassen. Und das muss trotzdem getan werden.
Zeit des Virus, Update XVI
Mein letztes Update zur Corona-Lage hatte ich im März geschrieben. Und ich hatte irgendwie die Hoffnung, dass das dann vielleicht auch das letzte Update sein könnte, dass Corona tatsächlich irgendwann vorbei ist.
„Überraschenderweise“ ist das nicht so. Im südafrikanischen Sommer liefen dort die Zahlen für die Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 hoch. Das wurde mit irgendwelchen Besonderheiten der dortigen Demografie wegerklärt. Vor einigen Wochen, in diesem sehr heißen Nordhalbkugel-Sommer, ging‘s dann in Portugal steil nach oben. Währenddessen drehte sich unsere politische Diskussion nach dem Auslaufen der fünften (oder sechsten?) Welle vor allem darum, auf den Herbst und den Winter vorbereitet zu sein. Schließlich wissen wir ja, dass Corona im Sommer pausiert.
Seit ein paar Tagen steigen jetzt auch die Inzidenzen in Deutschland wieder massiv an, vermutlich ist die Dunkelziffer noch deutlich höher, weil PCR-Tests kaum zu kriegen sind. Und auch „harte“ Indikatoren wie die Hospitalisierung scheinen wieder nach oben zu gehen.
In den sequenzierten Laborproben steigt der BA.4/BA.5‑Anteil von Woche zu Woche an, genauer gesagt: er verdoppelt sich wöchentlich.
Anders gesagt: die „Sommerwelle“ ist zur großen Überraschung insbesondere der Bundespolitik – und hier insbesondere der FDP – längst da.
Es ist kompliziert
„Aus der Krise hilft nur Grün“ war 2009 Slogan des grünen Bundestagswahlkampfs, wenn ich mich richtig erinnere. Gemeint war da die internationale Finanzkrise, aber selbstverständlich auch schon die Klimakrise.
Aus heutiger Sicht wirkt 2009 dagegen wie friedlichste Vergangenheit. Jetzt haben wir Krisen en masse. Und kämpfen damit, dass die öffentliche und politische Aufmerksamkeit eine begrenzte Ressource ist. Vor einigen Tagen gab es dazu eine treffende Karikatur – ein Mann sitzt vor dem Fernsehen, und besteht darauf, dass erst einmal der Krieg in der Ukraine eine friedliche Lösung finden müsse, und das Virus besiegt werden müsse, bevor überhaupt daran zu denken sei, die Klimakrise – auf die seine Partnerin in mit Blick auf Hitzewellen in Indien etc. hinweist – anzugehen.
Das ist der Normalmodus politischer Krisenbewältigung: ein Stapel, und das neuste Problem kommt oben drauf und wird zuerst gelöst.
Aktuell landet auf diesem Stapel noch das drohende Rückrollen der USA in die 1850er Jahre – mit dem durchgestochenen Entwurf des Supreme Courts steht nicht nur das Recht auf Abtreibung auf der Kippe, sondern auch viele weitere gesellschaftspolitische Errungenschaften. Die Trump-Jahre waren nicht folgenlos, sondern haben dazu geführt, dass aus dem Supreme Court ein zutiefst politisches Organ wurde; die naheliegendste Lösung, ihn jetzt um weitere demokratische Richter*innen zu ergänzen, ist vermutlich nicht mehrheitsfähig – wie so vieles, was der US-Präsident Biden angekündigt hat, und das, obwohl auf dem Papier eine demokratische Mehrheit in beiden Kammern da wäre. Es ist zu befürchten, dass diese Papier-Mehrheit in einem Jahr nicht mehr existiert – und dass Trump (oder ein anderer seines Kalibers) am Ende der Biden-Amtszeit zurückkommt und das Projekt, die USA zu einer christlichen Autokratie zu machen, weiter vorantreibt.
Die Klimakrise alleine ist ein Generationenprojekt und bräuchte jetzt alle politische Aufmerksamkeit. Zweieinhalb Jahre Corona-Pandemie haben hier einiges ins Stocken gebracht; die kleinen Dellen durch Lockdowns, Home-Office und verminderte Mobilität sind längst aufgefressen, der CO2-Ausstoß wieder auf Wachstumspfad. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, dass eine klimaschutzorientierte Energiepolitik auch friedenspolitisch wichtig gewesen wäre – jetzt befinden wir uns in einer Abhängigkeit von Russland, aus der rauszukommen nicht einfach wird. Immerhin geht es hier – bei der Energiewende wie beim schnellen Ende der Abhängigkeit von russischem Gas, Erdöl und Kohle – mehr oder weniger in die gleiche Richtung. Oder, wie es so schön heißt: hier gibt es Synergien.
Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen harten Lockdowns in China zeigen uns gerade, dass Europa nicht nur von russischen Importen abhängig ist, sondern ebenso oder noch viel stärker davon, dass Waren und Vorprodukte aus China geliefert werden. Jetzt stauen sich die Container-Schiffe, die just in time-Produktion gerät ins Stocken.
Und das sind ja – Beck hat es 1986 bereits vorausgesehen – nicht die einzigen Abhängigkeiten. Weizenlieferungen aus der Ukraine und die Hungerbekämpfung der internationalen Programme im globalen Süden hängen eng miteinander zusammen. China investiert auf dem afrikanischen Kontinent. Indien sieht sich vor die Entscheidung gestellt, sich nach Russland oder Richtung Westen zu orientieren. Brasilien exerziert schon mal vor, wie die zweite Trump-Periode in den USA aussehen könnte, und derweilen brennt der Amazonas.
Und ja – die Zerstörung von Biotopen, die Klimakatastrophe – das steht dann wieder in Wechselwirkung mit Rückzugsräumen für Tiere, und erhöht das Risiko weiterer Pandemien, die von wilden Tieren auf uns überspringen könnten.
Puh – gar nicht so einfach, 2022 halbwegs zuversichtlich zu bleiben. Erst recht nicht, wenn das, was gemacht werden kann, nicht gemacht wird – siehe Tempolimit – oder wenn deutlich wird, dass Politik und Bürokratie auch in existenziellen Fragen einen Hang zur systemischen Trägheit entfalten. Und erst recht nicht, wenn der politische Diskurs dann business as usual macht und sich mit Eitelkeiten, Beleidigtsein oder künstlich hochgezogenen Polarisierungen aufhält. So wird das nichts.
Kurz: By design or by disaster
In der Umwelt- und Klimabewegung gibt es ja diese Debatte darum, dass die notwendige Veränderung, um zu einer klimafreundlichen Lebensweise zu kommen, entweder „by design“ – also bewusst gesteuert und politisch gestaltet – oder „by disaster“ – also durch die Folgen der Katastrophe und dann als ungeplanter, chaotischer Prozess kommen werden. Das betrifft beispielsweise den Ausstieg aus dem Verbrennermotor und aus der Nutzung fossiler Energien. Die letzten Wochen haben einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie die Desaster-Variante aussehen kann.
Ich musste jetzt aber nicht nur mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine und dessen Folgen an diesen Ausspruch denken. Auch die Corona-Politik der letzten Tage scheint mir ein Umschwenken von planmäßigem Handeln hin zur Steuerung durch die Katastrophe selbst zu sein. Das Virus bastelt sich seinen Lockdown und seine Schulschließungen einfach selbst, weil halt so viele Leute krank sind, dass der Betrieb zusammenbricht. Und ich befürchte, dass das mit dem Auslaufen der Maskenpflicht – danke, FDP – noch an Tempo zunehmen wird.
Ob Klima oder Corona: der gesellschaftsverträglichere Weg wäre eigentlich „by design“. Wenn ich etwas Restoptimismus zusammenkratze, dann bleibt, die Hoffnung, dass wir diesen Weg einschlagen, bevor es zu spät ist. Besser wär‘s.


